Gert Pinkernell

Prof. em. an der Uni Wuppertal

Namen, Titel und Daten der französischen Literatur

Ein chronologisches Repertorium wichtiger Autoren und Werke 

Teil I: 842 bis ca. 1800

Gewünschte Autoren oder Werke (möglichst mit originalem Titel) bitte über die Suchfunktion im Menü „Bearbeiten“ ansteuern!

Vorbemerkung

Die erste Version des Repertoriums entstand um 1990 als Begleitskript zu einer Überblicksvorlesung. Es war eine chronologische Liste von Namen, Titeln und Daten und erfasste, wie die Vorlesung selbst, nur solche Autoren und Werke, die für die Entwicklung der französischen Literatur als bedeutsam gelten und potenziell Gegenstand des Literaturunterrichts französischer Gymnasiasten bzw. deutscher Französischstudenten sind.

Im Lauf der Jahre hat sich aus der bloßen Liste eine Sammlung von Artikeln entwickelt. 1998 habe ich sie ins Internet gestellt und nach und nach um Autoren der zweiten Reihe vermehrt. Vor allem bin ich ständig dabei, sie zu erweitern, zu verbessern und zu korrigieren. Fast monatlich lade ich eine partiell aktualisierte Version hoch, weshalb ich bitte, jeweils diese aufzurufen, sie nicht abzuspeichern und höchstens auszugsweise zu drucken.

2004/05 habe ich die meisten Artikel ins Wikipedia übertragen, allerdings werden sie dort nicht nur von mir selber verändert, sondern, gemäß dem Wiki-System, auch von Dritten. Berechtigte und nützliche Korrekturen baue ich, wenn ich sie bemerke, in mein Repertorium ein; langatmige Erweiterungen und Anhängsel übernehme ich nicht. Zum einen müssten sie meistens erst von Un- und Halbrichtigkeiten befreit werden, zum anderen soll mein Repertorium ein Nachschlagewerk bleiben und kein Ersatz für die Lektüre weiterführender Literatur werden.

Grundlage meiner Artikel sind jeweils mehrere, ganz überwiegend französischsprachige Quellen, z.B. die meistens vorzüglichen Einführungen zu Pléiade-Klassikerbänden und zu Taschenbuchausgaben renommierter Reihen. Vor allem aber halte ich mich an die Nachschlagewerke Dictionnaire des littératures de langue française und Dictionnaire des œuvres littéraires de langue française von Jean-Pierre de Beaumarchais, Daniel Couty und Alain Rey (jeweils 4 Bde., Paris: Bordas, 1992 bzw. 1994). Auch den Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur von Erich Köhler (8 Bde., Stuttgart 1983 ff.) verdanke ich viel. Daneben nutze ich natürlich auch das französisch-, englisch- und ggf. das spanisch- und das italienischsprachige Wiki. Auf die Angabe weiterführender Literatur verzichte ich, weil man sie leicht über das Wiki oder den Online-Katalog der Bonner Uni-Bibliothek erschließen kann, die die Französistik als Sondersammelgebiet pflegt. Immerhin mochte ich mich nicht enthalten, eigene Studien anzuführen oder sogar an Artikel anzuhängen. Auch gebe ich, wenn mir Werke aus meiner Lehre und Forschung besonders vertraut sind, des öfteren persönliche Deutungshinweise (die ich meistens nicht ins Wiki übertrage).

Ein literarisches Werk ist für die Leute vom Fach vor allem ein Element innerhalb eines Beziehungsgeflechts von Werken vor, neben und nach ihm, d.h. Werken, die seinem Autor bekannt waren und ihm als Vor- oder Gegenbild dienten, und Werken, auf die es seinerseits gewirkt hat, weil deren Autoren es lasen. Für Nichtfachleute, was ja auch Studenten noch sind, ist diese „intertextuelle“ Sicht mangels breiteren literarhistorischen Wissens nur theoretisch nachvollziehbar. Für sie ist ein Werk vor allem ein Einzelphänomen, nämlich die punktuelle Reaktion des Autors auf eine bestimmte, oft problematische Situation in seinem Leben und seinem konkreten historischen Umfeld. Entsprechend finden sie Zugang zum Werk am ehesten über die Biografie des Autors, die meistens ja auch historisches und literarhistorisches Wissen vermittelt. Eben diese laiengemäße biografistische Sicht soll das Markenzeichen meines Repertoriums sein, zumindest ab dem späten Mittelalter, wo die biografischen Informationen reichlicher sind. Die einzelnen Artikel könnten also Autor XY: Leben und Schaffen überschrieben sein, weil sie bemüht sind, Biografie und Werke im Verbund zu sehen. Dass mein Biographismus nicht dem derzeitigen literaturwissenschaftlichen Mainstream entspricht, soll mich nicht stören. Den Titel eines „Neopositivisten“, den mir ein amerikanischer Kollege in einem anderen Kontext scherzhaft zuerkannt hat, trage ich gern.

P.S. 1: Überflüssig zu sagen, dass mit „Autor“ auch Autorinnen gemeint sind. Ich habe es mit „AutorIn“ versucht, fand dies aber wegen der vielen dann nötigen „der/die“, „sein/ihr“ usw. zu schwerfällig.

P.S.: 2: Da ich annehme, dass die meisten Benutzer meines Repertoriums zumindest rudimentäre Französisch- und Frankreichkenntnisse haben, nenne ich Institutionen und historische Figuren mit ihren französischen Namen und führe ich Werktitel im Original an. Wenn es hierzu gängige deutsche Versionen gibt, füge ich sie häufig in Schrägdruck hinzu, z.B. La Chanson de Roland / Rolandslied; eigene, möglichst wortgetreue Übersetzungen von Titeln setze ich in Klammern, z.B. Le Livre du trésor (= das Buch vom Schatz).

P.S. 3: Für Anregungen und Hinweise bin ich dankbar. Anfragen per Mail (pinkerne@uni-wuppertal.de) beantworte ich im Rahmen meiner Möglichkeiten gern und in der Regel rasch.

Zur Vorgeschichte der französischen Literatur

Ehe wir uns den ältesten Namen, Titeln und Daten der französischen Literatur zuwenden, gehen wir kurz zurück zu dem, was davor war. Und da wiederum springen wir zurück zum Ende der Antike, d. h. zum Untergang des westlichen, lateinisch sprechenden Teilstücks des Römischen Reiches. Denn das östliche, griechisch sprechende Teilreich mit der Hauptstadt Byzanz oder Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) hat sich ja noch viele Jahrhunderte relativ stabil gehalten und ist endgültig erst 1453 unter dem Ansturm der Türken gefallen.

Doch warum eigentlich ist das weströmische Reich mit dem Zentrum Rom „untergegangen“, wie man so sagt? Hierzu sind im Laufe der Jahrhunderte viele Hypothesen aufgestellt worden. Früher wurden meist mentale oder moralische Ursachen vermutet. So meinte man, die alten Römertugenden wie Bürgersinn, Opferbereitschaft, Disziplin, Mäßigkeit usw. seien verlorengegangen, die Römer seien dekadent geworden, verweichlicht und kraftlos. Heute sucht man eher nach materiellen Faktoren, und da kommt natürlich schnell eine Vermutung zur anderen. Darunter sind zum Teil sehr skurrile, z. B. die Vermutung, die spätrömische Herrschaftselite habe wegen der schönen bleiernen Wasserleitungen in ihren Villen und Palästen unter chronischer Bleivergiftung gelitten und hätte deshalb keine Energie mehr zum Regieren oder gar zum Erobern gehabt.

Aber natürlich gibt es auch plausiblere Vermutungen über die Ursachen. Die wichtigste darunter ist die, dass irgendwann das gesamtrömische Reich als Organisationsstruktur an seine Kommunikationsgrenzen gestoßen ist, nachdem im Westen mit dem Atlantik, im Süden mit der menschenleeren Sahara und im Norden mit den fast menschenleeren mitteleuropäischen Wald- und Sumpfgebieten die geographischen Grenzen einer lohnenden Ausdehnung ohnehin schon lange erreicht worden waren. D. h. der für weitere Eroberungen einzig interessante mittlere Orient, also grosso modo der jetzige Irak, Iran und Pakistan rückte für die Hauptstadt Rom in so weite Fernen, dass die Kommunikation dahin fast unmöglich wurde. Und Gebiete, von denen man kaum mehr Nachrichten erhält, sind zwar vielleicht noch zu erobern, aber schwer zu beherrschen und zu verwalten. Um 330 reagierte Kaiser Konstantin auf diese Situation, indem er die Befehlszentrale des Reiches weiter nach Osten verlegte, eben nach Konstantinopel. Dies war für Rom der Anfang vom Ende. Zwar wurde Rom bei der anschließenden Zweiteilung des Gesamtreichs zumindest wieder Teilhauptstadt, aber eben nur für das in mehr oder weniger feste Grenzen eingezwängte Westreich. Das jedoch war insofern tödlich, als jahrhundertelang die Wirtschaft in der und um die Millionenstadt Rom auf Sklavenarbeit beruht hatte, d. h. auf ständig neu in Eroberungskriegen gefangenen und nach Rom geschafften Arbeitskräften. Als dieser Sklavennachschub ausblieb, weil das Westreich ja kaum mehr Eroberungskriege führte, ging es mit der Wirtschaftskraft der Stadt und Mittelitaliens bergab. Der Mangel an billigen Arbeitskräften und die nachlassende Wirtschaftskraft waren wiederum Ursache dafür, dass die Entwässerungskanäle in der Tiber-Ebene und in anderen italienischen Küstenebenen nicht mehr instandgehalten werden konnten und Malaria sich ausbreitete (die möglicherweise samt der Anopheles-Mücke von Afrika her eingeschleppt worden war). Die Malaria und vielleicht auch noch andere Seuchen entvölkerten Rom, und dies desorganisierte die Wirtschaft weiter. So entstand ein circulus vitiosus, der Rom in drei, vier Generationen von einer Millionenstadt zur Mittelstadt absinken ließ, die in Konkurrenz zu anderen Mittelstädten und bisherigen Unterzentren geriet und kein Hauptstadtgewicht mehr besaß.

Ohne funktionierendes Oberzentrum aber zerbröckelt ein so großer Staat, wie das Weströmische Reich es trotz der Teilung immer noch war, sehr leicht. Die Regionen verselbständigen sich, und wenn dann noch Einwirkungen von außen dazukommen, ist es mit der staatlichen Einheit vorbei. Diese Einwirkungen bestanden zwar seit langem in Form der germanischen Völkerwanderungen, denn seit Jahrhunderten überschritten kleinere oder größere Völkerscharen die nördlichen Grenzen. Doch wurden sie entweder besiegt und dabei teils erschlagen, teils versklavt, oder aber sie wurden im Grenzgebiet innerhalb der Reichsgrenzen angesiedelt und integriert. Im vierten und fünften Jahrhundert, d. h. mit zunehmender Desorganisation der römischen Zentralgewalt, funktionierte dieses System immer schlechter. Die Wacht an den Grenzen brach nach und nach zusammen, und so konnten die herandrängenden germanischen Wandervölker immer leichter auf dem Boden des römischen Reiches kleinere und größere unabhängige Herrschaftsgebiete etablieren, z. B. die Reiche der Westgoten, der Burgunder und vor allem der Franken. Hierbei bildeten sie in der Regel aber nur eine Oberschicht von Kriegern und Grundherren und übernahmen von der unterworfenen Bevölkerung meist nicht nur deren Sprache und die christliche Religion, sondern auch Strukturen der vorhandenen Verwaltung bzw. der noch vorhandenen Reste davon. D. h. sie übernahmen vor allem die Verwaltung der katholischen Kirche, denn diese besaß die letzte auf Unterzentren, nämlich die Provinzhauptstädte als Bischofssitze, bezogene funktionierende Organisation (wobei die Beziehungen dieser Unterzentren zum alten Oberzentrum Rom eher nur noch ideologisch waren und kaum mehr administrativ).

Mit der Zersplitterung des römischen Reiches in einzelne Regionen verfielen nach und nach auch die überregionalen Straßen, und mit ihnen der überregionale Wirtschaftsaustausch. Damit aber verfielen alle in eine überregionale Arbeitsteilung eingebundenen Wirtschaftszweige wie Handel, Verkehr und industrielles Gewerbe. Hierdurch verarmten die Städte als Wirtschaftszentren und leerten sich. Ein drastisches Beispiel ist hier Arles in Südfrankreich. In seinen besten antiken Zeiten war es eine große Stadt mit einem großen Amphitheater. In seinen schlechtesten frühmittelalterlichen Zeiten war es eine Ministadt im Amphitheater, mit nichts drumherum außer zugewucherten Ruinen, darunter den Resten eines riesigen großstädtischen Friedhofs, dessen Größe man sich nicht mehr erklären konnte und den man für eine Geisterstadt hielt.

Die Gesellschaft des ehemaligen römischen Reiches bzw. der ihm nachfolgenden Herrschaftsgebiete wandelte sich also von einer städtisch geprägten, arbeitsteiligen Gesellschaft zu einer ländlich-dörflichen Gesellschaft mit „Subsistenzwirtschaft“, d. h. einer fast nur für den Eigenbedarf der Familien produzierenden Wirtschaft praktisch ohne Arbeitsteilung. Solche ländlichen Gesellschaften aber sind meist weder wirtschaftlich in der Lage, noch vom Selbstverständnis ihrer Mitglieder her bereit, Individuen freizusetzen für so spezialisierte und dazu nichtproduktive Tätigkeiten, wie es kulturelles Schaffen ist. Mit anderen Worten, die Entstehung von Kunstwerken und somit auch von literarischen Werken ging mit dem Niedergang der Städte stark zurück, weil künstlerisch begabte Individuen kaum noch die Möglichkeit hatten, ihr Talent auszubilden und zu betätigen.

Ein weiteres Moment, das speziell für die Literatur zunehmend zur Schwierigkeit wurde, war die wachsende sprachliche Zersplitterung. Spätestens um 300 n. Chr. war das Lateinische im Westteil des römischen Reiches für den größten Teil der Einwohner von einer Verkehrssprache zur Muttersprache geworden. Dieses Latein war natürlich nicht das ausgefeilte und komplizierte Latein, wie man es z.B. von Caesar oder Cicero kennt, sondern stand dazu etwa im selben Verhältnis wie unsere heutige deutsche Sprechsprache zur Literatursprache von Schiller und Goethe. Auch war dieses Latein nicht überall einheitlich, sondern regional gefärbt, ähnlich wie heute das Englische in Amerika, Australien, Indien, Jamaica oder Kanada nicht ganz dasselbe ist. Aber immerhin konnte sich jemand aus dem heutigen Portugal mit jemand aus dem heutigen Rumänien, Tunesien oder Süd-England verständigen; und die Schriftsprache war mehr oder weniger dieselbe für alle Alphabetisierten. Mit dem Nachlassen des überregionalen Austauschs aber entwickelten sich die Regionen auch sprachlich auseinander: die verschiedenen romanischen Sprachen und ihre Dialekte begannen sich herauszubilden. Das alte Lateinische existierte zwar als Schriftsprache und überregionale Verkehrssprache weiter, wurde aber schließlich nur noch von wenigen Gebildeten verwendet, den Klerikern, für die es zugleich zu einer Fremdsprache wurde, die man von Grund auf lernen musste. Diese beiden Phänomene: einerseits die sprachliche Zersplitterung und das daraus resultierende Bewusstsein potentieller Autoren, dass das, was man in der eigenen Sprache verfasste, schon in der Nachbarregion kaum mehr verstanden wurde, und andererseits die psychologische Barriere von Autoren und Publikum gegenüber der Fremdsprache Latein waren sicher kein Stimulans für literarisches Schaffen, selbst wenn alle anderen Vorbedingungen gegeben gewesen wären.

Immerhin ging mit dem Niedergang der Städte und ihrer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht alle höhere Kultur verloren. Ein gewisses beständiges Element in der allgemeinen Auflösung bildete die katholische Kirche. Da, wie erwähnt, ihre Verwaltungsstrukturen zumindestens zum Teil erhalten blieben, war sie die einzige Institution, die in der nunmehr ländlich strukturierten Gesellschaft ausreichend Mehrwert abschöpfen konnte, um zumindest für den Eigenbedarf ein Minimum an kultureller Aktivität aufrechtzuerhalten, vor allem im Kunsthandwerk oder in der Architektur, aber auch in der geistlichen Musik und Literatur. Die Kirche war auch, dank ihrer bestehen gebliebenen ideologischen Ausrichtung auf den Papst in Rom als gemeinsames geistliches Oberhaupt, die einzige Institution, die das Weiterbestehen einer gewissen kulturellen und geistigen Einheit der ehemaligen weströmischen Reichsgebiete gewährleisten konnte und die vor allem Interesse hatte an der Pflege der lateinischen Sprache als überregionalen Kommunikationsmittels.

Beides aber, die Konzentration der noch möglichen kulturellen Aktivitäten im kirchlichen Bereich und das hier gegebene Vorherrschen der lateinischen Sprache, führte dazu, dass intellektuell anspruchsvollere Literatur, wenn sie entstand, erstens im Rahmen der Kirche entstand und für eine Rezeption innerhalb der Kirche bestimmt war und dass sie zweitens als Medium meistens nicht die Volkssprachen benutzte, sondern das Lateinische. Hierdurch aber ist die Literaturgeschichte des frühen Mittelalters im katholisch-christlichen Europa bis gegen 1100 fast ganz und gar eine Geschichte lateinisch verfasster und religiös inspirierter Texte, neben die erst nach und nach auch anspruchsvollere volkssprachliche Texte traten, und erst noch später Texte, die weltliche Themen behandelten.

Eine weitere, sozusagen technische Schwierigkeit, mit der alle Versuche zu kämpfen hatten, nichtlateinische Texte zu konzipieren und vor allem, sie dann schriftlich zu fixieren, war das Nichtvorhandensein volkssprachlicher Schriftsprachen, und zwar im primitivsten Sinne des Wortes. Alle Leute, die überhaupt lesen und schreiben lernten, lernten dies an lateinischen Wörtern und Sätzen. Damit aber waren sie keineswegs auch fähig, die Sprechsprache zu verschriften, die sie benutzten und um sich herum hörten. Mit anderen Worten: die wenigen in den Volkssprachen konzipierten literarischen Texte wurden in der Regel von den Autoren im Gedächtnis ausgearbeitet und mündlich vorgetragen. Wenn die Texte gefielen, wurden sie von diesem oder jenem Zuhörer auswendig gelernt und weitergegeben. Mündlich tradierte Texte aber gehen irgendwann verloren. Und so kennen wir heute bestenfalls einen winzigen Bruchteil dessen, was im frühen Mittelalter vielleicht an volkssprachlicher Literatur existiert hat.

Das, was wir kennen, kennen wir entweder, weil es zufällig doch, und meist mehr schlecht als recht, aufzuschreiben versucht wurde und weil es ebenso zufällig und meist bruchstückhaft mit dem Blatt oder auch nur Fetzen Pergament oder Papier, auf dem es stand, erhalten geblieben ist. Oder wir kennen es indirekt, weil hin und wieder ein volkssprachlicher Text in eine lateinische Version umgearbeitet und aufgezeichnet wurde. Oder wir kennen es noch indirekter, weil im kirchlichen Schrifttum Reflexe davon zu finden sind, wie z. B. das berühmte Verbot an (süddeutsche) Nonnen, "winileodes vel scribere, vel mittere", also Liebeslieder zu verfassen oder zu verschicken.

Aber welcher Art war jene volkssprachliche Literatur? Grundsätzlich wird man vermuten müssen, dass die Texte eher kurz als lang waren, wie es überall auf dieser Welt in Gesellschaften von Analphabeten der Fall ist. Denn selbst ein gut trainiertes Gedächtnis setzt der Länge von mündlich vorzutragenden Texten Grenzen. D.h. ein Großteil jener Texte werden Lieder gewesen sein: Tanzlieder, Liebeslieder, Kinderlieder, Trinklieder und andere Geselligkeitslieder, dazu gereimte Sprüche, wie Zaubersprüche, Lebensweisheiten oder Ähnliches, grosso modo also das, was im weitesten Sinne unter Lyrik zu verstehen ist. Ein anderes Genus waren Helden- und Familiensagen oder Heiligenlegenden, die meistens ebenfalls in irgendeiner Weise in Versform verfasst waren, damit man sie besser auswendig lernen und aus dem Gedächtnis vortragen konnte.

Im Bereich der Lieder aller Art und der Heldensagen gab es sicher auch die ersten Profis, die sog. Spielleute, d.h. Leute, die Texte im Hinblick auf den Vortrag vor einem größeren Zuhörerkreis verfassten oder sich aneigneten und die ganz oder teilweise von Geschenken ihres Publikums lebten. Dabei mussten sie dann allerdings von Dorf zu Dorf und von Burg zu Burg wandern, da jahrhundertelang an keinem Ort ein ausreichend großes Publikum vorhanden war, das einen solchen Spezialisten auf Dauer hätte ernähren können und wollen.

Aber damit sind wir etwa in dem Zeitraum, aus dem die ältesten erhaltenen Texte der französischen Literatur stammen, die nun vorzustellen sind.

Mittelalter

Les Serments de Strasbourg / Straßburger Eide (842)

Sie sind zwar keine Literatur, doch beginnen Literaturgeschichten häufig mit ihnen, weil der franz. Wortlaut dieser auf Altfranzösisch und Althochdeutsch abgelegten Eide der älteste erhaltene Text in franz. Sprache ist. (Althochdeutsche Texte sind noch einige ältere erhalten). Die Eide sind überliefert als Zitate in der lateinischen Chronik Historiarum libri IV des Mönches Nithard (9. Jh.), die ihrerseits in einer Abschrift aus dem 10. Jh. vorliegt.

Sie wurden geschworen von dem ostfränkischen König Ludwig dem Deutschen und dem westfränkischen König Karl dem Kahlen sowie ihren Unterführern, und zwar beim Abschluss eines Bündnisses dieser beiden Halbbrüder gegen ihren ältesten Bruder, Kaiser Lothar. Dieser nämlich gab sich nach dem Tod ihres Vaters, Kaiser Ludwigs des Frommen († 840), und der von ihm verfügten Dreiteilung des Frankenreichs nicht mit dem Mittelteil zufrieden, der ihm zugefallen war. Vielmehr beanspruchte er, da er als Ältester auch die Kaiserwürde geerbt hatte, die Oberhoheit über das gesamte Reich (also grosso modo das Gebiet des jetzigen Frankreichs, der Benelux-Staaten, der alten Bundesrepublik plus Thüringen, der Schweiz, Westösterreichs sowie Nord- und Mittelitaliens).

Bei ihrem Treffen in Straßburg schworen zunächst die offenbar zweisprachigen beiden Könige, und zwar Ludwig der Deutsche, damit er zugleich auch von Karls Unterführern verstanden wurde, in „romana lingua“, dann Karl analog in „teudisca lingua“. Hiernach legten jeweils die sichtlich nicht unbedingt zweisprachigen Unterführer den Eid ab, nämlich die von Karl in ihrer französischen und die von Ludwig in ihrer deutschen Sprache. Die beiden franz. Textpassagen lauten:

[Ludwig:] Pro deo amur et pro christian poblo et nostro commun salvament, d'ist di in avant, in quant deus savir et podir me dunat, si salvarei eo cist meon fradre Karlo et in aiudha et in cadhuna cosa, si cum om per dreit son fradra salvar dift, in o quid il mi altresi fazet, et ab Ludher nul plaid nunqua prindrai, qui meon vol cist meon fradre Karlo in damno sit.

[Karls Unterführer:] Si Lodhuvigs sagrament, que son fradre Karlo jurat, conservat, et Karlus meus sendra de sue part lo franit, si returnar non l'int pois, ne io ne neuls, cui eo returnar int pois, in nulla adhiuda contra Lodhuvig nun li iv er.

(In eigener, möglichst wortgetreuer Übersetzung): Für Gottes Liebe und für des christlichen Volkes und unsere gemeinsame Rettung, von diesem Tag vorwärts (=in Zukunft), in soweit Gott Wissen und Können mir gibt, so werde beistehen ich diesem meinen Bruder Karl sowohl in Hilfeleistung als auch in jeder Angelegenheit, so wie man von Rechts wegen seinem Bruder beistehen soll, auf das dass er mir genauso tue; und mit Lothar kein Abkommen werde ich niemals treffen, das meines Willens diesem meinen Bruder Karl zum Schaden sei.

Falls Ludwig den Eid, den er seinem Bruder Karl schwört, wahrt und Karl mein Herr seinerseits ihn bricht, wenn abhalten nicht ihn davon ich kann, [dann] weder ich noch irgend jemand, den ich davon abhalten kann, in irgendeiner Hilfeleistung gegen Ludwig nicht ihm dort werde sein.

Wie man sieht, hatte (der im Auftrag Karls des Kahlen arbeitende) Nithard bzw. der Schreiber des altfranz. Textes Schwierigkeiten, die Sätze, die er gehört hatte, zu verschriftlichen, denn er hatte, wie damals üblich, Lesen und Schreiben nur anhand lateinischer Texte gelernt. So etwas wie eine eigene franz. Schriftsprache gab es noch nicht, denn bis weit über das Jahr 1000 hinaus wurde alles, was für aufschreibenswert gehalten wurde, von lateinkundigen Spezialisten, meist theologisch gebildeten „Klerikern“, in Latein aufgeschrieben. (Dieses Latein, das sog. Kirchen- oder Mittellatein, glich allerdings längst nicht mehr demjenigen, das um die Zeitenwende herum im alten Rom gesprochen worden war und dessen literarisches Register wir als klassisches Latein aus den Werken eines Cäsar, Cicero, Ovid, Horaz oder Vergil kennen).

P.S.: Das damalige Frankenreich war in sprachlicher Hinsicht sehr heterogen. Im Westteil wurden franz. und okzitanische Dialekte gesprochen und im Ostteil nieder-, mittel- und oberdeutsche Dialekte; das Mittelreich „Lotharingia“ (wovon sich die Bezeichnungen dt. Lothringen und frz. Lorraine ableiten) umfasste zusätzlich auch noch alpenromanisch- und italienischsprachige Gebiete.

(Stand: Juli 06)

La Cantilène de Sainte Eulalie / Eulaliasequenz (ca. 885)

Es ist das älteste bekannte literarische Werk in franz. Sprache. Es hat die Form einer „Sequenz“ (wie sie bei Gottesdiensten per Sing-Sang vorgetragen wurden) und berichtet von der Hl. Eulalia, einer jungen Adeligen, die am 10. Dez. 304 im heute spanischen Mérida den Märtyrertod erlitten haben soll. Der wahrscheinlich in Nordostfrankreich (vielleicht im Benediktinerkloster Saint-Amand-les-Eaux) entstandene Text besteht aus 29 Versen unterschiedlicher Länge (8 bis 12 Silben), die paarweise assonieren, d.h. nur mit den Vokalen und nicht auch mit den Konsonanten der Reimsilben reimen. Er ist verfasst in Anlehnung an eine inhaltsgleiche lateinische Sequenz und folgt auch auf diese in der Sammelhandschrift, die sie beide überliefert. Die betreffende Handschrift, die u.a. auch einen althochdeutschen Text enthält, wurde übrigens 1837 von A. H. Hoffmann von Fallersleben wiederentdeckt und erstmals abgedruckt.

Die Eulaliasequenz lässt, wie alle sehr frühen erhaltenen franz. Texte, deutlich die Schwierigkeiten erkennen, die die sonst nur lateinisch schreibenden Autoren oder Kopisten bei der Verschriftlichung volkssprachlicher Wörter und Sätze hatten. Der Anfang lautet (mit möglichst wortgetreuer Übersetzung von mir):

Buona pulcella fu Eulalia, // Gute Jungfrau war Eulalia,
bel auret corps, bellezour anima.// schön hatte sie [den] Körper, schöner [die]  Seele.
Voldrent la veintre li deo inimi,// [Es] wollten sie besiegen die Gottes Feinde,
voldrent la faire diaule servir.// wollten sie machen dem Teufel dienen.
Elle non eskoltet les mals conseillers,// Sie nicht hört die bösen Ratgeber,
qu'elle deo raneiet chi maent sus en ciel, // dass sie Gott verleugnet, der weilt oben im Himmel,
Ne por or, ned argent, ne paramenz, // nicht für Gold, noch Silber, noch Schmuck,
por manatce regiel, ne preiement.// [noch] durch Drohung königliche, noch Bitte.
Niule cose non la pouret omque pleier,// Keine Sache konnte sie nicht jemals beugen
[...]
Tuit oram que por nos degnet preier// Alle beten wir, dass für uns [sie] geruht zu bitten,
qued avuisset de nos Christus mercit// dass habe für uns Christus Gnade
post la mort e a lui nos laist venir// nach dem Tod und zu ihm uns lasse kommen
par souue clementia.// durch seine Milde.

Die Eulaliasequenz ist eines der Zeugnisse dafür, dass spätestens ab 800 im franz. Sprachraum die Laien auch das eher schlichte Kirchenlatein nicht mehr verstanden (weshalb 813 das Konzil von Tours beschloss, dass die Predigten nicht mehr in Latein, sondern in „lingua romanica“ zu halten seien). Sie ist zugleich ein Zeugnis dafür, dass das geistige und potenzielle literarische Leben nach wie vor von den Bedürfnissen der Kirche bestimmt wurden, die ihrerseits die einzige Institution war, die die materiellen und organisatorischen Möglichkeiten hatte, um intellektuell und künstlerisch begabte Individuen von den Zwängen der Alltagsarbeit freizustellen, zu fördern und zu unterhalten.

(Stand: Juli 06)

Vie de saint Léger / Leodegarlied (gegen 1000)

Es ist der älteste erzählende Text, der in franz. Sprache erhalten ist. Es handelt sich um eine Vita (Kurzbiografie) des Abtes von Saint-Maixent und späteren Bischofs von Autun sowie königlichen Beraters Leodegar. Dieser war 678 bei einer der im damaligen Frankenreich häufigen Thronfolgewirren von einem politischen Rivalen, Graf Ebroin, gefangen genommen, gefoltert und schließlich ermordet worden und wurde nach seinem Tod, aus sicherlich ebenfalls politischen Gründen, zum Märtyrer verklärt.

Das Leodegarlied (so die traditionelle Bezeichnung in der dt. Romanistik) ist offenbar in Nordostfrankreich entstanden und besteht aus 240 paarweise teils assonierenden, teils auch schon korrekt reimenden achtsilbigen Versen, den ältesten Versen dieses Typs, die in der franz. Literatur überliefert sind. Es ist ein Beispiel der damals florierenden Gattung Heiligenlegende, die aber meistens, zumindest wenn die Texte aufgeschrieben wurden, das Kirchenlatein als Sprache benutzte. Der Anfang lautet (mit möglichst wortgetreuer Übersetzung von mir):

Domine deu devemps lauder// Herrn Gott sollen wir loben
et a sos sancz honor porter.// und seinen Heiligen Ehre darbringen.
In su amor cantomps dels sanz// In seiner Liebe singen wir von den Heiligen,
quae por lui augrent granz aanz; // die für ihn hatten große Qualen;
et or est temps et si est biens// und nun ist Zeit und so ist es gut,
quæ nos cantumps de sant Lethgier.// dass wir singen vom heiligen Leodegar.
Primos didrai vos dels honors// Zuerst werde ich euch sagen von den Ehren,
Quæ il awret ab duos seniors.// die er hatte bei zwei [hohen] Herren.
Apres ditrai vos dels aanz// Danach werde ich euch sagen von den Qualen,
que li suos corps susting si granz,// die der seinige Körper [=er] aushielt so große,
et Ewruins, cil deumentiz,// und [von] Ewruin, diesem Gottleugner,
que lui a grant torment occist.// der ihn mit großer Tortur umbrachte.
[...]

Vie de saint Alexis / Alexiuslied (ca. 1050)

Diese Nachdichtung einer lateinisch verfassten Heiligenlegende gilt als der erste erhaltene franz. Text, der über seine religiösen Intentionen hinaus deutlichen künstlerischen Ehrgeiz aufweist. In Form und Stil ist das Alexiuslied (wie das Werk in der dt. Romanistik traditionell heißt) beeinflusst von der Gattung Heldenepos (chanson de geste, s.u.), die zu seiner Entstehungszeit schon florierte. Es war offenbar zum Vortrag per Sing-Sang bestimmt und besteht aus 125 Strophen von je 5 assonierenden 10-silbigen Versen mit Zäsur nach der 4. Silbe, den ältesten Strophen und Versen dieses Typs, die aus der franz. Literatur bekannt sind. Die erzählte Geschichte beruht vermutlich auf der einer realen Person vom Anfang des 5. Jh.:

Alexius ist zu Beginn der „Handlung“ der lang ersehnte, spät geborene einzige Sohn römischer Adeliger, der sich vom Vater in eine schöne Karriere einführen und standesgemäß verloben lassen hat, aber seiner Braut am Vorabend der Hochzeit erklärt, dass er nicht heiraten, sondern Gott dienen wolle. Hiernach verlässt er sie und die Eltern ohne Abschied und wird über Zwischenstationen nach Edessa geführt (in der heutigen südlichen Türkei, nahe der Grenze zu Syrien). Dort lebt er 17 Jahre lang als frommer Asket von Almosen und gibt sich z.B. Bediensteten seiner Familie, die auf der Suche nach ihm sind, nicht zu erkennen. Als man ihn in Edessa als Heiligen zu verehren beginnt und eine himmlische Stimme seine Heiligkeit bestätigt, entzieht er sich der Verehrung und geht erneut auf Wanderschaft, bis er auf einem Schiff vom Sturm zurück nach Rom geführt wird. Dort bittet er auf der Straße unerkannt seinen Vater, ihm aus Liebe zu seinem verschollenen Sohn einen Platz unter der Treppe in seinem Haus zu gewähren. Hier verbringt er nochmals 17 Jahre in Armut, ernährt sich von Küchenresten und lässt sich demütig vom Hauspersonal schikanieren. Sterbend verfasst er ein Schriftstück, dank dem er vom Papst im Beisein seiner Eltern, seiner Braut und des Kaisers als der Sohn des Hauses und als heilige Person erkannt wird. Danach wird er mit großem Pomp und starker Anteilnahme der Bevölkerung bestattet, was zeigt, dass ihm ein Platz im Himmel sicher ist.

Die Alexius-Legende, die zu einer bedingungslosen „imitatio Christi“ (Nachahmung Christus’) aufruft, kam ursprünglich aus Syrien, war von dort nach Konstantinopel gelangt und aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen worden. Diese Version wurde in Mittelalter und früher Neuzeit zur Grundlage für Nachdichtungen in verschiedenen europäischen Sprachen, von denen die franz. die älteste ist. Diese ist in fünf z.T. unvollständigen Abschriften aus dem 12. und 13. Jh. erhalten und entstand vermutlich im Nordosten des franz. Sprachgebietes. Sie ist jedoch überliefert in einer Sprache, die anglonormannisch gefärbt ist, d.h. Elemente desjenigen franz. Dialekts enthält, den die normannischen Eroberer 1066 aus der Normandie nach England mitgenommen hatten und als herrschende Schicht mehrere Generationen lang dort sprachen (bis er vom Angelsächsischen aufgesogen wurde und mit ihm zum Englischen verschmolz).

Der Anfang des Alexius-Liedes lautet (möglichst wörtlich übersetzt von mir):

Bons fut li siecles / al tems ancienour, // Gut war die Welt zur Zeit der Alten,
quer feit i eret / e justise ed amour; // denn Treue dort war und Gerechtigkeit und Liebe;
s'i eret creance, / dont ore n'i at nul prout; // ebenso dort war Vertrauen, wovon es jetzt keinen Nutzen gibt;

toz est mudez, / perdut ad sa coulour: // alles ist verwandelt, verloren hat es seine Farbe:
ja mais n'iert tel / cum fut as anceisours. // niemals wird es sein solches, wie es den Vorfahren war.

Al tems Noe / ed al tems Abraam // Zur Zeit Noahs und zur Zeit Abrahams
Ed al David, / cui Deus par amat tant,// und zur [Zeit] Davids, den Gott gar liebte so sehr,
Bons fut li siecles; / ja mais n'iert si vaillanz; // gut war die Welt; niemals wird [sie] sein so wacker;
Vielz est e frailes, / toz s'en vait declinant, // alt ist sie und gebrechlich, alles ist am niedergehen,
Si'st empeiriez, / toz biens vait remanant. // und ist verschlimmert, alles Gute ist am fortbleiben.

Puis icel tems / que deus nos vint salver, // Nach jener Zeit, als Gott (=Christus) uns kam retten,
Nostre anceisour / ourent crestiantet, // [und] unsere Vorfahren bekamen Christenglauben,
Si fust uns sire / de Rome la citet. // so war [da] ein Herr von Rom der Stadt.
Riches hom fut, / de grant nobilitet. // Reicher Mann war er, von großem Adel.
Pour ço'l vous di: / d'un suon fil vueil parler.// Für das (=deshalb) es euch sage ich: von einem seinen Sohn will ich reden.

Der Text zeigt, dass zu seiner Entstehungszeit sichtlich die Grundlagen einer franz. Schriftsprache und zweifellos auch einer überregional verständlichen „Koiné“ (Verkehrssprache) geschaffen waren. Diese Schriftsprache pflegte aber, wie oben angedeutet, dialektal gefärbt zu sein, d.h. Elemente des Dialekts des jeweiligen Autors oder auch Kopisten aufzuweisen.

(Stand: Apr. 10)

Chansons de geste

Die Gattung der Chansons de geste (von lat. gesta „Heldentaten“) zählt zu den ältesten erzählenden Gattungen der franz. Literatur. Ihre Entstehung fällt in das 11. oder sogar schon 10. Jh., doch ist ihre Blütezeit das 12. Jh.. Wie die Bezeichnung „chanson“ besagt, waren die Texte nicht zur schriftlichen Verbreitung und damit zum Lesen oder Vorlesen bestimmt, sondern zum freien Vortrag in einer Art Sing-Sang durch i. d. R. professionelle reisende Spielleute, die sich selbst mit einem (Saiten-)Instrument begleiteten oder aber begleiten ließen. Sie richteten sich (anders als der etwas spätere Höfische Roman, s.u.) an ein nicht spezifiziertes Publikum, d.h. an Hörer aus allen Bevölkerungsgruppen.

Formal bestehen die Chansons aus beliebig vielen Strophen, sog. Laissen. Diese stellen meistens jeweils eine Handlungssequenz oder Episode dar, die manchmal in der nachfolgenden Laisse leicht abgewandelt wiederholt wird. Die Zahl der Verszeilen pro Laisse war nicht festgelegt und schwankt zwischen ca. 5 und ca. 20. Die einzelnen Verszeilen bestehen meistens aus zehn, seltener aus zwölf und ganz selten aus acht Silben und sind innerhalb ihrer Laisse durch Assonanz miteinander verbunden.

Die franz. Literaturgeschichte kennt gut 80 im Schriftform erhaltene Chansons, davon etliche in mehreren unterschiedlichen, z.B. als erweitert oder gekürzt erscheinenden Versionen. Die meisten sind ohne Autornamen, d.h. anonym, überliefert und beruhen offenbar auf älteren, lange Zeit hindurch nur mündlich tradierten Vorlagen oder Vorstufen. Häufig ranken sie sich ähnlich wie Serienromane um ein und dieselbe Heldenfigur. Schon Zeitgenossen begannen deshalb, sie in Gruppen einzuteillen, z.B. den Königs- bzw. Karlszyklus um Kaiser Karl den Großen und seinen Sohn Ludwig den Frommen oder den Wilhelmszyklus um den Heerführer Guillaume und/oder dessen Neffen Vivien, die in 24 der erhaltenen Epen im Mittelpunkt stehen.

Inhaltlich geht es meistens um siegreiche Kriegszüge der Frankenkönige bzw. ̶­kaiser und/oder ihrer Heerführer, z.B. Wilhelms, gegen die „Heiden“, d.h. die Araber bzw. „Mauren“, die seit ihrem Einfall nach Europa im Jahr 711/12 Süd- und Mittelspanien beherrschten, ab ca. 1000 aber vom christlich gebliebenen Nordspanien her zurückgedrängt wurden. Daneben werden auch die um 800 geführten Unterwerfungskriege der Franken gegen die noch länger heidnisch gebliebenen Sachsen behandelt. Nach 1095 kam die Thematik der Kreuzzüge hinzu, d.h. der Versuche mitteleuropäischer Ritterheere, das seit 500 Jahren von Moslems beherrschte Jerusalem zu erobern und das Heilige Grab unter christliche Herrschaft zu bringen.

Die Gattung der Chansons de geste, in die auch Elemente der zeitgenössischen Heiligenlegenden eingeflossen sind, scheint besonders in den Klöstern entlang der Pilgerstraßen durch Frankreich nach Santiago de Compostela in Nordwest-Spanien gepflegt worden zu sein, als Mittel zur Unterhaltung und Erbauung der dort jeweils übernachtenden Pilger. Die Chansons kamen aber auch auf Jahrmärkten oder  Burgen  zum Vortrag.

Die letzten Chansons entstanden im 13. Jh.; die Stoffe und zentralen Figuren der Gattung dienten jedoch noch bis ins 15. Jh. hinein als literarisches Material.

Nicht wenige französische Chansons wurden Vorlage epischer Texte in anderen volkssprachlichen Literaturen, z.B. der mittelhochdeutschen.

Eine Anmerkung, übernommen aus dem Wiki:

Anfang des 13. Jahrhunderts unterteilte Bertran de Bar-sur-Aube in seinem Girart de Vienne die Chansons in drei Zyklen:

1.    den Königszyklus (cycle de Charlemagne), zu dem z. B. das Rolandslied/ Chanson de Roland  (s.u.) zählt;

2.    die Aufrührer- und Empörerepen, wie z. B. Gormond et Isembart

3.    den Zyklus über die Familie von Garin de Monglane, zu der auch Guillaume d’Orange gehört. Wichtigste Beispiele aus diesem Zyklus sind die Chanson de Guillaume aus dem 12. Jahrhundert, Le Charroi de Nîmes und Aliscans.

Die moderne Literaturgeschichte unterscheidet noch drei weitere Zyklen:

1.    den Kreuzzugszyklus (cycle de la croisade), mit Werken wie Le Chevalier au cygne oder die Chanson d'Antioche

2.    die Lothringergeste (geste des Loherains), mit z. B. Garin le Loherain

3.    die Nanteuilgeste (geste de Nanteuil)

(Stand: Juni 10)

La Chanson de Roland / Rolandslied (ca. 1100).

Dieses Versepos umfasst 4002 assonierende Zehnsilber in 291 „Laissen“ (Strophen) und ist eines der ältesten sowie das vielleicht beste, heute jedenfalls das bekannteste Werk der Gattung „Chansons de geste“ (s.o.). Von den Romantikern wurde es in Frankreich zu einer Art frühem Nationalepos stilisiert, und zwar wegen der Liebe, mit der es von „la douce France“ spricht, und wegen der herausragenden Rolle, die es den „Français de France“ in dem multi-ethnischen Heer Kaiser Karls des Großen zuweist. Den Nationalisten und Militaristen des späteren 19. und frühen 20. Jh. galten natürlich der Held Roland und seine Recken sowie die mächtige Figur Karls des Großen als vorbildhaft.

Die historische Basis des Rolandsliedes (wie es in der deutschen Romanistik heißt) ist offenbar ein Überfall baskischer Krieger auf die von Markgraf Hruotland geführte Nachhut eines fränkischen Heeres, das im Jahr 778 auf dem Rückzug aus Spanien den Pyrenäen-Pass von Roncesvaux überquerte.

Das Werk wurde verfasst oder aufgeschrieben, vielleicht aber auch nur diktiert und/oder öfter vorgetragen von einem sonst nicht näher bekannten Turoldus, von dem es im Schlussvers nicht genau deutbar heißt, er habe das Werk „dekliniert“ (Ci falt [=hier endet] la geste que Turoldus declinet).

Erzählt wird die folgende Geschichte:

Kaiser Karl der Große hat in sieben Jahren Krieg fast das ganze heidnische Spanien erobert bis auf Zaragosa, dessen König Marsilie ihm nun Unterwerfung und Konversion zum Christentum anbietet — beides aber nur zum Schein, um den Abzug des fränkischen Heeres zu erreichen. Karl versammelt den Rat der Barone, in dem sein Schwiegersohn Ganelon rät, das Angebot anzunehmen, während sein Neffe Roland, der zugleich ungeliebter Stiefsohn Ganelons ist, den Kampf fortsetzen will. Karl, der schon alt und kriegsmüde ist, schließt sich Ganelon an, worauf Roland mit verletzender Ironie diesen als Sendboten vorschlägt. Der beleidigte Ganelon sinnt auf Rache. Er begibt sich zu König Marsilie, dem er Roland als einen Kriegstreiber darstellt, ohne dessen Beseitigung es keinen Frieden geben werde. Marsilie soll deshalb mit einer Übermacht die Nachhut des abziehenden fränkischen Heeres überfallen; Ganelon will dafür sorgen, dass Roland ihr Befehlshaber ist. Alles geschieht wie geplant. Als Roland mit seinen zwölf befreundeten Recken als Unterführern den Hinterhalt bemerkt, wird er von seinem besonnenen Freund und Schwager in spe Olivier gedrängt, mit dem Signalhorn Olifant das fränkische Heer zu Hilfe zu rufen, doch stolz lehnt er ab. Erst als nach verlustreicher Abwehr der ersten Angriffswelle die Lage aussichtslos ist, bläst er auf Rat des streitbaren Bischofs Turpin das Horn. Nach der zweiten Welle (deren heldenhafte Kämpfe wiederum liebevoll-ausführlich dargestellt werden) ist nur noch Roland übrig. Nachdem auch er durch einen Hagel von Speeren und Pfeilen tödlich verletzt ist, fliehen die Heiden, weil sie Karls Heer zu hören glauben. Roland stirbt auf dem Schlachtfeld in der Pose des Siegers, der Erzengel Gabriel und zwei weitere Engel geleiten seine Seele ins Paradies. Karl, der in der Tat herbeigeeilt ist, verfolgt nun und vernichtet die Heiden, deren Reste mit dem schwer verwundeten König Marsilie nach Saragosa flüchten. Dort trifft gerade ein riesiges Heidenheer ein, geführt von „Admiral“ Baligant von „Babylonien“, den Marsilie schon vor Jahren um Beistand gebeten hatte. Doch auch dieses Heer vernichtet Karl, nicht ohne dass er selbst, der trotz seines Alters noch rüstig ist, im Schlachtgetümmel auf Baligant trifft und ihn in langem Zweikampf mit Hilfe eines Engels besiegt. Nach der Einnahme Saragosas und der Zwangsbekehrung seiner Einwohner kehrt Karl zurück in seine Residenz Aachen. Hier muss er Aude, der Verlobten Rolands, die Nachricht seines Todes überbringen, was auch ihren Tod bewirkt. Er will nun Gericht halten lassen über Ganelon, doch 30 Verwandte stellen sich schützend vor diesen, darunter Pinabel, der ihn im gerichtlichen Zweikampf vertreten will. Erst als Thierry, der junge Bruder des Grafen von Anjou, sich für die gerechte Sache zu kämpfen erbietet und Pinabel mit Gottes Hilfe besiegt, kann Karl Ganelon samt seiner Familie bestrafen. Noch dieselbe Nacht erscheint ihm der Erzengel Gabriel und fordert ihn auf, König Vivien zu helfen, der in seiner Stadt „Imphe“ von Heiden belagert wird. Karl weint und rauft sich den Bart – aber man ahnt: er wird gehen.

Lesen wir die ersten Laissen (d.h. die für das Genre typischen ungleich langen Strophen aus assonierenden Zehnsilbern), und zwar in der Version der sog. Oxforder Handschrift, die als die beste gilt und in anglonormannischem Dialekt, d.h. auf englischem Boden, redigiert ist. (Übersetzung, möglichst wörtlich, von mir) :

Charles li reis, nostre emperere magnes, // Karl der König, unser Kaiser großer,
sept anz tuz pleins ad estéd en Espaigne, // sieben Jahre ganz volle ist er gewesen in Spanien,
Tresqu'en la mer cunquist la terre altaigne; // bis an das Meer eroberte er das Hochland,
N'i ad castel ki devant lui remaigne, // es gibt dort keine Burg, die vor ihm verbliebe,
Mur ne citét n'i est remés a fraindre // Mauer noch Stadt ist dort verblieben zu brechen
Fors Sarraguce, ki est en une muntaigne. // außer Saragosa, das ist auf einem Berg.
Li reis Marsilie la tient, ki Deu nen aimet, // Der König Marsilie hat es inne, der Gott nicht liebt,
Mahumet sert et Apollin recleimet ; // [sondern] Mohammed dient und Apollo anruft;
Ne's puet guarder que mals ne l'i ateingnet. // er kann sich nicht behüten, dass Böses ihn nicht dort erreicht.

Aoi! (=ein Ausruf, der im Rolandslied regelmäßig das Ende einer Laisse markiert)

Li reis Marsilie esteit en Sarraguce, // Der König Marsilie war in Saragosa,
Alez en est en un verger suz l'umbre, // gegangen hin ist er in einen Garten unter dem Schatten,
Sur un perrun de marbre bloi se culched, // auf eine Steinbank aus blauem Marmor legt er sich,
Envirun lui plus de vint milie humes. // herum um ihn mehr als zwanzigtausend Mann,
Il en apelet et ses dux et ses cuntes: // er ruft davon sowohl seine Herzöge als auch seine Grafen an:
„Oez, seignurs, quel peccét nus encumbret: //„Hört, Herren, welches Unglück uns behelligt:
Li empereres Carles de France dulce // Der Kaiser Karl vom süßen (!) Frankreich
En cest pais nos est venuz cunfundre. // in dieses Land uns ist gekommen zermalmen.
[...]

Das Rolandslied war im Mittelalter nicht nur in Frankreich wohlbekannt und verbreitet, sondern lieferte auch die Vorlage oder den Stoff für zahlreiche Übertragungen, Bearbeitungen und sonstige Texte in anderen europäischen Sprachen, darunter Altnordisch, Niederländisch, Spanisch und Englisch. In Deutschland z.B. wurde es um 1170 vom Pfaffen Konrad nachgedichtet. In Italien machten noch 1476 Matteo Maria Boiardo und etwas später Ludovico Ariosto die Rolands zum Protagonisten ihrer vielgelesenen heroisch-komischen Versromane Orlando innamorato (= der verliebte Roland) und Orlando furioso (Der rasende Roland, 1505-1532), die ihrerseits der Figur neue große Bekanntheit verschafften.

(Stand: Sept. 09)

Romanze von Rainaut und Harembourg (ca. 1100).

Sie ist ein hübsches Beispiel der meist untergegangenen mittelalterlichen Lyrik im volkstümlichen Stil, d.h. einer Literatur, die für ein breites, sozial nicht spezifiziertes Publikum geschaffen wurde und deren AutorIinnen namentlich meist unbekannt sind:

Quant vient en mai, que l'on dit as lons jors,
Que Franc de France repairent de roi cort,
Reynauz repaire, devant, el premier front.
Si s'en passa lez lo mes Arembor,
ainz n'en dengna le chef drecier amont.
                E Raynaut, amis !

Als [es] kam in den Mai, den man nennt [den] mit den langen Tagen, wo die Franken (=die Freien =die Adeligen) Frankreichs zurückkehren vom Königshof, Reinald kehrt zurück, vorneweg, in der ersten Reihe. So ging er vorbei neben dem Haus Haremburgas, aber deshalb geruhte er nicht, den Kopf nach oben zu richten. He, Reinald, Freund!

Bele Erembors, a la fenestre, au jor,
sor ses genolz tient paile de color.
Voit Frans de France qui repairent de cort
et voit Raynaut devant, el premier front.
En haut parole si a dit sa raison :
                E Raynaut, amis!

Schön Haremburga, am Fenster, am Tageslicht, auf ihren Knien hält sie Stoff von Farbe (=farbig). Sie sieht die Franken Frankreichs, die zurückkehren vom Hof, und sie sieht Reinald vorneweg, in der ersten Reihe. Mit lautem Wort, so hat sie ihm ihre Rede gesagt.

"Amis Raynaut, j'ai ja veu cel jor,
se passisoiz selon mon pere tor,
dolanz fussiez, se ne parlasse a vos !"
"Ja mesfeistes, fille d'empereor :
Autrui amastes, si obliastes nos."
                E Raynaut, amis!

"Freund Reinald, ich habe schon jenen Tag gesehen, [wo], wenn [Ihr] bei meines Vaters Burgturm vorbeigegangen wäret, bekümmert gewesen wäret, wenn ich nicht zu Euch gesprochen hätte." – "Schon handeltet [Ihr] schlecht, Kaiserstochter, einen andren liebtet [Ihr], und so vergaßet [Ihr] uns."

"Sire Raynaut, je m'en escondirai.
A cent puceles, sor sainz, vos jurerai,
A trente dames que avuec moi menrai,
c'onques nul ome fors vostre cors n'aimai.
Prennez l'emmende et je vos baiserai."
                E Raynaut, amis!

"Herr Reinald, ich werde mich dessen rechtfertigen. Mit hundert Jungfrauen, auf Heiligen[reliquien] werde [ich] Euch schwören, mit dreißig Damen, die [ich] mit mir führen werde, dass ich niemals irgendeinen Mann außer Euren Körper (=Euch) liebte. Nehmt die Wiedergutmachung, und ich werde Euch küssen."

Li cuens Raynauz en monta lo degré,
gros par espaules, greles par lo baudré,
blond ot le poil, menu recercelé,
en nule terre n'ot si biau bacheler.
Voit l'Erembors, si comence a plorer.
                E Raynaut, amis!

Der Graf Reinald daraufhin erstieg die Stufe, breit bei [den] Schultern, schmächtig in der Gürtellinie, blond hatte er das Haar, fein gelockt, in keinem Land hatte [es einen] so schönen Jüngling. Sieht ihn Haremburga, und so beginnt [sie] zu weinen.

Li cuens Raynauz est montez en la tor,
si s'est assis en un lit peint a flors.
Dejoste lui se siet bele Erembors
..................................
Lors recomencent lor premieres amors,
                E Raynaut, amis!

Der Graf Reinald ist gestiegen in den Burgturm, und so hat er sich gesetzt auf ein Bett bemalt mit Blumen. Neben ihm setzt sich schön Haremburga. Da beginnt neu ihre erste Liebe. (Vers 4 der Strophe fehlt – vermutlich nicht per Zensur, sondern durch ein Versehen des Kopisten.)

Philippe de Thaon, Le Comput (nach 1113, vor 1119)

Der Compoz (so der originale Titel) ist das älteste in franz. Sprache erhaltene Sachbuch. Es handelt in sechssilbigen Reimpaaren von der Einteilung der Zeit in Stunden, Tage, Wochen, Monate und (Kirchen)Jahre, von den Tierzeichen und anderen regelmäßig wiederkehrenden Phänomenen, z.B. Sonnenfinsternissen, und zeigt den Stand des damaligen Wissens in diesen Bereichen. Philippe, der in England arbeitete und im anglonormannischen Dialekt schrieb, verfasste gegen 1125 auch ein Tierbuch (Bestiarium), das er der englischen Königin Aelis widmete. Dieses gibt das zeitgenössische Wissen von den einzelnen Tieren (auch Fabelwesen) wieder, das in vielen Punkten von Religion und Aberglauben bestimmt war.

(Stand: Juli 06)

Le Voyage de Saint Brendan / Brendansreise (um 1120).

Diese Verserzählung ist eines der ersten Beispiele franz.sprachiger Unterhaltungsliteratur und wirkt wie eine Mischung aus Heiligenlegende, Visionsbericht, Märchen und Abenteuergeschichte. Ihr Autor ist ein sonst nicht näher bekannter Kleriker, der sich selbst Benediz nennt (in Literaturgeschichten aber meist Benoît oder Benedeit heißt). Die 1834 Verse sind verfasst im anglonormannischen Dialekt und bestehen aus paarweise reimenden Achtsilbern, d.h. der Form, die sich inzwischen in der franz.sprachigen Heiligenlegende durchgesetzt hatte. Das Werk ist in immerhin sechs Handschriften erhalten, wurde also zu seiner Zeit offensichtlich häufig abgeschrieben. Es ist der Königin Aelis von England gewidmet und war demnach zur Zerstreuung des englischen Königshofes gedacht, der zu jener Zeit überwiegend frankophon war.

Benediz benutzt als Vorlage die in ganz Europa verbreitete lateinische Navigatio Sancti Brandani (10. Jh.) und berichtet die fiktive Geschichte des historischen irischen Abtes Brendan († 578), der mit vierzehn seiner Mönche zu einer Seefahrt aufbricht. Diese soll ihn, wie von einem Eremiten verheißen, bis zum Paradies führen. Auf seiner siebenjährigen Fahrt begegnet Brendan vielen seltsamen Tierwesen, findet verschiedene wundersame Inseln, von denen sich eine als Rücken eines Riesenfisches erweist, und den Eingang zur Hölle sowie schließlich inmitten eines Nebelringes auch das Paradies. Nachdem ein Engel ihn und die Seinen durch dessen Vorgarten geführt hat, kehrt er nach Irland zurück. Hier wird er dank seiner Frömmigkeit zum Heiligen.

Die Brendansreise ist eines der vielen Zeugnisse für die beginnende Säkularisierung des geistigen Lebens, d.h. seine Entkirchlichung und Verweltlichung, die ausgelöst wurde von dem wachsenden Wohlstand und den zunehmenden Unterhaltungsbedürfnissen der vielen über das Land verstreuten Fürstenhöfe. Dies waren z.B. die Höfe des franz. und des englischen Königs sowie die Höfe von Territorialfürsten (Herzögen und Grafen), an denen sich neue Freiräume und Verdienstmöglichkeiten boten für nicht kirchengebundene Künstler und Autoren (obwohl letztere von ihrem Werdegang her meist Kleriker, clercs, waren).

(Stand. Juli 06)

Lyrisme courtois / höfische Lyrik (ab ca. 1100).

Es ist eine meistens sehr kunstvolle Lyrik, die ursprünglich spanisch-arabischen Vorbildern folgte, sich aber auch aus volkstümlichen und aus mittellateinischen Quellen speiste. Sie wurde für ein überwiegend adeliges Publikum an Fürstenhöfen verfasst und dort gesungen vorgetragen. Ihre Blütezeit war war um 1200, doch haben ihre Vorstellungswelt und Bildersprache bis ins 15. Jh. hinein fortgelebt.

Die höfische Lyrik spricht vor allem von der liebenden Verehrung eines Ichs, das i.d.R. mit dem Autor identisch gedacht ist, für eine Dame, die zugleich als sozial überlegene Herrin vorgestellt ist. Hierbei wird diese Dame (das Wort kommt von lat. Domina !) weniger als potenzielle Geliebte gesehen denn als unerreichbares ideales Ziel der Sehnsucht und des Strebens.

Wichtigste Dichter (trouvères) im nördlichen Frankreich sind die Kleinadeligen Gace Brulé (1165–ca. 1212) und Conon de Béthune (ca. 1150–1220), der Stadtbürger Jean Bodel (1165-1209) sowie der hochadelige Graf Thibaud de Champagne (1201–1253).

Der Ursprung und das Zentrum dieser Lyrik allerdings lagen im 12. Jh. in der damals okzitanisch sprechenden und schreibenden, politisch quasi unabhängigen Südhälfte Frankreichs mit ihren florierenden Städten und vielen kleinen und mittleren Höfen, an denen sich zahlreiche trobadors (dt. Troubadours oder Troubadoure) unterschiedlichster sozialer Herkunft betätigten, sowie auch einige adelige weibliche trobadoriz. Es war eine kulturell sehr lebendige Welt, die aber zerstört wurde im Gefolge des brutalen „Kreuzzugs“, den 1209, mit Rückendeckung des Papstes, Graf Simon de Montfort begann, um die in Südwestfrankreich verbreitete prä-protestantische Sekte der Katharer bzw. Albigenser zu rekatholisieren oder auszumerzen – ein Unternehmen, das 20 Jahre Krieg auslöste. Dies wiederum führte zum wirtschaftlichen Ruin der Region sowie zu ihrer politischen Vereinnahmung durch die franz. Könige und anschließend zu ihrer kulturellen Kolonisierung durch Paris.

Einer der bedeutendsten altokzitanischen Lyriker war der mächtige Territorialfürst Herzog Wilhelm (Guilhem) von Aquitanien (1071–1126), der als erster Troubadour überhaupt gilt. Weitere bekannte Namen sind Marcabru (s.u.), Bernart de Ventador, Jaufré Rudel (s.u.), Bertran de Born, Arnaut Daniel. Die Themen, Motive, Stilmittel und Formen der Troubadours inspirierten nicht nur die nordfranzösischen Trouvères, sondern auch die Minnesänger in Deutschland und die Dichter der süditalienischen „Scuola siciliana“ sowie des Florentiner „dolce stil novo“ um Cavalcanti und Dante.

Eine Kostprobe (samt eigener, möglichst wortgetreuer Übersetzung) von Herzog Guilhem in Altokzitanisch bzw. „Provenzalisch“, wie die deutschen Hochschul-Romanisten diese Sprache nannten, als sie sie noch lernten:

Ab la dolchor del temps novel // Mit der Süße der neuen [Jahres]Zeit
foillo li bosc, e li aucel // beblättern sich die Wälder, und die Vögel
chanton, chascus en lor lati, // singen, jeder in ihrem „Latein“,
segon lo vers del novel chan; // gemäß dem Vers[maß] des neuen Sanges.
adonc esta ben c'om s'aisi // Da ist es gut, dass man sich erfreut
d'acho dont hom a plus talan. // an dem, wozu man am meisten Lust hat.

De lai don plus m'es bon e bel // Von dort, wo es mir am besten und schönsten ist [=von der Geliebten]),
non vei mesager ni sagel, // sehe ich weder Boten noch [Brief]Siegel,
per que mon cor no'm dorm ni ri, // weshalb mein Körper [=ich] mir nicht schläft noch lacht,
ni no'm aus traire ad enan // noch ich mich wage zu bewegen voran,
tro que eu sacha ben de fi // bis dass ich weiß ganz zu Ende (=endgültig),
s'el es aissi com eu deman. // ob sie ist so, wie ich verlange.

La nostr' amor vai enaissi // Unsere Liebe geht so
com la branca del albespi, // wie der Ast des Weißdorns,
Qu'esta sobre l'arbr' en treman, // der auf dem Baum ist, zitternd,
la nuoit, ab la ploia ez al gel, // nachts, beim Regen und beim Frost,
tro l'endeman,qu'el sols s'espan, // bis zum nächsten Morgen, wo die Sonne sich ausbreitet
par las fueillas verz e'l ramel. // durch die grünen Blätter und das Geäst.

Enquer me menbra d'um mati, // Noch erinnere ich mich eines Morgens,
que nos fezem de guerra fi, // wo wir machten mit dem Krieg Schluss
e que'm donet un don tan gran: // und wo sie mir gab ein so großes Geschenk:
sa drudari' e son anel. // ihre Trautheit/Zärtlichkeit und ihren Ring.
Enquer me lais Dieus viure tan // Noch lasse Gott mich so lange leben,
c'aia mas mans soz so mantel! // dass ich meine Hände unter ihrem Mantel haben möge!

Qu'eu no ai soing de lor lati // Denn ich habe keinen Kummer wegen ihres [=der anderen Leute] „Latein“ [=Gerede]),
Que'm parta de mon Bon-Vezi, // dass es mich trennen könnte von meinem Gutnachbarn [=der Geliebten],)
Qu'eu sai de paraulas com van, // denn ich weiß von den Worten, wie sie gehen [=kenne den Wortlaut]
Ab un breu sermon que s'espel: // von einer kurzen Rede [=Sprichwort], die sich buchstabiert:
Que tal se van d'amor gaban: // Dass [zwar] manche am Sich-Brüsten sind hinsichtlicht der Liebe [die sie zu genießen behaupten],
nos n'avem la pessa e'l coultel. // wir [aber] haben davon das Stück [Braten?] und das Messer.

Wie man sieht, war bei Guilhem, dem es als reichem und mächtigem Mann sicher nicht schwer fiel, willige Objekte seiner Wünsche zu finden, die Sicht der Liebe noch relativ handfest und nicht so idealistisch wie die Vorstellung, die sich anschließend im Dichten der meist kleinadeligen, sozial niedriger stehenden Troubadoure herausbildete. Deshalb eine Kostprobe auch aus der späteren Lyrik, und zwar von Graf Thibaud de Champagne (1201-1253), der als Größter seiner Zeit gilt und rd. 80 Lieder hinterlassen hat. Thibaud war zwar ein fast ebenso reicher und mächtiger Fürst wie Guilhem, doch war inzwischen in der höfischen Lyrik die idealistische „platonische“ Vorstellung von Liebe und ihre Einbettung in eine bestimmte Begrifflichkeit und Metaphorik so fest etabliert, dass auch er diese Konventionen respektiert. Ein direkter Bezug des Textes zur Lebensrealität des Autors scheint bei Thibaud (sowie den anderen höfischen Dichtern der Zeit) kaum mehr vorhanden und wird sichtlich auch nicht angestrebt. Typisch für die späteren Epochen der höfischen Lyrik ist auch die gängige Verwendung von Allegorien, d.h. Personifikationen von Tugenden, Lastern u.ä.:

Ausi comme l'unicorne sui // So wie das Einhorn bin ich,
qui s'esbahist en regardant // das sich erschreckt/fasziniert ist beim Blicken,
quant la pucele va mirant. // wenn es die Jungfrau am Anschauen ist.
Tant est liee de son ennui, // So froh ist es gegenüber seinem [bisherigen?] Kummer,
pasmee chiet en son giron // [dass] verzückt es fällt in ihren Schoß.
lors l'ocit on en traïson. // Dann tötet man es verräterisch/heimtückisch.
Et moi ont mort d'autel senblant // Und [auch] mich haben sie getötet mit demselben [tückischen] Schein
Amors et ma dame, por voir: // „Liebe“ und meine Dame, fürwahr.
Mon cuer ont, n'en puis point ravoir. // Mein Herz haben sie, von ihnen kann ich es nicht zurückhaben.

Dame, quant je devant vous fui // Dame, als ich vor Euch trat
et je vous vi premierement, // und ich Euch sah zum ersten Mal,
mes cuers aloit si tressaillant // war mein Herz so erzitternd,
qu'il vous remest quant je m'en mui. // dass es Euch verblieb, als ich mich hinweg bewegte.
Lors fu menez sanz raençon // Da wurde es geführt ohne Lösegeld[möglichkeit]
en la douce chartre en prison // in den süßen Kerker in Gefangenschaft,
dont li piler sont de Talent// dessen Pfeiler sind aus „Lust/Begehren“,
et li huis sont de Biau Veoir // und die Türen sind aus „Schönem Anschauen“
et li anel de Bon Espoir. // und die Ringe [zum Anketten?] aus „Guter Hoffnung“.

De la chartre a la clef Amors // Von dem Kerker hat den Schlüssel „Liebe“,
et si i a mis trois portiers: // und so hat sie [Amors ist damals häufig Femininum!] dort aufgestellt drei Türhüter:
Biau Semblant a nom il premiers, // Schönes Aussehen“ hat Namen der erste,
et Biautez cele en fet seignors; // und „Schönheit“ macht jene [=Amors] davon [=vom Kerker] zum Oberherrn;
Dangier a mis a l'uis devant, // „Dangier“ [eine in der deutschen Literatur unbekannte allegorische Figur, die alles den Liebenden Feindliche verkörpert] hat sie an die Tür vorne gestellt,
un ort, felon, vilain, puant, // einen schrecklichen, niederträchtigen, grobschlächtigen, stinkenden [Kerl],
qui moult est maus et pautonniers. // der sehr böse und rüpelhaft ist.
Cil troi sont et viste et hardi: // Diese drei sind fix und furchtlos:
Mult ont tost un homme saisi. // sehr bald haben sie einen Mann gegriffen.

Qui porroit sousfrir les tristors // Wer könnte ertragen die Trübseligkeiten
et les assauz de ces huissiers?// und die Attacken dieser Türhüter?
Onques Rollanz ne Oliviers // Niemals haben Roland und Olivier
Ne vainquirent si grans estors; // besiegt so große Anstürme/Angriffe.
il vainquirent en conbatant, // [Und wenn, dann] siegten sie kämpfend,
mais ceus vaint on s'humiliant. // aber jene [Türhüter] besiegt man [nur], indem man sich demütigt.
Sousfrirs en est gonfanoniers. // „Leiden“ ist ihr Bannerträger.
En cest estor dont je vous di // In diesem Angriff, von dem ich euch sage,
n'a nul secors fors de Merci. // gibt es keine Hilfe außer von „Gnade/Erbarmen“.

Dame, je ne doute mais riens plus// Dame, ich fürchte niemals irgendetwas mehr
que tant que faille a vous amer. // als soviel, dass ich mich verfehle am Euch lieben.
Tant ai apris a endurer // So sehr habe ich gelernt auszuhalten,
Que je sui vostres tout par us .// dass ich Euer bin, ganz aus Gewohnheit.
Et se il vous en pesoit bien, // Und [auch] wenn es Euch ziemlich belastete/störte,
ne m'en puis je partir pour rien // ich kann davon mich um nichts fortbewegen,
que je n'aie le remenbrer // ohne dass ich die Erinnerung hätte
et que mes cuers ne soit adés // und ohne dass mein Herz nicht sofort wäre
en la prison et de moi pres. // in der Gefangenschaft und von mir weggenommen.

Dame, quant je ne sai guiler, // Dame, wenn ich doch nicht zu tricksen verstehe,
merciz seroit de seson mes // wäre Gnade/Erbarmen zur rechten Zeit [=jetzt] angebracht,
de soustenir si greveus fais. // um eine so große Bürde aushalten [zu können].

(Stand: Juli 10)

Marcabru (1. Hälfte 12. Jahrhundert, Schaffenszeit ca. 1130 bis ca. 1150)

Er zählt zu den ältesten südfranzösischen, d.h. okzitanisch dichtenden Troubadouren. Er ist bedeutsam als Verfasser der ältesten überlieferten Pastourelle (Gedicht um die Begegnung eines Ritters in freier Natur mit einer Hirtin, die er zu verführen versucht) und vor allem als einer der Schöpfer des gewollt hermetischen Dichtungsstils des sog. „trobar clus“ (verschlossenes Dichten), das nach ihm in Mode kam.

Zwar ist sein Werk mit gut 40 Gedichten (davon vier mit Melodien) relativ gut überliefert, doch ist über sein Leben nichts Genaues bekannt. Die beiden altokzitanischen Kurzbiografien (vidas), die es über ihn gibt, scheinen ihre Daten aus bestimmten seiner Gedichte bezogen zu haben, d.h. sie sind nicht historisch fundiert und weichen überdies stark voneinander ab. So wäre er, nach der einen, kürzeren, Sohn einer armen Gascognerin namens Marcabruna („brauner [Leber-?]Fleck“) gewesen und habe schlecht von den Frauen und der Liebe geredet. Nach der anderen, ausführlicheren, wäre er als Findelkind einem reichen Mann namens Aldric del Vilar vor die Tür gelegt, unter dem Namen „Pan perdut“ (=verlorenes Brot) von ihm aufgezogen und von dem (historischen) Spielmann und Troubadour Cercamon im Dichten und Komponieren unterrichtet worden. Später habe er den Namen Marcabru angenommen, unter dem er bekannt wurde. Er sei schließlich von den Grafen der Gascogne, über die er viel Schlimmes gesagt habe, umgebracht worden.

Etwas fundierter als die genannten Vidas sind die Hypothesen, welche die moderne Philologie aus verstreuten Angaben und Andeutungen in seinen Texten sowie anderen Indizien aufgestellt hat. Hiernach würde Marcabru in der Tat wohl aus der Gascogne stammen und aus kleinen Verhältnissen kommen. In den 1130er Jahren scheint er zunächst in Beziehung zum Hof von Graf Wilhelm X. von Aquitanien gestanden zu haben (dem Sohn des ersten Troubadours), der überwiegend in Poitiers residierte. 1137 könnte er der Tochter Wilhelms, Eleonore, nach Paris gefolgt sein, als sie den franz. König Louis VII heiratete. Sichtlich blieb er dort aber nicht lange, sondern ging nach Nordspanien, wo er sich Alfonso VII. von León und Kastilien anschloss, dem Herrscher eines der dortigen kleinen Königreiche, die sich anschickten, die Reconquista zu aktivieren, d.h. die Rückeroberung der arabisch-islamisch beherrschten Landesteile. Für den Hof Alfonsos (wo man das Okzitanische offenbar ausreichend verstand) verfasste Marcabru in den 1140er Jahren auch politische Lyrik, worin er zum innerspanischen Kreuzzug aufrief, den er als eine „Waschküche“ (lavador) bezeichnet, in der die die Seelen ebenso rein gewaschen würden wie beim Kreuzzug ins Heilige Land.

Insgesamt war er offenbar nicht ungebildet und betätigte er sich in fast allen lyrischen Gattungen der Zeit. Obwohl er als Autor von den Zeitgenossen durchaus anerkannt wurde, scheint er als Person schwierig gewesen zu sein. Als Dichter gefiel er sich jedenfalls in der Rolle des Kritikers und Satirikers, der z.B. die „falsche“, nur den Lustgewinn anstrebende Liebe der adeligen Herren und auch Damen anprangerte oder die Heuchelei von Kirchenleuten denunzierte.

(Stand: Aug. 08)

Jaufré Rudel (um 1150)

Er ist heute einer der bekanntesten provenzalischen Troubadours. Er verdankt seinen Ruhm nicht zuletzt einer aus dem Mittelalter überkommenen sentimentalen Kurzbiografie (vida), die allerdings kaum den Fakten entspricht, sondern aus seinen Gedichten abgeleitet scheint. Sie erzählt, wie Jaufré aufgrund der Berichte von heimgekehrten Jerusalem-Pilgern und Kreuzfahrern eine unstillbare Sehnsucht nach der schönen Gräfin von Tripolis im Heiligen Land entwickelt, deshalb am nächsten Kreuzzug teilnimmt, aber während der Seefahrt erkrankt und kurz nach seiner Ankunft stirbt - immerhin in den Armen der sofort benachrichtigten und gerührt herbeigeeilten Gräfin, die anschließend Nonne wird.

Über die Person Jaufrés ist wenig bekannt, außer dass er „prince“ (Fürst) des kleinen Lehens Blaya (um das das heutige Städtchen Blaye im Département Gironde) war und wohl 1148 seinen Onkel und Lehnsherrn, den Herzog von Angoulême, auf dem zweiten Kreuzzug (1147-49) begleitete.

Insgesamt acht Gedichte von ihm sind erhalten, vier davon mit Noten. Das bekannteste, Lanquand li jorn son lonc en mai (Wenn die Tage lang sind im Mai), umkreist kunstvoll das Motiv der „Fernliebe“ (amor de lonh) und war wohl der Ausgangspunkt der o.g. Biografie.

Die Geschichte Jaufré Rudels wurde zur Zeit der Romantik auch außerhalb Frankreichs bekannt und in Deutschland von Heinrich Heine und Ludwig Uhland aufgegriffen. Alfred Döblin zitiert sie, fantasievoll leicht erweitert, in seinem letzten Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (1956).

(Stand: Aug. 08)

Antiken-Romane / Romans antiques oder d’Antiquité

Die Gattung der sog. antikisierenden oder Antiken-Romane (frz. romans antiques ou d’Antiquité) entstand offenbar gegen 1120, hatte ihre Blütezeit aber von ca. 1150 bis ca. 1180. Sie spiegelt das im 12. Jh. wachsende Interesse für die Antike und wurde geschaffen von Autoren, die i.d.R. lateinkundige Kleriker waren. Wie der Name besagt, stammen die Stoffe und Figuren der Antiken-Romane aus literarischen und historiografischen Werken der römischen und der griechischen Antike, wobei diese jedoch ausschließlich über lateinische Texte vermittelt ist. Das angesprochene Publikum waren Fürsten, z.B. der englische König, sowie das adelige Personal und die Damenwelt ihrer Höfe. Im Sinne der Vorstellungswelt und der Erwartungen dieses Publikums dichteten die Autoren ihre antiken Vorlagen und Quellen ganz unbefangen um, ohne sich zu scheuen, deren Sinn zu verändern und ohne ein authentisch wirkendes historisches Kolorit anzustreben (wie die historischen Romane der Neuzeit dies tun). Die Antiken-Romane bilden, indem sie erstmals die Darstellung von Rittertaten und das Thema Liebe verbinden, eine Art Zwischenstufe zwischen der älteren Gattung Chanson de geste und der neuen Gattung Höfischer Roman, die wenig später von Chrétien de Troyes (s.u.) geschaffen und perfektioniert wurde. Formal bestehen sie überwiegend aus fortlaufenden, paarweise reimenden achtsilbigen Versen. Sie waren also zur Lektüre bzw. zum Vorlesen bestimmt und nicht mehr, wie die Chansons de geste, zum freien Vortrag per Sing-Sang.

Die bekanntesten Antiken-Romane sind:

Le Roman de Thèbes / Thebenroman (ca. 1152-54)

Er ist zwar nicht das älteste Werk der Gattung, hat sie aber offenbar stark geprägt.

Der namentlich nicht bekannte Autor stammte sichtlich aus einer der damaligen westfranz. Besitzungen des englischen Königs Henry II Plantagenet und gehörte wohl zum Umfeld von dessen Hof.

Seine literarische Vorlage war vor allem die Thebais des antiken lateinischen Autors Statius (1. Jh. n. Chr.), ein Epos, das die Sage vom tragischen Schicksal der Zwillingsbrüder Eteokles und Polineikes verarbeitet, die nach dem Tod ihres Vaters Ödipus einen Krieg um die Herrschaft im griechischen Theben führen und sich am Ende gegenseitig auf dem Schlachtfeld erschlagen. Der Theben-Roman umfasst gut 10.000 paarweise reimende Achtsilber und ist in fünf Handschriften und zwei Versionen erhalten, deren längere offenbar nachträgliche Einschübe enthält. Der Roman zeigt noch viele thematische und stilistische Übereinstimmungen mit den Chansons de geste, insbes. bei der ausführlichen Darstellung von Kämpfen und Schlachten; er nimmt aber auch schon Elemente des höfischen Romans vorweg, z.B. indem er einigen Frauengestalten wichtige Rollen zuweist. Anders als die nachfolgenden Werke der Gattung gibt er dem Thema Liebe, ohne es ganz auszuklammern, relativ geringen Raum.

Le Roman d'Énéas / Äneasroman (um oder eher kurz nach 1160)

Er umfasst gut 10.000 Verse. Der unbekannte Verfasser folgt überwiegend dem Rom-Gründungsepos Vergils, der Æneis (um 20 v. Chr.), benutzt aber auch zusätzliche lateinische Quellen, z.B. Werke Ovids. Auch er schildert gerne Kämpfe, räumt aber der Liebe einen hohen Stellenwert ein. Vermutlich war es seine einfühlsame Darstellung der den Helden Äneas liebenden Frauen Dido und Lavinia, die kurz nach 1170 den Minnesänger Heinrich von Veldeke anregte, den Roman in mittelhochdeutschen Versen nachzudichten.

Le Roman d'Alexandre / Alexanderroman (ca. 1120 –ca. 1180)

Alexander der Große (356-323 v. Chr.) galt in Antike und Mittelalter als Prototyp des stets nach neuen Eroberungen und Erfahrungen dürstenden Helden und hochherzigen Herrschers, aber auch als Verkörperung menschlicher Hybris. Seine Figur steht im Mittelpunkt drei sehr unterschiedlicher altfranz. Romane, deren ältester zugleich den Beginn der Gattung Antiken-Romane markiert und deren jüngster an ihrem Ende steht. Der Stoff ist mehreren lateinischen Vorlagen entnommen, die ihrerseits aus diversen griechischen Quellen schöpfen, welche von Anbeginn an neben Fakten auch viele sagen- und märchenartige Elemente enthielten. Die lateinischen Vorlagen waren vor allem die romanartige Alexander-Vita des Julius Valerius (ca. 320 n.Chr.) sowie die chronikartige Historia de proeliis Alexandri Magni des Leo von Neapel (10. Jh.).

Die älteste der drei franz. Versionen wurde in frankoprovenzalischem Dialekt wohl schon gegen 1120 verfasst. Sie ist nur als Fragment von 105 Achtsilblern in 15 einreimigen Strophen (Laissen) erhalten. Ihr Stil entspricht dem der zeitgenössischen Chansons de Geste. Laut dem Pfaffen Lamprecht, der sie um 1120/30 ins Mittelhochdeutsche übertrug, wurde sie von einem „Alberich von Bisenzun“ (= Albéric de Pisançon?) verfasst, der aber nicht näher bekannt ist.

Eine zweite, ebenfalls nur fragmentarisch überlieferte Fassung (785 Zehnsilbler in zehnzeiligen Laissen), wurde wohl kurz nach der Mitte des 12. Jh. von einem unbekannten Autor geschrieben.

Die Version, die am weitesten verbreitet und mit knapp 16.000 paarweise reimenden Zwölfsilblern auch am längsten ist, entstand offenbar um 1180. Sie stammt von Alexandre de Bernay bzw. de Paris und schildert, nunmehr eher im Stil eines höfischen Romans, das gesamte Leben Alexanders. Sie besteht aus vier sehr ungleich langen Teilen oder „Branchen“ (=Zweigen), wobei Alexandre angibt, er habe die unvollständigen Werke zweier anderer (nicht mehr näher bekannter) Autoren eingearbeitet, nämlich eines gewissen Eustache (als Branche II) und eines Lambert le Tort (als Branche III). Schon ab ca. 1190 begannen anonyme Redaktoren zusätzliche Episoden an den Roman anzuhängen oder in ihn einzufügen.

In der zweiten Hälfte des 13. Jh. wurde der Alexander-Roman in eine Prosafassung umgeschrieben, von der zahlreiche Handschriften aus dem 14. und 15. Jh. und sogar einige frühe Drucke erhalten sind. Sie alle zeugen von dem langandauernden Erfolg des Werkes.

Alexandres Version ist der erste längere Text der franz. Literatur, der als Versmaß den Zwölfsilbler benutzt, den deshalb in Frankreich so genannten „vers alexandrin“ (Alexandriner).

(Stand: Juli 10)

Le Roman de Troie / Trojaroman (ca. 1165).

Dieses in mehr als 50 Handschriften erhaltene Werk von gut 30.300 Versen war das erfolgreichste und bedeutsamste der Gattung Antiken-Roman. Es schildert in der Hauptsache die Eroberung Trojas durch ein Bündnis griechischer Könige, enthält als Vorspann aber auch eine Darstellung der Argonautensage um Jason und als Anhänge die Geschichten einiger griechischer Helden, z.B. des Odysseus.

Der Trojaroman wurde verfasst für den Hof des englischen Königs Henry II. und seiner Gattin Aliénor von Aquitanien, der ein beachtliches franz.sprachiges intellektuelles Zentrum war. Über die Person des Autors Benoît ist nichts Näheres bekannt, außer dass er offenbar aus Sainte-Maure in der Grafschaft Touraine stammte, d.h. aus einer der damaligen Besitzungen der englischen Könige auf franz. Boden.

Als stoffliche Vorlage des Werkes diente nicht das damals in Westeuropa nur vom Hörensagen bekannte Epos Homers, die Ilias, sondern zwei angeblich von Augenzeugen verfasste, tatsächlich aber aprokryphe spätantike lateinische Darstellungen des trojanischen Krieges, nämlich die Ephemeris belli Trojani eines gewissen Dyctis (4. Jh.), der die Dinge auf griechischer Seite erlebt haben will, und die De excidio Troiae historia eines gewissen Dares (6. Jh.), der in Troja dabeigewesen zu sein vorgibt und eingangs Homer für seine märchenhafte Darstellung tadelt (was Benoît übernimmt). Von „Dyctis“ und „Dares“, vor allem vom letzteren, entlehnt Benoît jedoch nur den groben Rahmen, den er fantasievoll und geschickt mit Liebesgeschichten, ritterlichen Kampfszenen, Beschreibungen und gelehrten Exkursen ausstaffiert.

Der Roman de Troie wurde nach 1200 offenbar für ein eher städtisch-bürgerliches Publikum in eine stark raffende, weitgehend auf die bloße Handlung reduzierte Prosaversion umgeschrieben, die ihrerseits um 1215 eingefügt wurde in ein jahrhundertelang gelesenes und abgeschriebenes und hierbei immer wieder überarbeitetes Kompendium der Alten Geschichte, die sog. Histoire ancienne jusqu'à César.

Verbreitung in ganz Europa fand der Troja-Stoff à la Benoît in einer mittellateinischen Prosaversion: der 1272 begonnenen und 1287 abgeschlossenen Historia destructionis Troiae des Sizilianers Guido delle Colonne, die wohl einer der größten Bucherfolge des gesamten europäischen Mittelalters war. Etwa gleichzeitig (um 1280) entstanden die mittelhochdeutschen Versionen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg.

Im Frankreich des 13. bis 16. Jh. war Troja übrigens auch aus ideologischen Gründen bedeutsam, denn die franz. Könige leiteten damals ihren Stammbaum (Genealogie) von einem legendären Francus her, der sich bei der Eroberung Trojas durch die Griechen zusammen mit dem späteren Rom-Gründer Äneas auf ein Schiff gerettet und seinerseits das erste Frankenreich (Francia) gegründet habe.

(Stand: Dez. 10)

Benoît de Sainte-Maure (2. Hälfte 12. Jh.)

Über die Person Benoîts ist nichts Näheres bekannt, außer dass er offenbar aus Sainte-Maure in der Grafschaft Touraine stammte, d.h. aus einer der damaligen Besitzungen der englischen Könige auf franz. Boden, und dass er für und wohl weitgehend auch an deren Hof arbeitete.

Sein Hauptwerk ist der um 1165 verfasste Roman de Troie (Trojaroman) (s.o.).

Nach der guten Aufnahme des Trojaromans wurde Benoît 1174 von König Henry II. beauftragt, eine ebenfalls gereimte Geschichte der Normannenherzöge bzw. (ab 1066) der Könige von England zu schreiben. Aus unbekanntem Grund (Tod des Autors?) bricht das Werk jedoch bei Vers 44.544 ab, d.h. es endet bei König Henry I..

(Stand: Nov. 07)

Le Jeu d'Adam / Adamsspiel (ca. 1150, evtl. aber auch erst um 1200).

Dieses Werk eines unbekannten Autors ist der älteste bekannte dramatische Text in franz. Sprache. Er kommt aus der Tradition des lateinischsprachigen kirchlichen Theaters der Zeit (der einzigen dramatischen Gattung, die es damals gab) und ist entstanden vielleicht auf englischem Boden, überliefert jedenfalls in einer anglonormannisch gefärbten Version.

Das nur in einem einzigen Manuskript und nicht ganz vollständig erhaltene Stück besteht überwiegend aus paarweise reimenden Achtsilblern, enthält aber auch Strophen aus vierzeilig reimenden Zehnsilblern. Es zeigt, nicht ohne psychologisches Geschick, die Versuchung Adams und vor allem Evas durch den Teufel, die Erschlagung Abels durch Kain, das Erscheinen der Propheten des Alten Testaments mit ihren Weissagungen zum Kommen Christi sowie eine Ankündigung des jüngsten Gerichts.

Die Regieanweisungen sind lateinisch verfasst, die Aufführenden oder zumindest die Aufführungsleiter waren also offensichtlich Kleriker; als Aufführungsort dienten zweifellos improvisierte Bühnen vor oder in Kirchen.

(Stand: Juli 06)

Marie de France (zweite Hälfte 12. Jh.).

Sie ist die erste bekannte Autorin der franz.sprachigen Literatur, doch hat man keine Informationen über ihre Person außer der eigenen Angabe „Marie ai nun, si suis de France“ (Ich heiße Marie und bin aus Franzien), wonach sie aus der Île de France, d.h. dem Pariser Raum gebürtig sein müsste. Ihrer profunden Bildung nach zu urteilen kam sie sicher (als legitimiertes außereheliches Kind eines Hochadeligen und einer kleinadeligen Dame?) aus höchsten Kreisen. Ihr Zielpublikum jedenfalls war der überwiegend franz.sprachige englische Hof von Henry II., in dessen Umfeld sie offenbar lebte und für den sie entsprechend im anglonormannischen Dialekt schrieb.

Maries bekanntestes und originellstes Werk sind die Lais, zwölf jeweils zwischen ca. 100 und ca. 1000 Verse umfassende Versnovellen („lais“). Sind sind offenbar um 1170 über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden und verarbeiten viele Märchenmotive und Sagenstoffe, wobei letztere meist „britannischer“, d.h. keltischer Herkunft, sind. Darunter ist  auch der Tristan-Isolde-Stoff, der hier zum ersten Mal greifbar wird, wenn auch nur in einer einzigen seiner zahlreichen Episoden.

Die Themen der schlicht, aber feinsinnig erzählten und auch heute noch ansprechenden Novellen sind sehr unterschiedlich, vor allem aber geht es um die Schwierigkeiten Liebender, zueinander zu kommen und/oder beieinander zu bleiben.

Ein weiteres, größeres Werk von Marie ist eine Sammlung von 102 Fabeln, der Esope oder Ysopet (1170-80). Ihre Vorlage, so gibt sie am Ende an, sei altenglisch und stamme von „König Alfred“, der seinerseits einer lateinischen Übertragung der altgriechischen Fabelsammlung Aesops (6. Jh. v. Chr.?) gefolgt sei (aber sichtlich auch noch andere Quellen benutzt hat).

Offenbar ebenfalls von Marie stammt das anonyme, ihr lange Zeit zugeschriebene, dann zwischenzeitlich aber aberkannte Werk Le Purgatoire de Saint Patrice. Es entstand wohl um 1190 auf der Grundlage eines lateinischen Prosatextes, den es in franz. Verse umsetzt.

(Stand: Dez. 09)

Chrétien de Troyes (zweite Hälfte 12. Jh.).

Er gilt als der eigentliche Begründer und zugleich bedeutendste Autor des Höfischen Romans (roman courtois), einer nach ihm noch jahrhundertelang florierenden Erzählgattung. Von Chrétien überliefert sind vor allem fünf Romane, deren Stoffe überwiegend aus der sog. „matière de Bretagne“ stammen, d.h. aus dem keltisch-britannischen Sagenkreis um König Artus. Diese Stoffe reichert Chrétien an mit erfundenen Episoden und verlegt die Handlungen in eine Welt, wie sie den Vorstellungen und Erwartungen entsprach, die an den Höfen seiner Zeit bestanden. Auch die Ideale des in der Troubadourlyrik entwickelten Minnedienstes fließen in seine Epen ein, zumal in deren zahlreiche Dialoge und innere Monologe. Sein Verfahren, aus diesen verschiedenen Elementen eine kunstvoll strukturierte und bedeutungsvolle Handlung zu schaffen, nennt Chrétien mit schriftstellerischem Selbstbewusstsein eine „molt bele conjointure“ (sehr schöne Verbindung).

Konkrete Lebensdaten von Chrétien sind nicht bekannt, außer dass er in seinem Roman Érec et Énide Troyes als seine Heimatstadt angibt (er schrieb auch im Dialekt der Champagne) und dass er eine gute Bildung nach Art eines Klerikers genossen haben muss. Seine Schaffenszeit erstreckte sich offensichtlich von ca. 1160 bis in die 1180er Jahre. Einer seiner Romane, Lancelot, wurde nach eigener Auskunft im Auftrag der Gräfin Marie de Champagne verfasst, also nach 1164, wo sie diesen Titel durch ihre Heirat erhielt;, sein letztes und unvollendetes Werk dagegen, der Conte du Graal, ist Graf Philippe de Flandre gewidmet, der diesen Titel 1169 übernahm und 1180 Regent von Frankreich wurde, was die offenbar vor diesem Datum verfasste Widmung nicht erwähnt. Chrétien muss also jeweils nach 1164 und vor bzw. um 1180 länger oder zeitweilig in Beziehung zu den genannten Fürsten gestanden haben.

Sein Publikum waren entsprechend diese und ggf. andere fürstliche Mäzene samt ihren Gattinnen und deren Hofdamen und Edelfräulein, sowie der an ihren Höfen lebende oder verkehrende kleinere und mittlere Militär- und Verwaltungsadel. Sein Schaffen dokumentiert den Höhepunkt der Macht dieser größeren und kleineren Territorialfürsten (Herzöge, Grafen u.ä.), deren Höfe im 11./12. Jh. als Macht- und Kulturzentren mit dem Hof der franz. Könige rivalisierten.

Nicht alle Werke Chrétiens sind erhalten. Eine Liste der vor etwa 1170 entstandenen gibt er selbst zu Beginn seines Romans Cligès. Hiernach hätte er zuerst Érec et Énide verfasst, dann je eine Übertragung der Ars amatoria und der Remedia amoris von Ovid, danach eine Geschichte von „König Marke und der blonden Isolde“ sowie drei wohl kürzere Bearbeitungen von Verwandlungssagen aus Ovids Metamorphosen. Bis auf den Érec und die Verwandlungssage um Philomena (die Nachtigall) sind diese Werke jedoch verloren.

Erhalten sind (neben einigen wenigen Gedichten zum Thema höfische Liebe) vor allem die folgenden in paarweise reimenden Achtsilblern verfassten Romane:

Érec et Énide (entstanden nach 1160): Es ist die Geschichte des Königsohns Érec, der nachdem er sich früh am Artushof ausgezeichnet hat, heiratet und über der Liebe zu seiner jungen Frau Énide die Pflicht des Ritters vernachlässigt, Taten zu vollbringen. Von Enide darauf hingewiesen, erkennt er seinen Fehler, zweifelt aber auch an ihrer Liebe und zieht deshalb gemeinsam mit ihr zu Abenteuern aus. Hierbei besteht er zahlreiche Kämpfe, erfährt aber auch ihre Treue, wonach er ruhmbedeckt an den Hof von König Artus zurückkehrt und später seinem Vater Lac als König nachfolgt.

Cligès (entstanden wohl zwischen 1165 und 1170). Die 6784 Verse bilden zwei Teile, eine Vorgeschichte und die eigentliche Geschichte. Erstere erzählt vom byzantinischen Kaisersohn Alexandre, der zum Artushof reist, sich dort in die Hofdame Soredamors verliebt, sie heiratet und nach längerer Zeit mit ihr und seinem Söhnchen Cligès nach Byzanz zurückkehrt, wo inzwischen sein jüngerer Bruder Alis den Thron okkupiert hat, den er auch behält, weil Alexandre stirbt. Statt, wie versprochen, unverheiratet zu bleiben und seinem Neffen Cligès die Thronfolge zu überlassen, beschließt Alis, die Tochter Fenice des deutschen Kaisers zu ehelichen. Bald nach der Ankunft der byzantinischen Delegation in Köln verlieben sich Cligès und Fenice und versprechen sich einander. Eine zauberkundige Amme sorgt dafür, dass Fenice, die gleichwohl Alis heiraten muss, von diesem immer nur in seinen Träumen berührt wird. Cligès, der das Warten nicht erträgt, geht auf Abenteuerfahrt zu König Artus. Nachdem er zurückgekehrt ist, bewerkstelligt er es, Fenice als scheinbar Verstorbene zu entführen und im Verborgenen eine Weile zu lieben. Er wird jedoch entdeckt und flüchtet mit ihr, bis er sie nach dem Tod des Onkels schließlich (anders als Tristan die Isolde) heiraten und mit ihr den Thron besteigen kann. Der Anfang des Cligès enthält die berühmte These von der „translatio studii“, wonach die Gelehrsamkeit von den Griechen auf die Römer und von diesen auf die Franzosen übergegangen sei.

Le Chevalier de la charrette (Der Karrenritter, entstanden wohl um 1170): Erzählt wird die bunte Geschichte der Abenteuer, die der junge Ritter Lancelot besteht, um die entführte Königin Guenièvre, die Gattin von König Artus, zu finden und ihr seine entsagungs- und hingebungsvolle Liebe zu beweisen (die immerhin auch einmal kurz belohnt wird). Die letzten rd. 1000 Verse des Lancelot wurden von einem gewissen Godefroi de Lagny verfasst, offenbar mit Wissen und nach Plänen Chrétiens, der in diesem Auftragswerk für Marie de Champagne von Anbeginn an etwas lustlos wirkt.

Le Chevalier au lion (Der Löwenritter, entstanden wohl gegen 1170): Es ist die Geschichte des Artusritters Yvain, der die junge Witwe eines von ihm im ritterlichen Zweikampf getöteten Burgherrn heiratet, sich bald aber von ihr beurlauben lässt und auf Abenteuer und Turniere auszieht, den gesetzten Jahrestermin seiner Rückkehr vergisst, von seiner Frau verstoßen wird und diese Schmach in vielen Prüfungen gutmacht, wo er Bedrängten, u.a. einem von einem Drachen bedrohten Löwen, zu Hilfe eilt und sich so zum idealen Ritter läutert.

Le Conte du Graal (begonnen wohl gegen 1180 für Philipp von Flandern): der Versuch, in der Geschichte des jungen Ritters Perceval die Gattung des Höfischen Romans mit christlichen Elementen zu durchdringen. Das Werk, das Chrétien sichtlich als eine Summe seines Denkens und Schaffens geplant hatte, blieb zunächst, offenbar durch seinen Tod, nach rd. 9000 Versen unvollendet stehen. Es wurde dann von mehreren unbekannten Fortsetzern weitergeführt und auf rd. 32.000 Verse verlängert.

Auch in Deutschland fand Chrétien großen Anklang: Die Romane um Érec und um Yvain wurden gegen oder um 1200 nachgedichtet von Hartmann von Aue, der Roman um Perceval bald nach 1200 von Wolfram von Eschenbach – eines der Zeichen dafür, wie vorbildhaft die franz. Literatur insgesamt in Frankreichs Nachbarländern zu dieser Zeit war.

Fast alle Romane Chrétiens wurden im 13. Jh. für ein überwiegend städtisches Publikum in Prosa umgeschrieben. Vor allem der Prosa-Lancelot fand weite Verbreitung und wurde bis ins 15. Jh. hinein gelesen.

Ein lange Zeit Chrétien zugeschriebener Abenteuer-Roman um einen (nicht historischen) englischen König, der sog. Guillaume d'Angleterre, stammt nach neuerer Forschungsmeinung wohl von einem anderen, sonst unbekannten Verfasser mit dem gleichen Namen Chrestien.

(Stand: Dez. 10)

Les romans de Tristan et Yseut / Tristan-Romane (ca.1170–1180)

Wohl in den 1170er Jahren entstanden die beiden ältesten der uns bekannten romanartigen Versionen des Tristan-Isolde-Stoffes. (Ein vielleicht um 1160 von Chrétien de Troyes (s.o.) verfasster Tristan-Roman ist nicht erhalten.) Die beiden Versionen gehen offensichtlich auf etwas unterschiedliche ältere Texte zurück und sind nur als Fragmente überliefert.

Die erste ist ein ca. 1172-75 für den englischen Hof verfasster Versroman des sonst unbekannten Autors Thomas d'Angleterre, von dem in fünf verschiedenen Handschriften insgesamt acht Teilstücke mit zusammen gut 3000 Versen aus dem letzten Drittel der Handlung erhalten sind (Tristans Heirat mit der nur als Ersatz betrachteten namensgleichen Isolde Weißhand, einige weitere Abenteuer T.s und sein tragisches Ende).

Die andere Version ist ein wohl gegen 1180 entstandener Versroman des ebenfalls als Person nicht näher bekannten Spielmanns Béroul, von dem in einer einzigen Handschrift knapp 4500 Verse des Mittelstücks erhalten sind (Tristans und Isoldes heimliche Liebe am Hof von König Marke, der T.s Onkel und I.s Ehemann ist; die Entdeckung ihres Verhältnisses, T.s Flucht, I.s Verurteilung und ihre Rettung durch T., das gemeinsame Leben der beiden in einer Laubhütte im Wald, ihre schließliche Rückkehr an den Hof, I.s Wiederaufnahme durch Marke und T.s Aufbruch ins Exil).

Die Gesamthandlung des Thomas’schen Romans kennen wir dank einer stark raffend erzählenden altnordischen Prosaübertragung von ca. 1225 und dadurch, dass Gottfried von Straßburg ca. 1200–1210 seinen (unvollendet gebliebenen) mittelhochdeutschen Tristan auf der Basis von Thomas’ Text verfasste. Dem Roman Bérouls wiederum entspricht weitgehend, ohne wohl eine direkte Übertragung oder Bearbeitung zu sein, der in toto erhaltene mittelhochdeutsche Tristan des Eilhart von Oberg von ca. 1180.

In Frankreich kompilierte um 1230-35 ein unbekannter Autor (oder mehrere Autoren?) den sog. Tristan en prose, einen sehr umfänglichen, in zahlreichen Handschriften und leicht divergierenden Versionen überlieferten, bis ins 16. Jh. hinein gelesenen Prosaroman, der den Tristan-Stoff mit anderen Stoffen verbindet, vor allem dem König Artus-Stoff, und somit Tristan zum dicht- und sangeskundigen Ritter der Tafelrunde macht.

Der Tristan-Isolde-Stoff ist übrigens nicht, wie man als Deutscher und Wagner-Adept glauben könnte, germanischer Herkunft, sondern keltischer, denn er stammt aus der schottisch-walisisch-bretonischen Sagenwelt, der sog. matière de Bretagne, aus der in der zweiten Hälfte des 12. Jh. viele Stoffe und Motive in die franz. Literatur eingeflossen sind, z.B. in die höfischen Romane von Chrétien de Troyes (s. o.).

(Stand: Juli 10)

Le Roman de Renard / Fuchsroman (ab 1174).

Die erste Version dieses sehr lange Zeit hindurch populären Werkes verfasste ein sonst nicht näher bekannter Pierre de Saint-Cloud auf der Basis mittellateinischer Vorlagen; sie wurde anschließend über mehr als hundert Jahre hinweg von ca. zwanzig verschiedenen, überwiegend anonymen Autoren erweitert, variiert und umgearbeitet.

Protagonist dieses in paarweise reimenden Achtsilblern erzählenden Tierepos bzw. Tierschwanks ist der schlaue Fuchs, der stets nur seinen Vorteil sucht und diesen mal mehr, mal weniger abenteuerlich und erfolgreich auf Kosten anderer Tiere oder auch von Menschen findet.

Der Roman de Renard scheint ursprünglich in vielem ein humoristisch-realistisches und teils parodistisches Kontrastprogramm zum sehr idealistischen Höfischen Roman à la Chrétien de Troyes gewesen zu sein. Die angesprochene Leser-/Hörerschaft war also zunächst dieselbe wie die des Höfischen Romans. Allerdings fand der Renard rasch Anklang auch beim städtisch-bürgerlichen Publikum, das sich gegen 1200 herauszubilden begann.

Die Figur des verschlagenen Renard wurde durch den Roman so populär, dass sein Name (der dem deutschen ‚Reinhard’ entspricht) zur Vokabel wurde, die das ursprüngliche franz. Wort für „Fuchs“, goupil, verdrängt hat.

Eine erste deutsche Nachdichtung wurde schon gegen Ende des 12. Jh. von Heinrich dem Glichesaere verfasst, wodurch die Figur auch im deutschsprachigen Raum heimisch wurde.

(Stand: Febr. 05)

Die Gattung „Fabliau“ und ein Beispiel: Auberée (ca. 1200).

Im Zentrum der Handlung steht die pfiffige Kupplerin Auberée, die einer jungen Frau und ihrem Galan beim Betrügen (cocuage) des schon ältlichen Ehemanns hilft.

Diese lustige Verserzählung eines anonymen Autors ist eines der ältesten und gelungensten Beispiele für eine im gesamten 13. Jh. sehr erfolgreiche Gattung: das alle erdenklichen komischen Sujets bearbeitende Fabliau oder Fablel (Schwank).

Die Fabliaux, deren Texte meist einen Umfang von 400–500 paarweise reimenden Achtsilblern haben, waren vielleicht die erste literarische Gattung, die sich im bürgerlichen Milieu der franz. Städte entwickelte. Diese hatten sich in Spätantike und frühem Mittelalter stark verkleinert, wuchsen aber seit dem 11. Jh. langsam wieder und etablierten sich im 12./13. Jh. als Zentren wirtschaftlicher und politischer Macht sowie auch als Kulturzentren, in denen nicht nur die Architektur und die bildende Kunst (Kirchen- und Rathausbau samt Ausschmückung) florierten, sondern wo auch die Literatur ein wachsendes und zunehmend gebildetes Publikum fand.

Ähnlich wie der franz. Höfische Roman wurde das Fabliau ein Exportschlager und fand Nachahmung in der englischen, niederländischen, deutschen und italienischen Literatur (hier z.B. bei Boccaccio).

(Stand: Dez. 10)

Jean Bodel (1165-1209).

Dieser Bürger der reichen Tuchweber- und Tuchhändler-Stadt Arras ist in die Literaturgeschichte eingegangen als Verfasser des ältesten mit Autornamen (d.h. nicht anonym) überlieferten dramatischen Textes der franz. Literatur: des erstmals am 5. Dez. 1201 aufgeführten Mirakelspiels Le Jeu de Saint Nicolas (= das Spiel vom Hl. Nikolaus). Das Stück ist in seiner Mischung von ernsten und lustigen Elementen nicht untypisch für die Gattung und wurde bis weit ins 14. Jh. häufig aufgeführt.

Die Handlung beginnt mit ausführlich dargestellten Kämpfen zwischen Heiden und Christen, wobei nur ein einziger Christ überlebt, der aber den Emir der Heiden über die Macht des heiligen Nikolaus bzw. einer Statuette von ihm aufklärt, zu der er sich gerettet hat. Der Emir will nun, um ihre Kraft auf die Probe zu stellen, seinen Schatz von ihr bewachen lassen, der jedoch von drei Dieben samt der Statuette gestohlen wird. Es folgen fabliauxhafte Szenen in einem Wirtshaus, wo die Diebe ihre Beute zu Geld zu machen versuchen. Als ihnen jedoch der Heilige selber erscheint (er ist bekanntlich zuständig für das Wiederfinden verlorener Objekte), bringen sie reumütig alles zurück, worauf sich die Heiden beeindruckt bekehren.

Jean Bodel schrieb auch Fabliaux und war einer der anerkanntesten nordfranz. Trouvères in allen lyrischen Gattungen der Zeit. Er verfasste eine der letzten Chansons de geste (=Heldentatenlieder bzw. -epen), die Chanson des Saisnes. Diese schildert Kriege Karls des Großen, insbes. gegen die noch heidnischen Sachsen (Saisnes), die u.a. in der sich wacker verteidigenden Stadt „Tremoigne“ (Dortmund?) belagert werden. Im Grunde jedoch geht es in den Saisnes um die gerade aktuellen Kreuzzüge, zumal den Vierten (begonnen 1202), an dem Bodel nicht teilnehmen konnte, weil er sich mit Lepra angesteckt hatte.

Er starb in der „léproserie“, vor den Toren seiner Heimatstadt, nicht ohne sich mit einem längeren Gedicht an Freunde und Bekannte verabschiedet zu haben.

Der pikardische Dialekt, den er verwendete, war um 1200 dank dem Mäzenatentum wohlhabender Patrizier in den florierenden pikardischen Tuchmetropolen der wichtigste franz. Literaturdialekt neben dem anglonormannischen.

(Stand: Dez. 10)

Geoffroi de Villehardouin (ca. 1150–1213).

Er ist Autor des ältesten erhaltenen historiografischen (=geschichtsschreibenden) Werks in franz. Prosa, der Histoire de la conquête de Constantinople (1207–1213), womit er in eine Domäne einbrach, die bis dahin dem Lateinischen vorbehalten war.

Der aus einem Adelsgeschlecht der Champagne stammende Villehardouin wurde um 1190 „sénéchal de Champagne“ und nahm vielleicht mit seinem Herzog Henri II am 3. Kreuzzug (1189–92) teil. Als dessen Misserfolg durch einen nächsten Kreuzzug wettgemacht werden sollte, war er ab 1199 einer der Hauptorganisatoren und verhandelte z.B. 1201 mit der Republik Venedig, die die Schiffe für die Überfahrt nach Palestina zur Verfügung stellen sollte.

In seiner Chronik schildert Villehardouin den dann wiederum enttäuschenden Verlauf des Unternehmens: Nämlich wie das Kreuzfahrerheer kleiner blieb als erwartet und wie es, nach seinem Aufbruch 1202, von den Venezianern erst zur Eroberung der dalmatinischen Hafenstadt Zara und danach zur Einmischung in innere Querelen des oströmischen Kaiserreichs Byzanz missbraucht wurde, wo es dem legitimen, aber von einem Usurpator verdrängten Thronfolger Alexis IV. zur Herrschaft verhelfen sollte; weiterhin wie das Heer 1203, statt das wieder heidnisch gewordene Jerusalem zu erobern, das christliche Konstantinopel (das heutige Istanbul) einnahm und es 1204 grausam plünderte, als der neugekrönte Alexis sein Versprechen brach, die Fortführung des Kreuzzugs finanziell und militärisch zu unterstützen; weiter wie Alexis ermordet und danach der Kreuzfahrer Graf Baudouin von Flandern zum Kaiser ausgerufen wurde; wie aber dieser und seine überwiegend aus Franzosen rekrutierte Funktionselite, darunter Villehardouin, das okkupierte Reich nicht in den Griff bekamen und 1207, nach der verlorenen Schlacht von Adrianopel, bei der Balduin in Gefangenschaft geriet, in inneren und äußeren Schwierigkeiten endeten.

Villehardouin selbst, der für seine Verdienste zum „maréchal de Romanie“ befördert worden war und bei Adrianopel den geordneten Rückzug geleitet hatte, blieb in Griechenland, wo sich kurzlebige Kreuzfahrerstaaten etablierten. Er wurde 1207 von dem ursprünglichen Führer des Kreuzzugs, Boniface de Montferrat, der sich zum König von Thessaloniki (Thrakien) ausgerufen hatte, mit der Stadt Mosynopolis als  Lehen ausgestattet. Hier begann er mit der Niederschrift seiner Chronik. Er starb, offenbar bald nach deren Abschluss, wohl im Jahr 1213, wo sein in Frankreich gebliebener Sohn sich erstmals als Herr von Villehardouin bezeugt ist.

Die Chronik gefällt durch ihren nüchternen und realistischen Stil, verfolgt natürlich aber das Ziel, den neuerlichen Misserfolg des Kreuzzugs zu erklären und zu relativieren sowie dessen Anführer und den Autor selbst zu rechtfertigen.

(Stand: Jan. 07)

Le Lancelot en prose (1215–35).

Es ist vermutlich der erste Prosaroman der franz. Literatur und bearbeitet den von Chrétien de Troyes (s.o.) überkommenen Artus-Lancelot-Graal-Stoff. Das sehr umfangreiche Werk wurde vielleicht unter der Leitung eines nicht bekannten Chefredaktors von mehreren ebenfalls anonymen Autoren verfasst und ist in über 60 Handschriften und in mehreren unterschiedlichen Versionen überliefert. Es war also sehr erfolgreich und wurde entsprechend häufig abgeschrieben (was inzwischen übrigens nicht mehr nur in klösterlichen Skriptorien geschah, sondern zunehmend in gewerblichen städtischen Schreibwerkstätten).

Der Lancelot ist der Prototyp des um die Themen Abenteuer, Kampf und Liebe kreisenden Ritterromans, einer seit Chrétien in fast ganz Europa jahrhundertelang florierenden Gattung, zu der u.a. auch die nach 1500 zunächst in Portugal und Spanien florierenden Amadis-Romane gehören.

Mit seiner Verklärung des Rittertums entsprach der Lancelot (wie auch andere franz. Ritterromane nach ihm) offenbar nicht zuletzt einem Evasionsbedürfnis des franz. Adels, dessen Macht ab ca. 1200 durch den energischen König Philippe Auguste († 1223) und seine Nachfolger stark eingeschränkt wurde. Das Buch kam aber sichtlich auch dem Unterhaltungsbedürfnis von Bürgern in den wachsenden und wirtschaftlich aufstrebenden Städten entgegen.

(Stand: Jan. 09)

Aucassin et Nicolette (ca. 1225).

Diese „chantefable“, wie der unbekannte, pikardisch schreibende Autor sein Werk nennt, ist das erste Prosimetron (Mischung aus Prosa- und Versen) der franz. Literatur. Das nicht sehr lange Werk zeugt nicht nur von der Kunst, sondern auch von der Belesenheit seines Autors, denn es enthält zahlreiche, teils parodistische Anlehnungen an die Literatur der Zeit, z.B. an die Chanson de Geste, die höfische Lyrik, den höfischen Roman, den Tristan-Roman, den neuen Prosa-Ritterroman usw. So hübsch und interessant diese „chantefable“ späteren Literaturhistorikern  erscheint, damals hat sie keine Schule gemacht und auch selbst ist sie nur in einer einzigen Handschrift erhalten geblieben. Ob der dargestellte Triumph der Liebenden über den Willen der Väter zu subversiv und die Figur der relativ emanzipierten Nicolette zu kühn war?

Erzählt wird in 21 Vers- und 20 Prosapassagen mit Sympathie und feinem Humor die folgende Geschichte:

Aucassin, der Sohn des Grafen von Beaucaire, liebt die schöne Nicolette, eine Sarrazenin, die ein gräflicher Beamter einst als Kind auf dem Sklavenmarkt erworben, aber getauft und bei sich aufgezogen hat. Als Feinde die Grafschaft angreifen, erklärt Aucassin seinem Vater, dass er nur dann in den Kampf zieht, wenn er Nicolette heiraten darf, doch der Graf lehnt diese Mesalliance ab. Auch der Beamte versucht Aucassin die Heirat auszureden und sperrt, als das nichts nützt, Nicolette ein. Sie kann aber fliehen und tröstet durch eine Mauerspalte Aucassin, der inzwischen seinerseits im Kerker sitzt, weil er im Kampf zwar Heldentaten vollbracht, danach jedoch neuen Streit mit dem unbeugsamen Vater gehabt hat. Sie baut sich nun eine Hütte im Wald und sendet ihm, als er endlich frei ist, Lebenszeichen von dort.

Nachdem er sie gefunden hat, gehen sie gemeinsam in ein fremdes Land, werden dort aber bei einem Überfall nordafrikanischer Piraten gefangen und getrennt verschleppt. Während Aucassin dank einem Schiffbruch just bei Beaucaire wieder freikommt, den Tod seines Vaters erfährt und neuer Graf wird, gerät Nicolette nach Karthago. Hier stellt sich heraus, dass sie die geraubte Tochter des dortigen Königs ist, der sie sogleich mit einem muslimischen Fürsten verheiraten will. Sie flieht jedoch und schlägt sich durch bis Beaucaire, wo sie als Spielmann verkleidet Aucassin ihrer beider Geschichte vorträgt. Als er ergriffen den vermeintlichen Spielmann bittet, ihm die Geliebte zu suchen, steht dem Happy End nichts mehr im Weg.

(Stand: Dez. 10)

Guillaume de Lorris (* um 1205, vermutlich in Lorris-en-Gâtinais, † nach 1240).

Der als Person gänzlich unbekannte Guillaume gilt als Autor eines 4068 Verse zählenden Romanfragments, das er gegen 1240 wohl in Paris für ein überwiegend höfisches Publikum begann und das gegen 1280 von Jean de Meung fortgesetzt und einem Ende zugeführt wurde: des sog. Roman de la Rose / Rosenroman.

Guillaumes besondere Leistung bestand darin, drei Elemente gekonnt miteinander verbunden zu haben, die sämtlich in der Literatur der Zeit zwar vorhanden, aber wenig geläufig waren: die Form der Ich-Erzählung, die Darstellung einer ganzen Romanhandlung in Gestalt eines Traumberichts und die Verwendung allegorischer Figuren als handelnder Personen. Von der Meisterschaft Guillaumes zeugt auch seine so einfühlsame wie anschauliche Darstellung der Psychologie des Verliebtseins.

Offenbar war Guillaume auch der Erfinder der allegorischen Figur des Danger (aus mittellat. domniarium „Herrschaft, Herrschaftsanspruch“). Dieser Unhold, der alles verkörpert, was den Liebenden, vor allem dem liebenden Mann, die Erfüllung ihrer Wünsche erschwert, war anschließend über 200 Jahre hinweg eine außerordentlich verbreitete Figur in der franz. Literatur, vor allem der Lyrik. Wahrscheinlich hat sie die Bedeutungsverschiebung von „Herrschaft“ zu „Gefahr“ verursacht, die das Wort danger im späten Mittelalter im Französischen erlebte. In der deutschen Literatur scheint die Figur des Danger keine Entsprechung zu haben.

(Stand: Jan. 09)

Le Roman de la rose / Rosenroman (ca. 1230–1280).

Dieser lange allegorische Roman in paarweise reimenden Achtsilblern ist das erste große in Paris entstandene Werk der franz. Literatur und war wohl der meistgelesene und einflussreichste franz.sprachige Text des Mittelalters. Er wurde zwischen 1230 und 1240 begonnen von dem als Person nicht näher bekannten Guillaume de Lorris (* ca. 1205, † ca. 1240, s.o.) und blieb zunächst Fragment, das bei Vers 4028 abbrach. Von Guillaume offenbar stammte die bahnbrechende Idee, drei in den Romanen seiner Zeit zwar vorhandene, aber kaum geläufige Elemente miteinander zu verbinden: die Form der Ich-Erzählung, die Darstellung einer ganzen Romanhandlung als Traumbericht und die Verwendung allegorischer Figuren als handelnder Personen. Das Werk wurde fortgesetzt und gegen 1280 mit Vers 21.750 zu einem Abschluss gebracht von Jean de Meung (s.u.).

Der Roman beginnt mit einer kleinen Vorrede, worin der Autor dem Leser/Hörer ankündigt, er wolle seiner Dame zu Gefallen einen quasi Wahrheit gewordenen Traum berichten, den er vor fünf Jahren als Zwanzigjähriger gehabt habe. Der Bericht enthalte „die ganze Kunst der Liebe“ und heiße „der Roman von der Rose“. Denn mit dieser Blume sei seine Dame zu vergleichen.

Der dann folgende Traumbericht ist einem Ich-Erzähler (einem der ersten der franz. Literatur) in den Mund gelegt, der zugleich Protagonist der Handlung und, wie sich bald zeigt, fast die einzige als realer Mensch vorzustellende Figur hierin ist. Alles beginnt damit, dass der Erzähler vor einen mauerumschlossenen paradiesischen Garten gelangt, dessen Besitzer Déduit (Spaß, Vergnügen) dort mit einer fröhlichen Gesellschaft, darunter Amor, tanzt und singt. Er wird von Oiseuse (die Müßige) eingelassen und darf etwas mitfeiern, erkundet dann jedoch den Garten, heimlich verfolgt von Amor. Im Spiegel eines Brunnens, dem von Narziss, erblickt er das Bild einer Rosenknospe, die er fasziniert sofort sucht und an einem großen Busch auch findet. Bei dem Versuch, sich ihr zu nähern, wird er von den Pfeilen Amors getroffen. Sie verwandeln seine Faszination in Liebe und machen ihn zu Amors Vasallen. Nachdem er ihm Treue und Gehorsam gelobt hat, wird er ausführlich belehrt über die Pflichten eines Liebenden (u.a. dass er allen, zumal Frauen, gegenüber zuvorkommend ist, sich sauber hält und adrett kleidet) sowie sehr anschaulich aufgeklärt über die Seelenqualen, die ihn erwarten. Bei seinen weiteren Annäherungsversuchen an die Rose bekommt er es mit vielerlei allegorischen Figuren zu tun, insbes. Bel-Accueil (Freundlicher Empfang), der sich ihm zu helfen erbietet, Raison (Vernunft), die ihn warnt, und den Bösewichten Malebouche (Verleumdung), Peur (Furcht), Honte (Scham) und vor allem Dangier ([unrechtmäßiger] Herrschaftsanspruch), einem anschließend in der franz. Literatur allgegenwärtigen Unhold, der das Zusammenkommen Liebender nach Kräften behindert. Schließlich schafft der Liebende es zwar mit der Hilfe von Venus, Danger zu überlisten und einen Kuss der Rose zu erhaschen, doch lässt nun Jalousie (Eifersucht) um den Rosenbusch herum eine Burg errichten und Bel-Accueil in den Burgturm sperren, so dass der Liebende verzweifelt in eine lange Klage anstimmt – womit der von Guillaume de Lorris verfasste Teil abbricht.

Die ursprüngliche, bis hierher noch deutliche Gesamtkonzeption ist die der Vermittlung einer idealistischen „ars amatoria“ (Liebeskunst) an ein höfisches Publikum. Der liebende adelige Mann sollte durch die theoretischen Belehrungen Amors und durch das praktische Beispiel der Handlung die Kunst des Minnedienstes lernen, der in der völligen Hingabe an die geliebte Dame und der geduldigen Überwindung von Widerständen und Hindernissen besteht und eine moralische Läuterung bewirkt.

Guillaume hatte den Liebenden/Erzähler einerseits beiläufig anmerken lassen, er werde später den tieferen Sinn des Werkes erklären, und hatte ihn an einer anderen Stelle andeuten lassen, er werde die Rose erst am Ende einer langen Schlacht bekommen. Offenbar waren es diese Bemerkungen, die Jean de Meung (s.u.) auf die Idee einer Fortsetzung brachten. Jean führt zunächst die Klage des Liebenden fort, doch ändert sich sofort die Atmosphäre des Textes. Der Liebende wirkt skeptischer, offener für Zweifel. Auch lässt Jean ihn Aufklärung suchen, zunächst bei Raison, die ihm einen so nüchternen wie langen Vortrag über die Probleme und Spielarten der Liebe hält, ihn aber noch ausführlicher über moralisches und unmoralisches Handeln überhaupt aufklärt, ihn vor dem launischen Walten Fortunas warnt und ihn zur Aufkündigung seines Vasallenverhältnisses zu Amor drängt, was der Liebende natürlich ablehnt. Auch im nächsten Abschnitt, dem Vortrag über praktische Lebensregeln aller Art, den eine Figur namens Ami (=Freund) auf Bitte des Liebenden hält, geht es nur am Rande um die Probleme Verliebter. Dem Autor Jean ist offensichtlich vor allem an allgemeiner Unterweisung seiner Leser gelegen.

Die Handlung kommt in seinem Teil fast zum Stillstand, das eigentliche Ziel, die Rose, scheint eher nebensächlich geworden, auch wenn der Liebende sie schließlich dank der Hilfe von Amor und seiner Mutter Venus und am Ende eines heftigen Kampfes der allegorischen Figuren um die Rosenburg erlangt und pflückt. Jean nämlich verschafft sich bzw. seinen Figuren ständig neue Gelegenheiten zu gelehrten und satirischen Exkursen. So diskutiert er unter häufiger Berufung auf antike und jüngere Autoritäten philosophische, theologische und moralische Probleme, breitet seine beachtlichen mythologischen, astrologischen und naturkundlichen Kenntnisse aus und nimmt zu aktuellen Fragen Stellung, indem er etwa die Bettelmönchsorden satirisch aufs Korn nimmt oder die Herrschenden und die Vertreter der Kirche kritisiert.

Insgesamt steht Jean, der sichtlich für ein vorwiegend städtisches Publikum schrieb, in einer ironischen Distanz zur höfischen Denkungsart seines Vorgängers Guillaume. Aus einer fast misogynen Grundhaltung heraus, wie sie typisch war für den mittelalterlichen Kleriker, sieht er die Liebe nicht als Ideal, sondern als einen von der Natur gesteuerten Trieb, der von moralischen Vorstellungen bestenfalls gezügelt wird. Die Frau sieht er entsprechend nicht als Mittel der Läuterung, sondern als Versuchung, vor der er den Liebenden von Raison nochmals eindringlich warnen lässt.

Dem Erfolg des Romans tat die Diskrepanz der beiden Teile keinen Abbruch. Hierbei wurde von den spätmittelalterlichen Lesern wahrscheinlich weniger der dichterisch schönere Teil Guillaumes geschätzt als der gelehrtere und vielfältigere Teil von Jean. Diesen hielt man denn auch für den Verfasser des Gesamtwerks. Insgesamt sind mehr als 300, häufig prachtvoll illuminierte Manuskripte erhalten (eine enorme Zahl für einen mittelalterlichen Text) und an die 20 frühe Drucke bis 1538. Entsprechend groß war der Einfluss des Werkes auf die franz. Literatur, wo es die Gattung Traumgedicht heimisch machte und (anders als in Deutschland) in allen Gattungen allegorische Figuren zur Selbstverständlichkeit werden ließ. Der Rosenroman wurde von so gut wie allen franz. Autoren zwischen 1300 und 1530 gelesen und als Inspirationsquelle benutzt. 1527 versuchte Clément Marot (s.u.), den Text durch eine sprachliche Modernisierung zu revitalisieren. Diese Fassung des Romans wurde jedoch nur viermal nachgedruckt, ehe er der so starken wie raschen Veränderung des literarischen Geschmacks zum Opfer fiel, die von der Wiederbelebung der Antike durch die Humanisten und dem Einbruch des kulturellen Einflusses Italiens in Frankreich ausgelöst wurde.

In der Übertragung Chaucers hat der Rosenroman die englische Literatur beeinflusst, in einer parodistischen, vielleicht von Dante verfassten Version, auch die italienische. In der deutschen Literatur scheint er keine nennenswerten Spuren hinterlassen zu haben.

(Stand: Juli 08)

Jean de Meung (auch Jean Clopinel oder Chopinel; * um 1240, wahrscheinlich in Meung-sur-Loire; † spätestens 1305, wahrscheinlich in Paris).

Über seine Biografie ist so gut wie nichts Genaueres bekannt. Aus seinem Schaffen lässt sich erschließen, dass er zumindest die Artistenfakultät absolviert haben muss und Kleriker war. Auf jeden Fall hatte er die Möglichkeit, sich eine profunde philosophische, theologische, literarische und naturkundliche Bildung anzueignen. Auch scheint sicher, dass er den größten Teil seiner aktiven Jahre in Paris verbracht hat.

Literarhistorisch bedeutend wurde Jean vor allem durch seine Fortsetzung des um 1230/40 von Guillaume de Lorris begonnenen Rosenromans (Roman de la Rose, s.o.), die er wohl 1275-80 verfasste und durch die er die gut 4000 Verse Guillaumes um fast 18.000 Verse erweiterte. Der Rosenroman war einer der größten Bucherfolge, vielleicht sogar der größte, des franz. Mittelalters, und zwar obwohl die beiden Teile nicht nur in der Länge sehr verschieden sind, sondern auch in ihrem Geist und ihrer Machart. Der Hauptanteil an dem Erfolg gebührt wahrscheinlich nicht dem dichterisch schöneren Teil Guillaumes, sondern dem gelehrteren und vielfältigeren Teil Jeans, unter dessen Namen das Werkganze denn auch anschließend lief.

Die sonstige Aktivität von Jean de Meung bestand vor allem im Übertragen lateinischer Texte ins Franz., womit er offenbar die Bedürfnisse der zunehmenden Zahl von Lesekundigen und Wissensdurstigen vor allem in den wachsenden und prosperierenden Städten seiner Zeit befriedigte. So übertrug er insbes. das Standardwerk der Kriegskunst De re militari von Vegetius (4. Jh. n. Chr.), die Briefe Abälards und Heloises (12. Jh.) und das Trostbuch De Consolatio Philosophiae von Boethius (523/24 n. Chr.). Wie so häufig bei erfolgreichen Autoren, wurden ihm postum auch Werke zugeschrieben, die er nicht verfasst hat.

(Stand: Jan. 09)

La Châtelaine de Vergi (ca. 1250).

Diese anonyme, traurig-schöne höfische Erzählung in 958 Versen gilt seit ihrer Wiederentdeckung zur Zeit der Romantik als ein Juwel der älteren franz. Literatur. Sie variiert das aus der Bibel bekannte Joseph-Putiphar-Motiv1) in folgender Geschichte:

Die Châtelaine (Burgherrin) von Vergi und ein Ritter haben ein geheimes glückliches Verhältnis. Die Herzogin von Burgund verliebt sich in den Ritter, der sie abweist, ohne zu sagen warum. Gekränkt beschuldigt sie ihn beim Herzog mit der Lüge, er stelle ihr nach. Als jener den Ritter tadelt und bestrafen will, weiht dieser ihn in sein Geheimnis ein und lässt ihn versteckt sogar ein Rendez-vous mit der Châtelaine belauschen. Der Herzog, der von der Herzogin zu erklären gedrängt wird, warum er den Ritter nicht bestraft hat, sagt ihr schließlich den Grund. Hierauf deutet die Herzogin der Châtelaine an, sie kenne ihr Geheimnis, und zwar aus dem Munde des Ritters. Die Châtelaine glaubt sich verraten und stirbt vor Kummer; der Ritter nimmt sich das Leben, als er die Tote findet und den Grund ihres Todes erfährt. Der Herzog erdolcht im Zorn seine Frau und geht zur Buße als Tempelritter nach Palästina.

Die offenbar recht erfolgreiche Erzählung (18 mittelalterliche Handschriften sind erhalten), wurde immer wieder modernisiert, ins Italienische sowie ins Niederländische übertragen und zu englischen und deutschen Versionen verarbeitet.

1) Die geläufige Bezeichnung ist eigentlich unkorrekt, denn Putiphar ist der Name des Gatten der Frau, die sich in Joseph verliebt hat.

Rutebeuf (auch Rustebués genannt; Schaffenszeit ca. 1250–1285).

Er gilt heute als der erste bedeutende Pariser Autor in der franz. Literaturgeschichte. Über seine Biografie sind wir nur vage aus flüchtigen Angaben in seinen Werken informiert. Deren Entstehungsdaten müssen aus ihrem Inhalt und anderen Indizien erschlossen werden. Auch sein eigentlicher Name steht nicht fest. Er selbst erklärt „Rutebeuf“ als Beinamen, der seinen Hang zu den heftigen Attacken ausdrücke, die ihn als „rude beuf“ (rüder Ochse) erscheinen ließen.

Offenbar war Rutebeuf zum Studium, wohl aus der Champagne, nach Paris gekommen, das unter den lange und erfolgreich regierenden Königen Philippe "Auguste" (1180-1223) und Louis IX (1226–1270) zum unbestrittenen Macht- und Kulturzentrum Frankreichs aufgerückt war. Er hatte jedoch, wie er angibt, durch eigene Schuld, nämlich Trunk- und Spielsucht, keinen festen Platz in der Gesellschaft gefunden. Vielmehr führte er, zunehmend pessimistisch und verbittert und ständig über seine Armut klagend, eine unsichere Existenz als Auftragsdichter wechselnder Gönner, als Unterhalter mit Text- und Gesangsdarbietungen in den Häusern reicher Leute und wohl vor allem als Spielmann auf Volksfesten.

Als Autor war er sehr vielseitig und betätigte sich in vielen Genres, mit Ausnahme der höfischen Lyrik und des höfischen Romans. Er verfasste Gesellschaftssatiren (z.B. La Bataille des vices contre la vertu), ein Mirakelspiel (Le Miracle de Théophile), Heiligenviten (z.B. Vie de Sainte Marie l’Égyptienne), Fabliaux (=Schwänke), eine satirische allegorische Fuchs-Dichtung (Renart le bétourné), persönliche Lyrik, die meist sein Unglück thematisiert (z.B. Le Mariage de Rutebeuf oder La Complainte de Rutebeuf), aber auch gereimte Kreuzzugspropaganda, die die Lethargie der Christen und ihrer Führung anprangert. Ein nicht unerheblicher Teil seiner Gedichte, z.B. der Renart, diente ganz oder nebenher der Polemik gegen die jungen Bettelmönchsorden, die die Volksbelustigungen bekämpften, von denen er und seine Schausteller- und Spielmannskollegen lebten. Allerdings polemisiert er auf einer eher politischen Ebene, indem er den Einfluss der Mönche auf den König und andere Mächtige geißelt und die Heuchelei anprangert, mit der sie, wie er glaubt, ihren Machthunger und ihre Gier kaschieren. Zugleich versuchte er mit seiner Polemik die Pariser Universität, der er sich verbunden fühlte, in ihrem Abwehrkampf gegen die Orden zu unterstützen, die an ihren Privilegien teilzuhaben trachteten.

Rutebeuf, der sich nicht zu Unrecht unter Wert gehandelt fühlte, ist eine relativ isolierte, unkonventionell wirkende Stimme in der Literatur seiner Zeit. Er wird von anderen Autoren kaum erwähnt oder zitiert und hat auch keine Schule gemacht. Der 200 Jahre jüngere François Villon, mit dem er gern verglichen wird, hat vermutlich nichts von ihm gewusst.

(Stand.: Sept.. 07)

P.S.: Nachdem Paris aufgrund seiner günstigen Lage am Zusammenstrom von vier Flüssen, auf denen sich Lebensmittel heranschaffen ließen, früh zur festen Residenz des Königshofes geworden war, entwickelte es sich im 13. Jh. nicht nur zur eindeutig größten Stadt im Königreich, sondern wurde, nicht zuletzt dank der Universität, auch zum intellektuellen und kulturellen Zentrum, das alle bisherigen anderen Zentren zweitrangig werden ließ. Hieraus erklärt sich auch der im 13. Jh. einsetzende Siegeszug des Dialekts der Île de France, des Franzischen, das allmählich zur Standardsprache wurde und die bisher mit ihm als Literatursprachen rivalisierenden Dialekte bzw. Sprachen verdrängte, d.h. das Anglonormannische (das ohnehin langsam mit dem Angelsächsischen zum Englischen verschmolz), das Normannische, das Champagnische, das Pikardische sowie das Okzitanische Südfrankreichs.

Brunetto Latini bzw. Brunet Latin (ca. 1230–1294)

Der Name dieses ersten Italieners in der franz. Literaturgeschichte verbindet sich mit dem nach 1260 begonnenen Livre du trésor (=das Buch vom Schatz), einem Kompendium des geographisch-naturkundlichen, philosophisch-moralischen und biblisch-althistorischen Wissens der Zeit und zugleich der Politik und Rhetorik.

Das Werk entstand in Paris während einer Verbannung des hochgebildeten Frühhumanisten Brunetto aus seiner von inneren Machtkämpfen zerrissenen Heimatstadt Florenz. Es war gedacht als Lehrbuch und Nachschlagewerk für ein breiteres, d.h. nichtklerikales, vor allem städtisch-patrizisches Publikum.

Der in nüchterner franz. Prosa geschriebene Trésor, für den es damals nur lateinisch verfasste Vorbilder gab, wurde seinerseits Vorbild für zahlreiche ähnliche in den Volkssprachen verfasste Werke in Frankreich und anderswo in Europa. Die Tatsache, dass Brunetto französisch schrieb, um (wie er selbst vermerkt) möglichst viele Leser zu erreichen, bezeugt die Bedeutung, die das Französische inzwischen als europäische Lingua franca gewonnen hatte, d.h. als Verkehrssprache, die vielerorts, bis in den Vorderen Orient hinein, verstanden und benutzt wurde.

Brunetto kehrte übrigens 1267, nachdem seine Partei in Florenz wieder an die Macht gekommen war, dorthin zurück und gelangte in höchste Ämter dieses seinerzeit reichen und mächtigen, als Republik verfassten Stadtstaates. Dante bezeichnet ihn in seiner Divina commedia (I, 15) als seinen Lehrer, versetzt ihn allerdings zu den Sodomiten in die Hölle.

(Stand: Febr. 05)

Adam de la Halle (ca. 1235 – ca. 1285).

Adam, der auch „le Bossu“ (der Bucklige) genannt wurde, ist heute vor allem bekannt als der Autor von Le Jeu de la feuillée (1276/77), dem ersten satirischen Theaterstück der franz. Literatur. Hierin bringt er sich selbst, seinen Vater, seine Frau, Verrückte und Feen sowie diverse reiche Patrizier seiner Heimatstadt Arras auf die Bühne und karikiert sich und sie überwiegend boshaft in einer Serie von Szenen, die wie bissige Rundumschläge aus einer Lebenskrise heraus erscheinen (von der er sich offenbar gern durch einen Wechsel ins intellektuell lebendigere Paris befreit hätte).

Ca. 1284 (Adam stand inzwischen im Dienst des Grafen Robert von Artois) verfasste er in Neapel ein weiteres Stück, das Singspiel Le Jeu de Robin et de Marion. Dieses sollte zur Unterhaltung des franz. Heeres beitragen, mit dem Robert 1283 nach Neapel gezogen war, um dem jüngeren franz. Königssohn Charles d'Anjou (der seit 1266 König von Neapel-Sizilien war) zu helfen, das seit 1282 aufständische Sizilien zurückzuerobern.1) Die Handlung des Jeu de Robin et de Marion spielt in einer halb realistischen, halb konventionell-arkadischen Hirtenwelt und rankt sich um das traditionelle Pastorellen-Motiv, d.h. die Begegnung in freier Natur zwischen einem liebeshungrigen Ritter und einer jungen Schäferin (wobei im vorliegenden Fall Marion ihrem Robin treu bleibt und den Ritter abblitzen lässt – ähnlich wie es oft auch in den zahlreichen anderen, meist in Gedichtform verfassten "Pastourelles" geschieht).

Adam war in seinen jüngeren Jahren auch als Lyriker (und Komponist seiner Texte) nicht unbedeutend. Die reiche Tuchmetropole Arras verfügte zu dieser Zeit durchaus über ein eigenständiges geistiges Leben, z.B. mit regelmäßigen Wettdicht- und Wettsingveranstaltungen („puis“), in denen er sich profilieren konnte.

1) Frankreich war im 13. Jh. dank einer Serie tüchtiger Könige von Philippe II „Auguste“ (1180-1223) bis zu Philippe IV „le Bel“ (1285–1314) die politisch stärkste Macht in Europa! Die Wiedereingliederung Siziliens in das Königreich Neapel allerdings gelang für dieses Mal nicht.

Marco Polo (ca. 1254–1324).

Dieser venezianische Patrizier, Kaufmann und Reisende ist in die franz. Literaturgeschichte eingegangen mit Le Livre des merveilles du monde (1298), dem ersten weitgehend realistischen Bericht über die in Westeuropa bis dahin praktisch unbekannten Länder und Völker in Fernost.

Im Mittelpunkt steht China, wo Polo sich zunächst als noch jugendlicher Begleiter seines Vaters und seines Onkels, dann als Günstling des Großkhans (=Kaisers) 17 Jahre lang (1275–1292) aufgehalten hatte, während derer er viel in dem Riesenreich selbst herumkam, aber auch Indien und Burma bereiste. Ebenfalls beschrieben werden der Hinweg über die berühmte Seidenstraße und der Rückweg, der per Schiff bis Persien, über Land bis Konstantinopel und dann wieder per Schiff nach Venedig führte.

Das Buch entstand durch den Zufall, dass Polo bei einem Seegefecht zwischen Venezianern und Genuesen in genuesische Gefangenschaft geriet und von einem Mitgefangenen, dem auch als Autor anderer Werke bekannten Rustichello da Pisa, gedrängt wurde, ihm den Bericht seiner Reise zu diktieren, wobei die beiden als geeignetste Sprache das ihnen ausreichend vertraute Französische wählten (in das sie allerdings viele Italianismen mischten).

Der "Marco Polo" wurde in den nachfolgenden zwei Jahrhunderten sehr viel gelesen, denn mehr als 80 Handschriften, auch von Übersetzungen in andere Sprachen, sind erhalten. Darüberhinaus wurde er von Gelehrten aller Art ausgewertet, vor allem Geographen, die seine sehr exakt wirkenden Entfernungsangaben für ihre Karten übernahmen. Noch Kolumbus benutzte diese Angaben zur Errechnung der Länge einer Seefahrt quasi hinten herum nach Indien (wobei er aber viel zu optimistisch kalkulierte und verhungert und verdurstet wäre, hätte er nicht Amerika, genauer: eine karibische Insel gefunden).

Jean de Joinville (* 1224 oder 1225; † 24.12.1317)

Er ist vor allem bekannt als Verfasser einer Darstellung von König Louis IX des Heiligen (1214-70), die als erste franz.sprachige Biographie in einem modernen Sinne gilt.

Joinville gehörte einer Familie an, die nicht zuletzt durch reiche Heiraten in den Hochadel aufgestiegen war und in der das (Richter-)Amt eines Sénéchal de Champagne erblich war. Im Alter von ca. acht Jahren verlor er seinen Vater, wonach er von seiner Mutter erzogen wurde, die aus der Familie der Grafen der Bourgogne stammte.

1241 ist Joinville ein erstes Mal in seinem Rang als Sénéchal nachweisbar, und zwar bei einem königlichen Hoftag in Saumur. Anschließend unternahm er eine Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. Nach seiner Rückkehr heiratete er.

1245 oder 46 nahm er erstmals als Ritter an Kampfhandlungen teil anlässlich der Fehde eines Onkels, des Grafen von Chalon.

Ostern 1248, inzwischen war er Vater zweier Kinder, darunter eines Sohnes, nahm er das Kreuz, wie es schon mehrere Vorfahren von ihm getan hatten, und schloss sich mit zehn von ihm besoldeten Rittern dem Sechsten Kreuzzug an, zu dem Louis IX von Marseille aus aufbrach. Während der längeren Zwischenstation auf Zypern trat er, nicht zuletzt wohl aus finanziellen Gründen, in das königliche Gefolge ein.

Bei der Landung des Kreuzfahrerheeres im Nil-Delta Anfang 1249 und der Einnahme der dortigen Hafenstadt Damiette zeichnete Joinville sich aus. Wenig später nahm er an der desaströsen Belagerung von al-Mansura teil, an welcher der Kreuzzug scheiterte. Auf dem Rückzug nach Damiette geriet er im Februar zusammen mit König Louis in Gefangenschaft. Gegen Zahlung eines hohen Lösegeldes wurde er im Mai freigelassen, gemeinsam mit Louis, mit dem er sich nach Akkon in Palästina einschiffte. In dieser Hafenfestung, die noch von Kreuzfahrern gehalten wurde, blieb er vier Jahre lang mit ihm zusammen und begleitete ihn 1254 zurück nach Frankreich. In diesen Jahren täglichen Umgangs mit seinem König wurde er zu dessen engen Vertrauten, was er in der Folgezeit als Mitglied des Kronrates blieb.

1267 (inzwischen hatte er sich in zweiter Ehe verheiratet und war vor kurzem wieder Vater geworden) wurde Joinville von Louis gedrängt, an einem neuerlichen Kreuzzug (dem siebten) teilzunehmen, der nach Tunis führen sollte. Er lehnte jedoch ab, weil er sich den Seinen verpflichtet fühlte und überdies das Vorhaben für unrealistisch hielt – zu Recht, denn Louis kam 1270 vor Tunis ums Leben, ohne Erfolge erzielt zu haben.

1282 gehörte Joinville zu den Zeugen im Kanonisierungsverfahren, das für Louis eröffnet worden war und 1290 mit dessen Heiligsprechung endete. Der Wortlaut seiner Aussage ist erhalten.

Da er schon während seines Aufenthalts in Palästina einen Kommentar des Credo verfasst hatte (der ihn als guten Bibelkenner ausweist), begann er 1305 auf Bitten der Königin das Livre des saintes paroles et des bons faits de nostre saint roi Louis (=Das Buch von den heiligen Worten und guten Taten unseres heiligen Königs Ludwig), das er 1309 fertigstellte und dem amtierenden König Philippe le Bel widmete, einem Enkel von Louis IX.

Das Werk sollte der Belehrung und Erbauung des Kronprinzen (des späteren Louis X, *1289) dienen, doch verfolgte es daneben naturgemäß auch politische Ziele, nämlich die Stärkung der Dynastie durch die Präsentation eines mustergültigen Herrschers aus ihren Reihen. Joinville bringt sich aber auch selbst zur Geltung, denn er erzählt als erster Chronist der franz. Literatur in der 1. Person. Der Form nach ist sein Werk ein sehr persönlich wirkender, lebendiger Bericht seiner vielen Begegnungen mit Louis und mischt insofern Gattungsmerkmale von Biografie, Autobiografie, Chronik und Reisebericht, aber auch der meist lateinischen Exempla-Literatur der Zeit.

Joinville nahm noch als Hochbetagter an mehreren Kriegszügen teil und starb im für mittelalterliche Verhältnisse sehr hohen Alter von gut 90 Jahren auf seinen Besitzungen in der Champage.

Sein Image eines ersten Biografen im modernen Sinn resultiert daraus, dass er bestrebt ist, die dargestellte Person trotz aller Sympathie möglichst objektiv darzustellen, d.h. in den unterschiedlichsten, sowohl alltäglichen wie offiziellen Situationen, und ihn weniger apologetisch als Heiligen zu verherrlichen denn als guten Christen und König zu zeigen, der durchaus auch diese oder jene Schwäche aufweist.

Das Werk Joinvilles fand zu seiner Zeit offenbar keine weite Verbreitung, denn nur wenige Manuskripte sind erhalten. Auch hat es, vielleicht aufgrund seiner unkonventionellen Form, nicht als Vorbild gewirkt. Immerhin wurde es 1547 gedruckt unter dem knappen Titel Vie de Saint Louis. Erst im 19. Jh. wurde es von (Literar-)Historikern stärker beachtet. Eine deutsche Übersetzung (Th. Nissle) erschien 1854.

(Stand: Jan. 09)

Ovide moralisé (1291–1328).

Unter diesem Kurztitel figuriert in den Literaturgeschichten eine mit ihren 72.000 paarweise reimenden Achtsilblern enorm lange Nachdichtung der Metamorphosen des klassisch lateinischen Autors Ovid. Der unbekannte Verfasser dichtet den Originaltext allerdings sehr frei nach und erweitert ihn durch umfangreiche Einschübe, in denen er die ovidischen Verwandlungsgeschichten (die meist der griechischen Mythologie entstammen) in einem typisch mittelalterlichen Verfahren rationalisierend („euhemeristisch“) erklärt und theologisch-moralisierend kommentiert.

Der Ovide moralisé ist eines der vielen Zeugnisse für die große Beliebtheit Ovids im Hochmittelalter, wobei dessen Texte allerdings vorzugsweise in ganz verschiedenartig nachgedichteten und bearbeiteten Fassungen gelesen wurden. Das Werk ist zugleich Ausdruck für das auch in Frankreich um diese Zeit stark zunehmende generelle Interesse an der Literatur der römischen Antike, ein Interesse, das gefördert wurde durch die Verlegung des päpstlichen Hofes von Rom nach Avignon (1309), die zusätzliche Kontakte gebildeter Franzosen mit der Kultur Italiens und dem dort beginnenden Früh-Humanismus mit sich brachte.

P.S.: Diese Verlegung hatte der schwache franz. Papst Clemens V. vorgenommen, der 1305 unter dem Druck des franz. Königs Philippe le Bel gewählt worden war. Sie wurde erst 1377 rückgängig gemacht und ging als die "babylonische Gefangenschaft der Kirche" in die Geschichte ein. Naturgemäß schwächte das Residieren fern von Rom die Autorität und auch die Macht der Päpste, denn diese waren ja nicht nur geistliches Oberhaupt der kath. Kirche, sondern auch weltlicher Herrscher im Kirchenstaat, dessen Fläche damals ca. ein Fünftel des heutigen Italiens umfasste.

Guillaume de Machaut (ca. 1300 – 1377).

Er war einer der großen Autoren, aber auch Komponisten seines Jahrhunderts. (In Nachschlagewerken wird er häufig unter "G", d.h. seinem Vornamen, geführt.)

Er wurde geboren wahrscheinlich in Machault, einem Dorf in den Ardennen, als Sohn einer nichtadeligen Familie, die aber sichtlich wohlhabend genug war, um ihm eine gute Bildung zu ermöglichen. Nach Studien an der Domschule von Reims trat er ca. 1323 in die Dienste Herzog Johanns von Luxemburg (1296-1346), eines Sohnes Kaiser Heinrichs II. Zum Sekretär Johanns befördert, der zugleich König von Böhmen, Mähren und Schlesien war, begleitete er diesen auf seinen vielen Reisen durch seine Territorien und auf zahlreichen Kriegszügen. Dank ihm erhielt er 1337, obwohl nie zum Priester geweiht, eine einträgliche Domherrenpfründe im Domkapitel von Reims, wo er ab 1340 auch überwiegend lebte, nachdem Johann erblindet war und weniger umherzog.

Als 1346 Johann in der englisch-franz. Schlacht von Crécy umkam (auf Seiten des Verlierers, König Philippe VI von Frankreich), trat Machaut in die Dienste Guthas (alias Bonne) von Luxemburg, der Tochter Johanns und Schwiegertochter Philippes. Nach Guthas baldigem Tod (1349) war Machaut als Dichter renommiert genug, um keinen festen Dienstherrn mehr zu benötigen. Vielmehr schloss er sich wechselnden fürstlichen Mäzenen an, z.B. dem Dauphin (Kronprinz) und späteren König Charles V (1364–1380) oder dessen kunstliebendem Bruder Herzog Jean de Berry († 1416), an deren Höfen er gastierte und denen er – natürlich gegen Entgelt – seine Werke widmete.

Machaut war Verfasser von längeren, meist allegorischen Versdichtungen verschiedener Gattungen sowie von kürzeren Verserzählungen und -romanen, die in der Regel die Ich-Form benutzen und viele autobiografische Elemente enthalten. Er versuchte sich aber auch in der Gattung Vers-Chronik mit La Prise d'Alexandrie, einem Bericht von der (vorübergehenden) Eroberung Alexandrias 1365, den er 1370-1371 zu Ehren des 1369 ermordeten Eroberers Pierre de Lusignan, Königs von Zypern, verfasste. Vor allem aber war Machaut ein sehr produktiver, seine Kunst reflektierender Lyriker, von dem 234 Balladen, 76 Rondeaus und rd. 100 andere Gedichte erhalten sind. Hauptgegenstand dieser Lyrik, die formal und thematisch überwiegend im Gefolge der höfischen Dichtkunst steht, ist die Liebe oder genauer "das Lob der Damen".

Machaut war übrigens einer der letzten, der viele seiner Gedichte vertont hat, und er gilt auch in der Musikgeschichte als Figur von epochaler Bedeutung.

Von Interesse ist er darüber hinaus als Autor des wohl ersten autobiografischen Liebesromans der franz. Literatur, Le voir dit (=die wahre Dichtung), einer 1362 verfassten Liebesgeschichte um die junge Péronne d'Armentières und den schon ältlichen Dichter, der darin zugleich die Entstehung seines Werkes thematisiert.

Von seinen Zeitgenossen wurde Machaut als ein Meister seiner Kunst verehrt. Sein Einfluss auf die nächsten Lyrikergenerationen, insbes. auf Jean Froissart, Eustache Deschamps und Christine de Pizan war groß. Seine Existenz als eines Autors, der vor allem für Höfe und fürstliche Mäzene tätig war, wird für die Autoren des 14. und 15. Jh. typisch werden.

P.S.: Die im vorangehenden 13. Jh. so bedeutende kulturtragende Funktion der reichen Stadtbürgerschaft (des Patriziats), war im 14./15. Jh. stark gemindert dadurch, dass die Städte verarmt waren aufgrund eines ganz Europa betreffenden enormen Rückgangs der Bevölkerungszahl und damit der Wirtschaftskraft. Ursache hierfür waren zunächst Serien von Missernten und Hungersnöten, die ausgelöst wurden von einer starken Klimaverschlechterung nach 1300, und dann die Große Pest von 1348–50, bei der weit mehr als die Hälfte aller Europäer starben, und zwar vor allem in den Städten aufgrund der dort größeren Ansteckungsgefahr. In Frankreich kamen ab 1337 verschlimmernd die Auswirkungen der ersten Phasen des Hundertjährigen Krieges zwischen der englischen und der franz. Krone hinzu.

Jean Froissart (* ca. 1337 in Valenciennes, † ca. 1410, wahrscheinlich in Chimay/Belgien).

Er ist von besonderem Interesse als Autor der von 1370 bis 1400 verfassten Chroniques, des wohl ersten franz.sprachigen historiografischen Werks, das Ereignisse der jüngeren und jüngsten Vergangenheit nicht, wie bis dahin üblich, aus der rückblickenden Perspektive eines selbst daran Beteiligten berichtet, sondern sie auf der Grundlage schriftlicher Quellen sowie der Befragung von Teilnehmern und Augenzeugen darstellt.

Froissart wuchs auf im (heute belgischen) Hainaut (Hennegau). Nach einer Ausbildung als Kleriker ging er 1361 nach London an den englischen Hof, da er Anschluss an Philippine de Hainaut, die Gemahlin von König Edward III, gefunden hatte. Seine literarische Laufbahn begann er als höfischer Lyriker und Verfasser längerer, oft allegorischer Versdichtungen im Stile Guillaumes de Machaut. Schon in London jedoch, wo er viele Teilnehmer am Hundertjährigen Krieg zwischen den Kronen Englands und Frankreichs kennenlernte und von wo aus er bald auch zahlreiche Reisen für Recherchen und die Befragung von Zeitzeugen unternahm, begann er sich als Chronist der jüngsten Vergangenheit zu betätigen. Eine erste Chronik, die die Kriegstaten der Engländer feierte und Philippine gewidmet war, ist jedoch nicht erhalten.

1368 begleitete er einen Sohn Philippines zur Verheiratung nach Mailand und erfuhr auf der Rückreise 1369, dass seine Gönnerin gestorben war. Er ließ sich nun im heimatlichen Hainaut nieder und widmete sich seinen Chroniques, nachdem er neue Mäzene gefunden hatte. Dies waren z.B. Robert de Namur und Guy de Châtillon, Comte de Blois, der ihm 1373 die Pfarrei von Estinnes-au-Mont als Absicherung besorgte und ihm 1388 für den Spanien-Teil seiner Chronik eine Reise an den Hof des Grafen von Foix-Béarn nahe der spanischen Grenze finanzierte. Vor allem aber erhielt Froissart die Unterstütztung Wenzels von Luxemburg, Herzogs von Brabant, zu dem er auch ein engeres persönliches Verhältnis entwickelte.

Zentraler Gegenstand der sehr umfangreichen Chroniques de France, d'Angleterre, d'Escoce, d'Espaigne, de Bretaigne, de Gascogne, de Flandres et lieux circonvoisins ist das Hin und Her des von 1337 bis 1458 immer wieder aufflammenden Hundertjährigen Krieges. Hierbei sympathisiert Froissart anfangs eher mit den Engländern, erst später macht er sich zumindest ansatzweise auch die Leiden des Volkes in Frankreich bewusst sowie die Tatsache, dass die englischen Feldzüge auf franz. Boden Raubzüge waren. Insgesamt aber sieht er den Krieg mehr als Ausfluss persönlicher Ruhmbegierden von Fürsten und Herren sowie als Abfolge eindrucksvoller Ritterkämpfe und Schlachten denn als einen blutigen Konflikt, in dem englische Könige und Heerführer die Schwäche ausnutzten, in die Frankreich nach 1314 durch eine Serie rascher Thronwechsel verfiel und die es ihnen ermöglichte, immer wieder große Teile des Landes unter ihre Herrschaft zu bringen.

Neben der Arbeit an den nach und nach auf vier umfangreiche Teile anwachsenden Chroniques schrieb Froissart auch noch andere Werke. So beendete er 1383 den Meliador, einen der letzten franz. Ritterromane in Versform, in den er auch Gedichte des im selben Jahr verstorbenen Herzogs Wenzel einstreute.

Nachdem er sich mit Guy de Châtillon überworfen hatte, fand er in seinen späten Jahren einen Gönner in Philippe le Hardi (Philipp der Kühne, †1404), Herzog von Burgund. Auf einer seiner immer noch fortgesetzten Informationsreisen besuchte er 1395 auch London, verließ es aber bald enttäuscht. Er beendete sein Leben als Stiftsherr in Chimay.

Die Chroniques erfuhren im 15. Jh. eine so beachtliche Verbreitung, das sich mehr als 100, z.T. reich illustrierte Manuskripte erhalten haben.

(Stand: Juli 05)

Eustache Deschamps (auch Eustache Morel genannt, ca. 1345–1404).

Er war der bedeutendste franz. Lyriker der zweiten Hälfte des 14. Jh. und war vielleicht ein Neffe von Guillaume de Machaut, jedenfalls aber eine Zeitlang sein Zögling an der Domschule von Reims.

Nach Jurastudien an der Universität Orléans erlangte Deschamps dank seiner Talente als Dichter und als Unterhalter 1368 die Protektion von König Charles V und nach dessen Tod (1380) die von Charles VI sowie vor allem von dessen kunstliebendem und ehrgeizigem jüngeren Bruder Herzog Louis d'Orléans, zu dessen Gefolge er ab 1390 zählte. Von seinen Gönnern erhielt er mehrere kleinere königliche Ämter zugewiesen, von denen er samt seinen Kindern (seine Frau war 1376 jung nach der Geburt des dritten gestorben) passabel leben konnte, obwohl er häufig klagte. 1389 wurde er zum seigneur de Barbonval erhoben und somit geadelt. Er hielt sich meist in Paris am Hof auf, war aber auch viel mit seinen Fürsten und für sie unterwegs. So war er 1384/85 Mitglied einer diplomatischen Mission nach Ungarn und Kroatien, 1397 reiste er als Botschafter von Louis d'Orléans nach Mähren. Um 1400 zog er sich mehr und mehr zurück, gesundheitlich angeschlagen und unzufrieden mit dem Machtgerangel am Hof, wo verschiedene Klüngel, nicht zuletzt der von Louis, den intermittierend geistesgestörten König zu manipulieren versuchten.

Deschamps war mit etwa 1500 erhaltenen Gedichten in allen damals gängigen Genera, darunter vor allem gut 1100 Balladen und an die 200 Rondeaus über vielerlei Sujets, einer der produktivsten und thematisch, formal und stilistisch innovativsten Lyriker des franz. Mittelalters. Sein Einfluss auf die Autoren neben ihm (z.B. auch auf Geoffrey Chaucer) und nach ihm war groß und reicht bis weit ins 15. Jh. hinein, z.B. bis zu Villon.

Während seine dem Thema Liebe gewidmeten Gedichte meist eher konventionell bleiben, wirken seine moralisch-gesellschaftlichen Problemen, z.B. denen des Hoflebens, gewidmeten Texte (meist Balladen) sehr persönlich. Bei den Zeitgenossen hoch angesehen waren auch seine philosophischen, didaktischen und satirischen Balladen.

Ein zentrales Thema Deschamps’ ist der Niedergang Frankreichs durch den nach Charles’ V Tod wieder aufflammenden Hundertjährigen Krieg. In einer Ballade bejammert er z.B., wie (1380) auch sein eigener Landsitz nahe seinem Geburtsort Vertus von englischer Soldateska geplündert und abgebrannt wurde. In der Fragment gebliebenen allegorischen Versdichtung La Fiction du lion, wo er Frankreich als Löwen und England als Leoparden darstellt, beklagt er das Versagen des Nachfolgers von Charles V, der es nicht schaffte, den „Leoparden“ in die Schranken zu weisen. Ein anderes politisches Thema, nämlich das Große Schisma in der Katholischen Kirche, behandelt Deschamps in La Complainte de l'Eglise desolee (1393).

In seinen letzten Jahren arbeitete er an der unvollendet geblieben satirischen Versdichtung Le Miroir du mariage, wo er die Vor- und Nachteile (meist eher diese) der Ehe diskutiert.

Deschamps ist darüber hinaus interessant als Autor der ersten in franz. Sprache verfassten Poetik (Dichtungslehre), L'Art de dicter et de faire chansons (1392), einer Zusammenstellung von Regeln und Rezepten zum Verfassen metrisch gebundener Texte, wobei es ihm mehr auf die „musique naturelle“ der Sprache als auf die „musique artificielle“ der Melodie ankommt (denn er war einer der ersten, die auf eine Vertonung und musikalische Begleitung ihrer lyrischen Texte weitgehend verzichten).

(Stand: Jan. 05)

P.S.: Der mit vielen Pausen insgesamt von 1337 bis 1453 dauernde Krieg zwischen den Kronen Englands und Frankreichs spielte sich ausschließlich auf franz. Boden ab und bestand weitgehend aus den sommerlichen Beutezügen englischer Heere. Seine größeren und kleineren Schlachten gingen häufig zugunsten der Engländer aus, weil deren Truppen zwar zahlenmäßig meistens unterlegen, aber technisch dank ihrer Bogenschützen und taktisch dank ihrer größeren Disziplin überlegen waren sowie insgesamt über mehr Kampferfahrung verfügten.

Christine de Pizan bzw. de Pisan (1365 – ca. 1430).

In ihren fast 40 Schaffensjahren war Christine die mit Abstand produktivste aller Literaten ihrer Generation. Sie gilt als die erste Autorin der franz. Literatur, die (samt ihrer Familie) mehr oder weniger von ihrer Feder zu leben geschafft hat. Nachdem sie von einer lange Zeit männlich dominierten Literaturgeschichtsschreibung eher vernachlässigt worden war, wird sie heute relativ hoch geschätzt und von Literatur- und Sozialwissenschaftlerinnen als eine Feministin avant la lettre betrachtet.

Geboren in Venedig als Tochter des Astrologen und Arztes Tommaso da Pizzano, kam sie als Mädchen nach Paris, nachdem ihr Vater Leibarzt von König Charles V geworden war. Sie erhielt eine gute Bildung (die sie später durch die fleißige Lektüre antiker und zeitgenössischer Autoren erweiterte) und wurde fünfzehnjährig mit dem 10 Jahre älteren kleinadeligen königlichen Notar und Sekretär Étienne du Castel verheiratet, mit dem sie rasch hintereinander drei Kinder bekam.

Nach dem Tod ihres Gatten während einer Epidemie (1389) und ihrer Verarmung durch Erbschaftsprozesse begann sie zu schreiben. Dank ihrer einstigen Nähe zum Hof gewann sie dort Mäzene und entwickelte das System, von ihren Werken nach deren Fertigstellung Prachthandschriften anfertigen zu lassen, die sie in der Erwartung eines fürstlichen Entgelts Mitgliedern der königlichen Familie überreichte, vor allem der Königin Isabeau de Bavière und den Herzögen Louis d'Orléans, Jean de Berry und Philippe de Bourgogne.

Christine begann als Lyrikerin unter dem Einfluss von Eustache Deschamps (s.o.), wobei sie z.B. in sehr persönlich wirkender Weise den Verlust des geliebten Gatten beklagt (Ballades du veuvage, Cent ballades d'amant et de dame).

Sie schrieb dann mehr lehrhaft-philosophische Werke, u.a. ein Lehrbuch für angehende Fürsten (L'Épître d'Othéa, 1400), Betrachtungen über das Wirken Fortunas in ihrem eigenen Leben und in der antiken Geschichte (La Mutation de Fortune, 1403), und schließlich politisch motivierte Werke, worin sie auf die vielen Kriege und Bürgerkriege im Frankreich des geistesgestörten Königs Charles VI (1380–1422) reagierte, hinter dem ständig verschiedene Personen und Parteien um die Macht im Staate kämpften und dabei immer wieder auch England in ihre Streitereien hineinzogen (z.B. Le Livre des faits d'armes et de chevalerie, 1410; Le Livre de paix, 1412; Lamentations sur les maux de la guerre, 1420).

Ebenfalls politisch intendiert war eine apologetische Biografie (1405) des Protektors ihres Vaters und großen Königs Charles V (1364–1380), der mit Hilfe seines tüchtigen Feldherrn Du Guesclin die Engländer fast aus Frankreich hinausgedrängt und das Land vorübergehend befriedet hatte.

1399, und damit beginnt der „feministische“ Teil ihres Schaffens, kritisierte sie die Misogynie der Männer ihres gesellschaftlichen Umfeldes, insbesondere die des Autors Jean de Meung im Rosenroman. Sie entfesselte damit die sog. Querelle du Roman de la Rose, den ersten Pariser Literatenstreit in der Geschichte der franz. Literatur, in den sie selbst mit ihrer Épître au dieu d'amours (ebenfalls 1399) eingriff. 1400 verfasste sie Le Dit de la rose, der die fiktive Gründung eines die Frauen beschützenden „Rosenordens“ beschreibt. Von 1404 datiert ein Traktat zur richtigen Erziehung der Mädchen, Le Livre des trois vertus. 1405 stellte sie ihr aus heutiger Sicht interessantestes Werk fertig, Le Livre de la Cité des dames, in dem sie an Protagonistinnen aus der biblischen und der antiken Geschichte die Fähigkeiten bedeutender Frauen vorführt und den utopischen Entwurf einer Gesellschaft entwickelt, die den Frauen gleiche Rechte gewährt.

1418, während einer der heißesten Phasen des Hundertjährigen Krieges, zog sie sich zu ihrer Tochter in ein Kloster unweit von Paris zurück.

Hier wurde sie 1429 noch Zeugin der Heldentaten von Jeanne d'Arc, der „Jungfrau von Orléans“, der sie nach schon längerem Schweigen einen Lobpreis widmete (Dictié en l'honneur de la Pucelle, 1429). Danach ist nichts mehr bekannt von ihr.

(Stand: Febr. 07)

Journal d'un bourgeois de Paris (1405–1449). Es ist das älteste erhaltene Tagebuch in franz. Sprache und berichtet aus der Perspektive eines namentlich unbekannten Pariser Klerikers vom Alltagsleben in einer schwierigen Zeit, die in und um Paris geprägt war durch fast pausenlose Kriege bzw. Bürgerkriege, Anarchie, Seuchen, Hunger und Not. Das Journal ist naturgemäß weniger als literarischer Text denn als Informationsquelle für Historiker interessant.

Alain Chartier (ca. 1385–1433)

Er ist als Lyriker und Erzähler mit Abstand der bedeutendste franz. Autor der Zeit um 1425 und galt als solcher auch schon bei den Zeitgenossen.

Chartier (der in Literaturgeschichten und Lexika häufig unter „Alain“ figuriert) stammte aus einer bürgerlichen Familie der normannischen Bischofstadt Bayeux. Wie sein ältester Bruder Guillaume, der später Bischof von Paris wurde, und sein älterer Bruder Thomas, der königlicher Notar wurde, studierte er in Paris. Spätestens um 1415 stand auch er in Beziehung zum Hof als Sekretär des Dauphins, des späteren Königs Charles VII. Diesem diente er praktisch sein ganzes Leben lang und reiste für ihn des öfteren als kompetenter Begleiter ranghöherer, aber weniger kompetenter Botschafter bzw. Unterhändler zu europäischen Fürsten. Zum Dank bekam er von Charles mehrere einträgliche Domherrenpfründen (die kumulierbar waren) verschafft. Er starb auf einer diplomatischen Reise in Avignon. Seine Existenz war überschattet von der schlimmsten Phase des Hundertjährigen Krieges zwischen den Kronen Englands und Frankreichs sowie dem darin eingebetteten innerfranzösischen Bürgerkrieg zwischen Bourguignons und Armagnacs.

Chartier begann als Lyriker im Stil der höfischen Lyrik der Zeit und betätigte sich sein ganzes Leben hindurch in praktisch allen ihren Gattungen (Balladen, Rondeaus, Virelais usw.). Der Grundton der meisten seiner Gedichte ist melancholisch.

Sein erstes längeres Werk war die Verserzählung Le Livre des quatre dames, die er 1416 in Paris verfasste, unter dem Schock der Niederlage eines weit überlegenen franz. Ritterheeres gegen die diszipliniert kämpfenden englischen Bogenschützen bei Azincourt (1415). Hierin berichtet ein Ich-Erzähler von vier Damen, die ihn zu entscheiden bitten, wer die Unglücklichste von ihnen sei: diejenige, deren Freund in der Schlacht gefallen ist, die, deren Freund seitdem vermisst wird, die, deren Freund dort in Gefangenschaft geraten ist, oder schließlich die, deren Freund sich durch feige Flucht gerettet hat.

1418 floh Chartier mit dem Dauphin Charles und dessen Gefolge vor den „Bourguignons“ aus Paris nach Bourges.

Hier schrieb er 1422 das Quadrilogue invectif, ein Vierergespräch zwischen den allegorischen Figuren le Clergé (=der kath. Klerus), la Chevalerie (=der Adel), le Peuple (=das Volk) und Dame France, wobei „Frau Frankreich“ den drei Anderen, d.h. den Franzosen insgesamt, ihre Uneinigkeit angesichts der wirren Verhältnisse in ihrem Land vorwirft. Dieses nämlich hatte 1420 beim Tod des geistesgestörten Charles VI zwei Könige bekommen: Über die Mitte und den Süden regierte von Bourges aus der Ex-Dauphin und Sohn von Charles VI, Charles VII. Im Norden und Westen dagegen herrschte von Paris aus und mit Hilfe englischer Truppen dessen Neffe, der kleine Henry VI., Sohn einer Tochter von Charles VI und des früh verstorbenen englischen Königs Henry V.

In die Literaturgeschichte eingegangen ist Chartier vor allem als Verfasser der Verserzählung La belle dame sans merci (=die gnadenlose schöne Dame), die er 1424 in Bourges verfasste, offenbar zur Zerstreuung des Hofes von Charles VII, der zu dieser Zeit kaum etwas tat, um seine Königsrechte durchzusetzen. Die 100 aus achtzeiligen Achtsilbern bestehenden Strophen („huitains“) enthalten eine kleine Rahmenhandlung um einen mit dem Autor identisch gedachten Ich-Erzähler, in die ein langer, angeblich von ihm belauschter Dialog zwischen einem Liebenden und seiner Dame eingebettet ist. Offensichtlich gelang Chartier mit diesen beiden Figuren eine epochemachende Gestaltung des Typs der spröden, sich verweigernden Frau, eben der „gnadenlosen Schönen“, sowie vor allem des schmachtenden Liebhabers, d.h. des abgewiesenen, sich aber nicht lösen könnenden und sich in seinem Unglück verzehrenden Liebenden, wobei dieser sich hier naiv auf die Ideale und Regeln der höfischen Liebe beruft, während jene ihnen ironisch-distanziert gegenübersteht. Die Belle dame sans merci war enorm erfolgreich und wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten unendlich oft von anderen Autoren zitiert, plagiiert, pastichiert und parodiert; noch um 1540 wurde sie von Marguerite de Navarre in ihren Erzählungen als bekannt vorausgesetzt.

Auf die wirre politische Situation in Frankreich reagierte Chartier einmal mehr 1426 mit dem Lai de Paix (=Friedensgedicht), in dem er die französischen Fürsten zum Frieden und zur Einigung aufruft.

1429 machte er sich mit einer Lettre sur Jeanne zur Fürsprecherin von Jeanne d'Arc, der „Jungfrau von Orléans“, die Charles VII soeben zu Hilfe gekommen war, indem sie ihn aufgerüttelt und ihm mit Siegen über die Truppen von Henry VI. die symbolisch wichtige Krönung in der Kathedrale von Reims ermöglicht hatte.

(Stand: Mai 07)

Antoine de la Sale (ca. 1385 – ca. 1460

Er figuriert in der franz. Literaturgeschichte als Autor eines der besten und interessantesten erzählenden Texte seiner Zeit, den manche sogar als ersten modernen Roman betrachten: Le petit Jehan de Saintré (1456).

La Sale entstammte einer kleinadeligen Familie der Provence und verbrachte sein Leben weitgehend im Dienst von Fürsten. So war er zunächst Page und dann Schildknappe (écuyer) bei Herzog Louis II von Anjou († 1417) und diente diesem um 1415 auch als Offizier. Später wurde er Gefolgsmann (als Sekretär?) von Louis’ Sohn, Herzog Louis III († 1434), den er auf vielen Reisen begleitete. 1429/30 bekleidete er einen höheren Militär- und Verwaltungsposten in Arles.

Um 1435 wurde er zum Erzieher von Jean de Calabre, des ältesten Sohnes von Herzog (ab 1434) René I von Anjou ernannt. Für seinen fürstlichen Zögling begann er allerlei erbauliche, lehrreiche und/oder unterhaltsame Geschichten zu schreiben, die er 1441 unter dem witzigen Titel La Salade zusammenfasste.

1438 begleitete er Herzog René nach Neapel, wo jener die ihm angetragene Königskrone in Besitz nahm.

1448 verließ La Sale den Dienst der Anjous und wechselte in den eines burgundischen Granden, Louis de Luxembourg, Graf von Saint-Pol, von dem er zum Erzieher seiner Söhne bestellt wurde. Auch für diese schrieb er didaktisch intendierte erzählende Texte, die er 1451 als La Sale betitelt zusammenfasste. Über seinen Dienstherrn Louis kam er in Kontakt mit dem prächtigen Hof des reichen und mächtigen Herzogs Philippe le Bon (Philipp der Gute) von Burgund.

1456 stellte er im abgeklärten Alter um die 70 sein Hauptwerk fertig, den nicht allzu langen historischen Roman Le petit Jehan de Saintré. Die Handlung spielt Mitte des 14. Jh. und schildert relativ realistisch (im Vergleich zu den oft märchenhaften konventionellen Ritterromanen der Zeit) und mit einer deutlichen ironischen Distanz des Erzählers den Werdegang eines zunächst eher armen jungen Adeligen, der zum angesehenen Ritter aufsteigt: Jehan kommt mit 13 als Knappe an den königlichen Hof und gefällt hier einer reichen jungen Witwe, die ihn protegiert, managt und sponsort. Nachdem er zum Ritter geschlagen ist und sich in Turnieren sowohl am franz. als auch an fremden Höfen bewährt hat, wird er von ihr schließlich auch in die Künste der Liebe eingeführt. Als er aus eigenem Entschluss zu einer längeren Fahrt an den fernen kaiserlichen Hof aufbricht, zieht sich die Dame gekränkt auf ihre Güter zurück, wo sie aber bald der Liebeswerbung eines reichen und stattlichen bürgerlichen Priesters erliegt. Auf diesen stößt Jehan bei seiner Rückkehr und wird von ihm zweimal schmählich im Ringkampf besiegt. Unvorsichtigerweise lässt der Gegner sich auch auf einen Kampf mit ritterlichen Waffen ein, wo Jehan ihn seinerseits besiegen und demütigen kann. Danach rächt er sich an der Dame, indem er am Hof ihr wenig standesgemäßes Verhältnis mit dem bürgerlichen Priester bekannt macht. Dieser allerdings setzt, von seinen Wunden rasch genesen, sein Verhältnis mit der Dame fort.

Der heute als ein Juwel der Gattung geschätzte Roman erfuhr offenbar erst gegen Ende des 15. und Anfang des 16. Jh. eine gewisse Verbreitung in gedruckten Ausgaben, die vermutlich von einem überwiegend bürgerlichen Publikum gelesen wurden.

Die letzten Lebensjahre verbrachte La Sale in Châtelet-sur-Oise. Hier verfasste er 1457/58 für eine Dame, die ihren Sohn verloren hatte, das Trostbuch Le Reconfort [=Trost] de Madame de Fresne. 1459 stellte er ein weiteres didaktisches Werk fertig: Des anciens tournois et faicts d'armes, eine Art Lehrbuch der Wappenkunde und des höfischen Zeremoniells.

Die Satire Les quinze joyes du mariage und die Novellensammlung Cent nouvelles nouvelles, die ihm mitunter zugeschrieben wurden, sind höchstwahrscheinlich nicht von ihm.

(Stand: Mai 07)

Charles d'Orléans (*24.11.1394 in Paris; †5.1.1465 in Amboise)

Er wird heute gern (dank zwei oder drei Gedichten, die in diese Kategorie fallen und in Lesebüchern figurieren) als der erste franz. Verfasser von Naturlyrik gesehen. Zutreffender ist es jedoch, ihn mit seinen beiden allegorischen Traumgedichten und seinen zahlreichen Balladen, Chansons und Rondeaus als einen Vollender der mittelalterlichen Kunstform der höfischen Lyrik zu betrachten. Er war zudem einer der fruchtbarsten Lyriker seiner Zeit.

Charles war ältester Sohn des jüngeren Bruders von König Charles VI, Herzog Louis d’Orléans, und von Valentina Visconti, Tochter des Herzogs Gian Galeazzo von Mailand. Dank dem hohen Bildungsstand und dem Mäzenatentum beider Eltern kam er früh mit Literatur und Kunst in Berührung, aufgrund der hohen Position seiner Familie allerdings ebenso früh und meist schmerzhaft mit der Politik.

So musste er schon 1396 mit seiner Mutter Paris und den Hof verlassen, weil sie von der Königin beschuldigt wurde, Ursache der zunehmenden geistigen Verwirrung des jungen Königs Charles VI zu sein. 1406 wurde er ungefragt als knapp 12-Jähriger mit seiner knapp 17-jährigen Kusine Isabelle de France verlobt (die schon Witwe des 1399 abgesetzten und 1400 ermordeten englischen Königs Richard II war). 1407 verlor er seinen Vater, der auf offener Straße ermordet wurde im Auftrag eines Cousins, Herzogs Jean sans Peur von Burgund, der mit ihm am Hof um die Ausübung der Regierungsgeschäfte für den geistesgestörten König stritt. 1408 verlor er auch seine Mutter, die, erschöpft durch ihr vergebliches Ringen um die Bestrafung des vorerst siegreichen Herzogs Jean, einer Krankheit erlag. Kurz darauf heiratete er, doch starb ihm noch 1409 seine junge Frau im Kindbett, so dass er mit 15 Vollwaise, Witwer, Vater und Familienoberhaupt für seine kleine Tochter und seine vier jüngeren Geschwister war. Zugleich – als ältester Sohn eines ungesühnt ermordeten Mitglieds der königlichen Familie – avancierte er unfreiwillig zum Oberhaupt einer Rächerpartei, die in seinem Namen der ehrgeizige Graf Bernard d’Armagnac organisierte, der ihn zugleich mit seiner 11jährigen Tochter Bonne verheiratete, einer Kusine zweiten Grades (1410). Zur selben Zeit bewies Charles erstmals sein schriftstellerisches Talent, indem er in einem offenen Brief die größeren Städte Frankreichs ersuchte, ihm beizustehen in seinem Kampf um die Sühnung des Mordes.

In der Tat siegte seine Partei, die „Armagnacs“, 1413 fürs erste und Charles hielt Einzug am Hof in Paris. Hier, wo sich einige bekannte Lyriker, u.a. Alain Chartier (s.o.), betätigten, begann er 1414 zu dichten, und zwar Balladen an seine junge Frau Bonne, in die er sich (nach Vollzug der Ehe?) ganz offenbar verliebt hatte. Es sind Gedichte, die die Konventionen der höfischen Lyrik kunstvoll befolgen, aber dennoch einen persönlichen Klang besitzen. Ebenfalls seine Verliebtheit spiegelt die gereimte Traumerzählung La Retenue d'Amours (=Die Vereinnahmung [in den Lehensdienst] Amors).

Wenig später, im Okt. 1415, ereilte Charles im wieder einmal aufflammenden Hundertjährigen Krieg ein neuer Schicksalschlag. Er geriet in der englisch-franz. Schlacht von Azincourt (nahe Arras) in Gefangenschaft und wurde nach England gebracht, als Geisel der Könige Henry V bzw. später Henry VI, die ihn als Faustpfand einzusetzen gedachten gegenüber seinem Cousin, dem Dauphin und späteren (ab 1422) König Charles VII, der jedoch nichts für ihn tat  ̵  schon gar nicht, nachdem ab 1429 dank Jeanne d’Arc das Kriegsglück sich zu Frankreichs Gunsten wendete.

In den 25 Jahren, die Charles in England auf verschiedenen Burgen bei häufig wechselnden Gastgebern-Bewachern verlebte, dichtete er zunächst weiter Balladen, die in oft sehr anrührender Weise überwiegend um die Themen Liebe, Trennung, Sehnsucht und Heimweh kreisen. Später, nachdem er seine Hoffnungen auf einen möglichen Besuch Bonnes in England hatte aufgeben müssen und er (1432?) erneut Witwer geworden war, verfasste er auch Chansons (zum Teil in englischer Sprache) an eine englische Dame, in die er sich verliebt hatte.

Als diese aus seiner Umgebung entfernt worden war und 1437 auch ein Eheprojekt mit der verwitweten Marguerite de Savoie scheiterte, schrieb Charles frustriert eine „Traumerzählung in Klageform“ (Songe en complainte), ein Gegenstück zur Retenue von einst. Hierin bittet er Amor, ihn aus seinem Dienst zu entlassen, und gelobt Verzicht auf „alles, was mit Liebe zu tun hat“.

1440 endlich wurde er, als Geisel offenbar nutzlos geworden, gegen das enorme Lösegeld von 200.000 Goldtalern freigelassen. Er bekam es vorgeschossen von Herzog Philippe le Bon von Burgund, seinem Cousin zweiten Grades und Sohn des 1419 selber ermordeten Mörders seines Vaters. Zum Dank ließ er sich von Philippe, dem daran gelegen war, ihn an sich zu binden, mit dessen Nichte Maria von Kleve verheiraten.

Charles hatte bei seiner Heimkehr gehofft, er könne Frieden zwischen den Kronen Englands und Frankreichs stiften, darüberhinaus das mit England verbündete, praktisch souveräne Herzogtum Burgund wieder an Frankreich heranführen und insgesamt eine seinem Status gemäße Position neben seinem Cousin König Charles VII einnehmen. Doch er scheiterte er an dem Misstrauen, das dieser ihm als vermeintlichem Parteigänger Burgunds entgegenbrachte. Auch die 1447/48 unternommenen Versuche Charles’, seine von der Mutter geerbten Ansprüche in Norditalien durchzusetzen, blieben mangels Unterstützung des Königs erfolglos. Er zog sich enttäuscht fast völlig auf sein Schloss in Blois zurück.

Hier verarbeitete er seine wechselnden, häufig melancholischen Stimmungen und Gedanken in zahlreichen Balladen und, mehr und mehr, in Rondeaus, die wie Seiten eines poetischen Tagebuchs und damit sehr authentisch wirken, aber virtuos alle Möglichkeiten der Gattung ausschöpfen. Zugleich versuchte er nicht ohne Erfolg, seinen Hof zu einem literarischen Zentrum zu machen, indem er Dichter aus ganz Frankreich zu kürzeren und längeren Besuchen bei sich aufnahm, darunter François Villon (s.u.). Auch seine Höflinge und Freunde sowie seine Gattin Marie hielt er zum Versemachen an.

Schon um 1445 hatte er seine bis dahin verfassten Gedichte und Dichtungen von einem Kalligraphen in ein Sammelmanuskript kopieren lassen. In dieses (das erhalten ist) ließ er anschließend auch seine jeweils neuen Balladen und Rondeaus sowie die Gedichte von Gästen und Höflingen eintragen oder tat es gelegentlich selbst bzw. ließ es die betreffenden Autoren tun. Viele dieser jüngeren Texte sind Repliken auf den oder die jeweils vorangehenden eigenen oder fremden Texte, bilden also Paare oder Gruppen, die thematisch und häufig auch situativ zusammenhängen. Bekannt ist die Ende 1457 entstandene Gruppe von elf Balladen zum Thema „Durst an der Quelle“, die offenbar Ergebnis eines Wettdichtens war, an dem sich auch Villon beteiligte (der kurz danach in Unfrieden gegangen zu sein scheint).

1457, 59 und 62 wurde Charles noch Vater, nachdem er sein Verzichtgelöbnis von 1437, das er während der ersten 16 Jahre seiner Ehe offenbar einhielt, endlich doch gebrochen hatte. Er erkrankte und starb Anfang 1465 auf der winterlichen Heimreise von einem Fürstentreffen in Tours, wo er vom neuen König Louis XI öffentlich gedemütigt worden war. Schon einige Jahre zuvor hatte er (anscheinend bald nach dem Zerwürfnis mit Villon) der Dichtkunst den Abschied erklärt.

Sein Sohn Herzog Louis d’Orléans (1462-1515) übernahm 1498 die Königskrone von seinem erbenlos verstorbenen Neffen zweiten Grades Charles VIII.

(Stand: Jan. 09)

Arnoul Gréban (ca. 1420 – ca. 1470).

Er ist vor allem bekannt als Autor des gegen 1450 entstandenen Passionsspiels Le Mystère de la Passion. Das monumentale Werk, in dem nicht nur die eigentliche Passion dargestellt wird, sondern das ganze Leben Christi samt den der Geburt vorangehenden und der Kreuzigung folgenden Episoden, ist ein Höhepunkt des mittelalterlichen Passionsspiels. Es umfasst an die 35.000 Verse, enthält 393 verschiedene Rollen und erforderte 4 Tage Spielzeit. Aufführungsort war Paris, wo Gréban als Organist von Notre-Dame tätig war und wo seit 1436, d.h. der Vertreibung der englischen Truppen aus der Stadt, nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg und Krieg, endlich wieder Frieden herrschte.

Auch andere franz. Städte, z.B. Arras, hatten damals ihre Mysterien- und Passionsspiele, von denen viele sich am Vorbild Grébans orientierten.

François Villon (1431 – ca. 1463).

Der eigentliche Familienname (Montcorbier? Monterbier? Des Loges?) dieses wohl jedem Franzosen und auch vielen Deutschen bekannten Dichters steht nicht fest.

Laut eigener Aussage in kleinsten Verhältnissen in Paris geboren, muss François, nach frühem Tod seines Vaters, in die Obhut des Pariser Stiftsherrn und Kirchenrechtsdozenten Guillaume de Villon gelangt sein, dessen Namen er spätestens ab 1455 benutzte und den er 1461 halb ironisch, halb liebevoll als seinen "plus que père" (mehr als ein Vater) bezeichnete. Offenbar dank der Fürsorge Guillaumes erhielt er eine gute Bildung und brachte es bis zum Magister an der propädeutische Studien vermittelnden Pariser Artistenfakultät.

Statt jedoch sein anschließend begonnenes Fachstudium, wohl der Theologie, zu Ende zu führen, glitt er, vermutlich während des langen Vorlesungsstreiks der Pariser Professoren 1453/54, ab ins Kriminellenmilieu. Nach einer Messerstecherei mit tödlichem Ausgang für seinen Gegner, einen ebenfalls messerbewaffneten Priester, verließ er im Juni 1455 Paris, konnte aber Anfang 56 dank zweier (erhaltener) königlicher Freibriefe zurückkehren.

Ende 1456 beteiligte er sich an einem (in erhaltenen Dokumenten beschriebenen) Einbruch mit stattlicher Beute und verschwand kurz darauf von neuem aus der Stadt. Hierbei hinterließ er den Kumpanen im Milieu sein erstes längeres Werk: Le Lais (=das Legat) oder Le petit testament.

Ende 1457 saß er offenbar zum Tode verurteilt in einem Kerker von Herzog Charles d'Orléans (s.o.), wurde aber von ihm amnestiert und sogar für kurze Zeit – denn  Charles selbst war Lyriker – an seinen Hof in Blois aufgenommen, wo er einige Gedichte verfasste, ehe er offenbar in Ungnade fiel und gehen musste.

1458–60 führte er wohl ein unstetes Wander- und Gaunerleben, 1461 finden wir ihn wieder im Kerker, diesmal dem des Bischofs von Orléans in Meung-sur-Loire, aus dem ihn Anfang Oktober ein Gnadenakt des durchreisenden Königs Louis XI befreite.

Zurück in Paris oder Umgebung, versuchte er sich zu resozialisieren, scheiterte aber und schrieb sein Hauptwerk, Le Testament.

Im November 1462 saß er (laut erhaltenem Dokument) wegen Diebstahls im Pariser Stadtgefängnis. Kurz nach seiner Freilassung zogen ihn (wie ein erhaltenes Dokument beschreibt) Kumpane in eine Schlägerei hinein, in der ein päpstlicher Notar einen Messerstich abkriegte. Villon wurde erneut eingekerkert, offenbar gefoltert und sogar zum Tode verurteilt, aber Anfang 1463 dank eingelegter Berufung zu zehn Jahren Verbannung begnadigt. Hiernach verliert sich seine Spur.

Sein erhaltenes Œuvre ist schmal. Es umfasst:

1) das Ende 1456/Anfang 57 vor seinem Fortgehen aus Paris für das Gaunermilieu geschriebene spöttisch-parodistische Vermächtnis Le Lais (320 Verse);

2) das im Herbst 1461 in oder bei Paris wohl für potentielle Gönner begonnene, dann aber ebenfalls vor allem fürs Milieu verfasste, halb elegische, halb satirische, rd. 20 eingestreute Gedichte (meistens Balladen) enthaltende Pseudo-Testament Le Testament (2023 Verse);

3) sechzehn zwischen 1455 und 1463 entstandene Gedichte (meist Balladen), von denen einige, sehr kunstvolle, an Herzog Charles d'Orléans gerichtet sind und z.T. an dessen Hof in Blois verfasst wurden;

4) elf schwer verständliche Balladen im Gaunerjargon, die Villon wohl 1462 in der Rolle eines Gauners für das Pariser Gaunermilieu, und speziell die Maffia der "Muschelbrüder", gedichtet hat.

Vor allem das Testament (das ab 1489 zusammen mit dem Lais und einigen anderen Texten Villons auch gedruckt vorlag) war ein beachtlicher Bucherfolg im Paris des späten 15. Jh., zweifellos aufgrund Villons witziger und bissiger Hiebe auf viele, explizit namentlich genannte Pariser Honoratioren, die mit satirischen Legaten bedacht werden, welche ihre tatsächlichen und angeblichen Schwächen und Laster aufdecken.

Formal sind die Texte Villons in der Regel eher schlicht und konventionell, auch wenn er, wie die kunstvollen für und bei Charles d’Orléans verfassten Ballade zeigen, ein beachtlicher Reimkünstler ist. Seine Genialität zeigt er vor allem in der ungewöhnlichen Prägnanz, Lebendigkeit und Ausdruckskraft der Bilder und der Sprache. Da seine Texte fast allesamt prekäre Momente oder Krisenphasen einer bewegten Existenz verarbeiten und den Eindruck einer starken persönlichen Betroffenheit des Autors vermitteln, sprechen sie auch heutige Leser noch an. Villon wird deshalb oft als erster moderner Lyriker betrachtet.

Dank einiger Plagiate Bert Brechts aus der ersten deutschen Villon-Übertragung K. L. Ammers von 1907 und vor allem aufgrund der sehr freien, aber farbigen Villon-Nachdichtungen des expressionistischen Lyrikers Paul Zech (1931 und 1962) ist sein Name heute auch im deutschen Sprachraum gut bekannt.

P.S.: Vgl. auch meine sehr viel ausführlichere Webseite François Villon, Leben und Werk  (http://www.pinkernell.de/villon/Villond.htm) sowie meine Bücher François Villons LAIS. Versuch einer Gesamtdeutung (Heidelberg 1979), François Villon et Charles d'Orléans (Heidelberg 1992) und François Villon: Biographie critique et autres études (Heidelberg 2002). Vgl. darüberhinaus im Anhang dieses Repertoriums meine Studie zu Paul Zechs Lasterhaften Balladen und Liedern des F. V.

Raoul Lefèvre († ca. 1465).

Dieser kaum mehr bekannte Autor (von dem wir nichts weiter wissen, als dass er aus dem äußersten Norden des franz. Sprachgebietes stammte, Kleriker war und um 1460 mit dem Hof der Burgunder-Herzöge in Verbindung stand) ist interessant als Verfasser von L'Histoire de Jason (ca. 1460).

Es ist ein heute kurios und hybrid wirkender, für die Zeitgenossen offensichtlich aber kaum befremdlicher Roman um den antiken griechischen Sagenhelden Jason, der einst im fernen Kolchis mit Hilfe Medeas das Goldene Vlies erkämpft hatte, seine Helferin dann geheiratet, später aber für eine andere Frau verlassen hatte.

Das Herzog Philippe de Bourgogne (=Philipp der Gute, 1419–1467) gewidmete Werk, das ganz im Stil der zeitgenössischen Ritterromane geschrieben ist und den mythologischen Stoff mit vielen selbsterfundenen Episoden anreichert, hatte offensichtlich die Funktion, Jasons Untreue zu relativieren und zu entschuldigen. Das wiederum sollte die Ehre dieses Schutzpatrons des Ordens vom Goldenen Vlies retten, den Herzog Philippe 1429 gegründet hatte, um darin den Adel seiner sehr heterogenen Territorien zu vereinigen, zu denen außer der Bourgogne und der Franche Comté auch Teile der Picardie, Flandern sowie das jetzige Belgien, Holland und Luxemburg gehörten.

Kurze Zeit nach dem Jason verfasste Lefèvre ein weiteres romanartiges Werk mit mythologischem Stoff, den unvollendeten Recueil des histoires de Troie, den er ebenfalls Herzog Philippe widmete. Dessen prächtiger und unterhaltungsbedürftiger, überwiegend frankophoner Brüsseler Hof war um 1450 ein bedeutendes, wenn nicht das bedeutendste Zentrum der franz.sprachigen Literatur.

Lefèvres Jason war übrigens durchaus erfolgreich: er ist nicht nur in mehreren Handschriften überliefert (darunter dem Widmungsexemplar, das offenbar vom Autor selbst geschrieben wurde), sondern erlebte zwischen 1476 und 1530 sieben Druckauflagen. Eine von William Caxton, dem ersten englischen Buchdrucker, verfasste Übersetzung des Jason war 1477 das erste auf englischem Boden gedruckte Buch.

Vgl. hierzu: Gert Pinkernell (Hrsg.), Raoul Lefèvres Histoire de Jason. Ein Roman aus dem 15. Jh. (Frankfurt 1971)

Les cent nouvelles nouvelles (ca. 1462). Diese anonyme Novellensammlung in der Tradition von Giovanni Boccaccios berühmtem Novellenbuch Il Decamerone (das um 1440 von Laurent de Premierfait ins Franz. übersetzt worden war) ist das erste eigenständige Unternehmen dieser Art in der franz. Literatur und wurde verfasst für den meist in Brüssel residierenden Hof der Burgunder-Herzöge Philippe le Bon (bzw. Philipp der Gute, † 1467) und seines Nachfolgers Charles le Téméraire (bzw. Karl der Kühne, † 1477).

P.S.: Der Brüsseler Hof büßte übrigens nach dem frühen Tod von Herzog Charles seine Rolle als Zentrum der französischsprachigen Literatur ziemlich bald ein, da nach der Heirat von Charles' Tochter Marie de Bourgogne mit Maximilian von Habsburg die eigentliche Bourgogne an Frankreich zurückfiel und die anderen, überwiegend niederländischsprachigen Territorien des burgundischen Herrschaftsgebietes sich mehr nach Deutschland hin orientierten (wobei Brüssel auch weiterhin deren Macht- und Verwaltungszentrum blieb).

La Farce de Maître Pierre Pathelin (ca. 1465, anonym, mitunter fälschlich François Villon zugeschrieben).

Das kleine Theaterstück ist ein erstes Meisterwerk der Gattung Farce, d.h. einer überwiegend von der Situationskomik lebenden Kurzkomödie. Es behandelt witzig und mit allen Raffinessen der Situationskomik das vielgestaltige Motiv vom betrogenen Betrüger in einer Vier-Personen-Konstellation aus einem dümmlichen Tuchhändler, dem gerissenen Winkeladvokaten Pathelin, seiner pfiffigen Frau und einem scheinbar naiven, bauernschlauen Hirten, der sie schließlich alle in die Tasche steckt.

Die Gattung Farce à la Pathelin wird in der Folgezeit sehr gute Konjunktur haben; ihre Techniken und Gags werden noch von Molière in seinen Stücken benutzt. Der Name Pathelin ist übrigens als Adjektiv (patelin,e = geheuchelt naiv-nett) ins franz. Lexikon eingegangen.

1470–1480 Blütezeit der Dichterschule der sog. Rhétoriqueurs am burgundischen Hof in Brüssel. Die Rhétoriqueurs sind eine der ersten für die spätere franz. Literatur so typischen Dichtergruppen (die sich dann jedoch in aller Regel in Paris konstituieren werden). Gemäß ihrer Funktion als Hofdichter und ihrer Betonung des technischen, quasi kunsthandwerklichen Aspekts des Dichtens verfassen sie meist pompöse, manieristisch ausgefeilte Gedichte zu festlichen und sonstigen Anlässen. Die wichtigsten Namen sind Georges Chastellain (ca. 1410–1475) und Jean Molinet (1435–1507). Beide sind auch als Verfasser von umfangreichen Chroniken ihrer Zeit bekannt, Chroniken, die im Sinne ihrer „burgundischen“ Auftraggeber Herzog Philippe le Bon, Herzog Charles le Téméraire und dessen Tochter Marie de Bourgogne eine antifranzösische Tendenz haben; d.h. sie attackieren vor allem den 1461–1483 herrschenden König Louis XI, der es auf eine Zerstörung und weitgehende Annexion des burgundischen Herrschaftsgebietes abgesehen hatte.

P.S.: Dieses bildete um 1470 einen de facto selbständigen Staat, dessen Territorien de jure aber etwa je zur Hälfte auf dem Boden des Königreichs Frankreich und dem des deutschem Reiches lagen. Louis XI hatte übrigens nach dem Tod von Charles le Téméraire 1477 versucht, dessen Erbin Marie mit seinem kleinen Sohn, dem späteren Charles VIII, zu verheiraten, war aber von Maximilian von Habsburg, dem späteren Kaiser, ausgestochen worden. Für das Haus Habsburg war diese Heirat, d.h. die mit ihr verbundene territoriale Mitgift, einer jener Fischzüge – später folgten noch andere, z.B. Spanien, Böhmen und Ungarn – die den Spruch entstehen ließen „Bella gerant alii, tu felix Austria nube!“ – „Andere mögen Kriege führen, du glückliches Österreich [=Habsburg] heirate!“

Philippe de Commynes (1447; †18.10.1511 auf Schloss Argenton).

Er gilt als einer der Vorläufer der modernen Geschichtsschreibung und als Verfasser der ersten franz. Memoiren im modernen Sinne mit seinem Werk Les memoires sur les principaux faicts et gestes de Louis onzieme et de Charles huitieme, son filz, roys de France.

Er wurde geboren in der Grafschaft Flandern, die zum damaligen Herzogtum Burgund gehörte, einem quasi selbständigen Territorium zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich. Er stammte aus einer Familie von Amtsträgern im Dienst der Herzöge und kam selber schon als Jugendlicher an den herzoglichen Hof in Brüssel, wo er als Knappe dem angehenden Herzog Karl dem Kühnen zugeordnet wurde (frz. Charles le Téméraire, 1433-77, Herzog ab 1467). Trotz seiner Jugend entwickelte er ein enges Vertrauensverhältnis zu seinem Fürsten. So soll er ihn 1468 erfolgreich davon abgehalten haben, dem französischen König Louis XI nach dem Leben zu trachten, als jener in Péronne in burgundische Gefangenschaft geraten war.

1472 verließ Commynes Herzog Karl überraschend und wechselte in den Dienst von dessen Erzfeind König Louis, was für damalige Verhältnisse ein ungeheuerlicher Treuebruch war. Dank seiner intimen Kenntnis der Person und der Pläne Karls konnte er den verschlagenen und politisch geschickten Louis beraten bei seinen militärischen und diplomatischen Aktionen gegen Burgund, die nicht unbeteiligt waren an Karls Niederlage und Tod 1477.

Zugleich entwickelte er sich dank der Kontakte, die er am franz. Hof zu den Botschaftern der diversen italienischen Staaten pflegte, zu einem Kenner der dortigen Verhältnisse. 1478 reiste er seinerseits als Botschafter nach Turin, Mailand und Florenz.

Zum Lohn für seine Dienste erhielt er von Louis größere Besitzungen übereignet, so dass er in den höheren Adel einheiraten konnte.

Nach dem Tod seines Gönners Louis (1483) fand Commynes keinen angemessenen Platz unter dem neuen jungen König Charles VIII bzw. seiner zunächst die Regentschaft führenden älteren Schwester Anne de Beaujeu. Er bekam große Teile seines Besitzes wieder abgenommen und beteiligte sich 1488 an den Intrigen und bewaffneten Kämpfen des französischen Hochadels gegen die Regentin. Hierbei wurde er vorübergehend gefangen gesetzt und vom Hof verbannt. In dieser Situation begann er 1489 mit der Abfassung jenes Teiles seiner Erinnerungen, der seine Zeit bei Herzog Karl und bei König Louis beschreibt, die er als Fürsten darstellt, die es verdienen, dass man sich von ihnen ab- bzw. ihnen zuwendet, weshalb er z.B. an passender Stelle auch andere Überläufer anführt und ihre Motive analysiert.

1492 erhielt er wieder Zutritt zum Hof. Als Charles VIII 1494 einen Feldzug nach Italien unternahm, um längst obsolet geglaubte franz. Ansprüche auf die Krone des Königreichs Neapel geltend zu machen, wurde Commynes als Botschafter nach Venedig geschickt, um den mächtigen Stadtstaat zu bewegen, neutral zu bleiben zwischen Frankreich und der rasch entstandenen gegnerischen „Heiligen Liga“ aus dem Haus Habsburg, dem Haus Aragón und dem Papst (als Herrscher des mittelitalienischen Kirchenstaates und territorialer Nachbar Neapels). Seine Mission blieb jedoch erfolglos. Die Franzosen mussten Neapel vorerst wieder räumen.

Zurück aus Venedig, griff Commynes wieder zur Feder und verfasste von Ende 1495 bis Ende 98 den zweiten Teil (Buch VII und VIII) der Memoiren, worin er seine Zeit unter Charles VIII schildert, insbes. die Vorbereitung und Durchführung des Italienfeldzuges sowie seine Tätigkeit als Diplomat. Ein zentrales Motiv scheint hierbei sein Bedürfnis, seinen Misserfolg in Venedig zu erklären, so wie er vorher nicht zuletzt seine Untreue gegenüber Herzog Karl zu rechtfertigen versucht hatte. Ein großes Interesse Commynes’ gilt aber auch den Existenzbedingungen und Motivationen der Fürsten, die er kennen gelernt hatte, bzw. allgemein der Psychologie der Herrscher.

Die Erinnerungen kamen erst 1524/25, also postum, heraus. Sie wurden jahrhundertelang immer wieder nachgedruckt und als eine Art Lehrbuch für Politik und (Geheim-)Diplomatie gelesen.

(Stand: Sept. 10)

16. Jahrhundert (Renaissance)

Jean Lemaire de Belges (* ca. 1473 im Hennegau/Hainaut im heutigen Belgien; † nach 1515).

Lemaire wurde erzogen von seinem Onkel, dem bekannten Chronisten und Rhétoriqueur Jean Molinet. Nach Studien in Paris bekleidete er Ämter bei verschiedenen Fürsten, insbesondere der Regentin der Niederlande, Margarete von Habsburg1), und der französischen Königin Anne de Bretagne2). 1506 und 1508 reiste er in Italien und kam dort mit der voll erblühten italienischen Renaissance-Kultur in Berührung.

Er begann als Lyriker im Stil der sog. Rhétoriqueurs, d.h. Verfasser meist pompöser Gedichte für ein höfisches Publikum, und führte 1504 die italienische Form der Terzine in die franz.sprachige Lyrik ein. 1505 verfasste er die heiter-melancholischen Lettres de l'amant vert (dt. Briefe des grünen Liebhabers), fiktive Briefe des realen grünen Papageis von Margarete, der angeblich wegen einer langen Abwesenheit seines Frauchens vor Gram stirbt und dann von seinen Erlebnissen aus dem Jenseits berichtet.

Lemaires Name ist vor allem aber verbunden mit dem zu seiner Zeit vielgelesenen Werk Les illustrations de Gaule et singularités de Troye (1511–13; dt. etwa: Die Ruhmesblätter Galliens und die Einzigartigkeiten Trojas). Es ist eine Nacherzählung der sich um Troja rankenden Geschichten (Buch I und II), gefolgt von einer Genealogie der Gründer Galliens und des Frankenreichs bis hin zu Karl dem Großen (Buch III). Lemaire verknüpft Trojaner und Franken über die Figur des Francus, eines (bei Homer nicht erwähnten) angeblichen Sohnes von Hektor, der sich zusammen mit dem späteren Rom-Gründer Äneas aus dem von den Griechen eroberten Troja gerettet habe, um seinerseits das alte Gallien zu gründen, dessen Fortführung wiederum das frühmittelalterliche Francia, das Frankenreich, gewesen sei.

Die Illustrations stützen sich auf viele im heutigen Sinne pseudoantike und pseudohistorische Quellen (z.B. eine zeitgenössische lateinische Ilias-Bearbeitung). Sie sind motiviert vom Wunschtraum des Autors, das alte Frankenreich, also Frankreich, Deutschland und die Niederlande (d.h. etwa die jetzigen Benelux-Staaten) wieder zu vereinen, und sei es zunächst nur zum Zweck eines gemeinsamen Kreuzzugs gegen die Türken, die 1453 das christliche Byzanz (heute Istanbul) erobert hatten.

Lemaire begann die Illustrations 1505 als Sekretär Margaretes in den Niederlanden und stellte sie fertig als Sekretär und Chronist der französischen Königin Anne. Er selber bildete also gewissermaßen eine Klammer zwischen dem Ost- und dem Westteil des alten Frankenreichs (das sich unter Karl dem Großen um 800 von Lübeck bis Barcelona und von Brest bis Rom erstreckt hatte).

Um 1550 wurden die Illustrations eine wesentliche Inspirationsquelle für Pierre de Ronsard (s.u.), der mit seinem (unvollendeten) Versepos La Franciade den Franzosen ein nationales Epos zu geben versuchte.

1509 und 1511 unterstützte Lemaire literarisch-propagandistisch Annes Gatten, König Louis XII, und versuchte dessen Eroberungskrieg in Norditalien zu rechtfertigen sowie seine Bestrebungen schönzureden, eine von Rom (denn der Papst zählte zu seinen Kriegsgegnern) relativ unabhängige franz. Kirche zu schaffen, etwa im Sinne des späteren Gallikanismus.

1) Margarete von Habsburg (1480–1530) war Tochter Maximilians von Habsburg und der Herzogin Maria von Burgund. Sie wurde mit außenpolitischen Intentionen schon als Kind verheiratet mit dem jungen franz. König Charles VIII und kam so an den franz. Hof. Als Charles 1491 aus politischen Gründen die noch nicht vollzogene Ehe mit ihr vom Papst auflösen ließ und die Erb-Herzogin Anne de Bretagne (s.u.) heiratete, wurde Margarete zu ihren Eltern zurückgeschickt. 1495 wurde sie mit dem spanischen Thronerben Juan vermählt, der aber zwei Jahre später starb. 1501 heiratete sie Herzog Philibert von Savoyen und wurde bald darauf erneut Witwe. Als 1506 ihr älterer Bruder Philipp der Schöne starb, der 1496 mit Johanna der Wahnsinnigen vermählt worden war, die als spanische Thronerbin nachgerückt war, wurde Margarete Vormund von Philipps Kindern, insbes. ihres Neffen Karl (der 1516 König von Spanien und 1519 deutscher Kaiser wurde). Zugleich wurde sie Regentin der Niederlande, wo sie bis zu ihrem Tod mit Geschick und Energie amtierte und sich als Mäzenin betätigte.

2) Anne de Bretagne (1476-1514) war einziges Kind und damit Erbin von Herzog François de Bretagne. 1490 wurde sie mit dem verwitweten deutschen König und späteren Kaiser Maximilian verlobt, dann aber 1491 handstreichartig mit dem franz. König Charles VIII verheiratet, wodurch die quasi selbständige Bretagne zum integrierenden Bestandteil Frankreichs wurde. Mit Charles hatte sie mehrere Kinder, von denen aber keines überlebte. Als Charles 1498 starb, heiratete Anne seinen Cousin zweiten Grades und Nachfolger, König Louis XII, mit dem sie zwei Töchter bekam: Claude, die mit ihrem entfernten Cousin und präsumptiven Thronfolger François d’Angoulême (später König François Ier) verheiratet wurde, und Renée, die Herzogin von Ferrara wurde (und dort in den 1530/40er Jahren protestantischen Intellektuellen Unterschlupf bot).

3) Louis XII (1462-1515, König ab 1498) hatte von seinem Vater Charles d'Orléans († 1464) Ansprüche auf das Herzogtum Mailand geerbt, das er 1499 überfiel und besetzte. 1504 versuchte er auch das Königreich Neapel zu erobern (das schon sein Vorgänger Charles VIII beansprucht und 1494 zu erobern versucht hatte). Hierauf reagierten 1511 der Papst (als Oberhaupt des Kirchenstaates) und die Republik Venedig, aber auch Österreich, Spanien und England mit dem Bündnis der „Heiligen Liga“, das die Franzosen aus Italien vertrieb (bis Louis’ Schwiegersohn und Nachfolger François Ier 1515 die franz. Expansionspolitik sogleich, aber letztlich ebenfalls erfolglos, wieder aufnahm).

Pierre Gringore (ca. 1475 – ca. 1538).

Sein Name ist bzw. war im 19./20. Jh. vielen Franzosen dadurch bekannt, dass Victor Hugo ihn als "Gringoire" in seinem vielgelesenen historischen Roman Notre-Dame de Paris (1831) auftreten lässt, und zwar als Typ des inmitten des Pariser Volkes lebenden Dichters und Intellektuellen.

Gringores bekanntestes Werk ist das vielleicht erste politisch intendierte Stück der franz. Literatur: Le Jeu du prince des sots et de mère sotte (1512, 1831 von einem anderen Romantiker, Gérard de Nerval, bearbeitet). Le Jeu ist ein Fastnachtsspiel und zugleich eine pro-französische Satire gegen Papst Julius II, der im Stück in der lächerlichen Rolle der "mère sotte" auftritt, weil er zum Ärger der Franzosen gerade erfolgreich das Militärbündnis der "Heiligen Liga" gegen Louis XII und dessen Expansionsversuche in Nord- und Süditalien zusammengebracht hatte. Gringore ist aber auch Lyriker, u.a. als Verfasser vieler politisch-satirischer Gedichte. Er war zudem viele Jahre als Texter und Organisator von Passionsspielen, vor allem aber der jährlichen Fastnachtsspiele der Pariser Vereinigung der "enfants sans souci" tätig.

Jacques Lefèvre d’Étaples (*ca. 1450 oder 1455 in Étaples/Picardie; † 1536 in Nérac).

Er war einer der ersten franz. Humanisten. Sein Name verbindet sich jedoch vor allem mit der ersten vollständigen franz. Übersetzung  der Bibel (1523–30).

Nach Theologiestudiem und der Priesterweihe in Paris wurde Lefèvre Dozent für Philosophie an einem Kolleg der Sorbonne. Daneben begann er bei einem der neu aus Italien nach Paris gekommenen Gräzisten Altgriechisch zu lernen. Vielleicht schon vor 1486, auf jeden Fall aber 1491 und 1499 unternahm er Bildungsreisen nach Padua und Pavia als Zentren der in Italien schon voll erblühten humanistischen Gelehrsamkeit. Zurück in Paris wurde er auch selber als humanistischer Gelehrter aktiv insbes. mit textkritischen Editionen zentraler Schriften des griechischen Philosophen Aristoteles, die er zudem, unter Abkehr von den erstarrten scholastischen mittelalterlichen Deutungstraditionen, neu kommentierte. Spätestens 1505 wurde er Mittelpunkt eines kleinen Kreises humanistisch interessierter Adeliger, Theologen und Juristen, darunter Guillaume Budé, der 1530 mit Unterstützung von König François Ier das Collège des trois langues gründete, die erste an den Universitäten vorbei eingerichtete Hochschule Frankreichs.

Ein anderer Getreuer war Guillaume Briçonnet (1470-1534), Bischof von Lodève in Südfrankreich, der sich meistens aber in Paris aufhielt, um am Hof präsent zu sein. Als Briçonnet 1507 auch die Pfründe des Abtes der Benediktinerabtei Saint-Germain-des-Prés vor den Toren der Stadt erhielt, ließ sich Lefèvre dort nieder und half ihm bei der Einführung eines strenger am Evangelium orientierten Ordenslebens. Zugleich erarbeitete und publizierte er textkritische und kommentierte Editionen von Teilen der Bibel: 1509 die Psalmen, bei denen ihm klar wurde, dass die mittelalterliche Deutung des Alten Testaments auf vier verschiedenen Sinnebenen artifiziell und deshalb unhaltbar war; 1512 die Paulus-Briefe, an denen ihm bewusst wurde, dass viele Dogmen und Regeln der Kirche nicht der Bibel entsprachen und dass für das Seelenheil des Menschen der Glaube wichtiger sei als gute Werke.

1521 wurde Briçonnet, der die Gunst von François Ier besaß und Beichtvater von dessen Schwester Marguerite d’Alençon war, zum Bischof von Meaux befördert. Als er konsequent vor Ort zu residieren und sein Bistum im Sinne der aus Deutschland herüberstrahlenden Ideen Luthers zu evangelisieren beschloss, folgte ihm Lefèvre. Er wurde Mitglied des Kreises reformwilliger Theologen und Gelehrter um den Bischof  sowie sein Generalvikar .

Zugleich arbeitete er an einer Übersetzung der Bibel, zunächst des Neuen Testaments, wobei er von der quasi offiziellen lateinischen Version, der „Vulgata“, ausging, die gegen 400 n. Chr. Hieronymus nach den griechischen und hebräischen Texten hergestellt hatte. Mit seiner Übersetzung verfolgte er, ganz wie der fast zeitgleich tätige Luther (der allerdings von den griechischen Originaltexten ausging) die typisch reformatorische Absicht, den Gläubigen die Möglichkeit zu geben, selbst die Bibel zu lesen oder sich vorlesen zu lassen und sie ohne die Vermittlung der katholischen Geistlichkeit und ihrer Deutungskonventionen auszulegen. Als er 1523 ohne Genehmigung (die er auch kaum erhalten hätte) sein Neues Testament drucken ließ, wurde er von der Sorbonne, die inzwischen agressiv ihre Deutungshoheit verteidigte, zum Ketzer erklärt.

Auch sein Gönner Briçonnet wurde zunehmend angefeindet, u.a. weil er die Franziskaner aus seinem Bistum verbannt und Anhänger des kürzlich exkommunizierten Luthers predigen lassen hatte. Als ihm 1525 vorübergehend die Rückendeckung des Königs fehlte, der bei der Schlacht von Pavia in die Gefangenschaft von Kaiser Karl V. geraten war, musste er seinen konservativen Gegnern in der Sorbonne und dem Pariser Parlement Konzessionen machen und sich dezidiert von Luther lossagen. Als zugleich ein Mitglied seines Kreises verhaftet wurde, hielt es Lefèvre, zusammen mit anderen, für geraten, aus Meaux zu verschwinden. Er flüchtete in die freie Reichsstadt Straßburg, eine Hochburg des Humanismus und seit kurzem auch der Reformation.

Nach der Rückkehr des Königs 1526 konnte auch er nach Frankreich zurück und wurde mit dem Posten eines Bibliothekars der königlichen Bibliothek in Blois versorgt. 1529 folgte er der Einladung Marguerites, die 1527 in zweiter Ehe Königin des Restkönigreiches Navarra geworden war, und ging nach Nérac in SW-Frankreich, wo ihr Gatte und sie einen kleinen Hof für ihre Aufenthalte dort unterhielten. Besoldet von ihr, die ihn über Briçonnet gut kannte und die mit dem „Luthéranisme“ sympathisierte, beendete er seine Übersetzung auch des Alten Testaments und verbrachte er seine letzten Jahre, übrigens ohne dezidiert mit der Katholischen Kirche zu brechen.

Seine Gesamt-Bibel erschien 1530 in der damals weltoffenen, reichen und noch pro-reformatorischen Stadt Antwerpen als La Sainte Bible en français, translatée selon la pure et entière traduction de Saint-Hierosme. Sie wurde sofort vom Pariser Parlement verboten.

Obwohl sie mehrfach nachgedruckt wurde, erreichte Lefèvres Bibel im franz. Sprachraum nicht entfernt dieselbe Bedeutung wie die luthersche im deutschen. Ein wichtiger Grund war sicher, dass der Reformator Jean Calvin (s.u.) und mit ihm die frankophonen Protestanten die etwas spätere (eher hölzerne) Übersetzung von Pierre Robert Olivétan und seinem Team (1535 ff.) bevorzugten, die wie Luther von den hebräischen und griechischen Texten ausgegangen waren.

(Stand: Jan. 11)

Marguerite de Navarre (geb. duchesse d’Angoulême, verw. duchesse d’Alençon, Königin von Navarra ab 1527; * 11.4.1492 in Angoulême; † 21.12.1549 in  Odos/ Pyrenäen).

Diese hochgebildete, etwas ältere Schwester von König François Ier 1) war siebzehnjährig mit dem Duc Charles d’Alençon verheiratet worden und wurde, nach ihrer Verwitwung 1526, durch ihre zweite Ehe mit Henri d’Albret Titularkönigin der Nordhälfte des 1512 zerschlagenen baskischen Königreichs Navarra. Den Zeitgenossen war sie vor allem bekannt als eine neben und hinter ihrem königlichen Bruder aktive und einflussreiche Frau, die z.B. zu Verhandlungen mit Kaiser Karl V. nach Madrid reiste, als François in der verlorenen Schlacht von Pavia (1525) in dessen Gefangenschaft geraten war. Darüber hinaus spielte sie eine bedeutsame Rolle als Sympathisantin erst Luthers und dann eines über den konfessionellen Fronten stehenden „Evangelismus“, in dessen Namen sie gefährdete pro-reformatorische Intellektuelle wie z.B. den Bibel-Übersetzer Lefèvre d’Etaples (s.o.) oder den Lyriker Clément Marot (s.u.) zu beschützen versuchte und z.T. in ihrem südwestfranz. Residenzstädtchen Nérac beherbergte

Heute ist sie vor allem als Autorin ein Begriff. So publizierte sie 1524 die Versmeditation Dialogue en forme de vision nocturne (= D. in Gestalt einer nächtlichen Vision) und 1531 drei religiöse Langgedichte unter dem Titel des längsten von ihnen, Le Miroir de l'âme pécheresse (= der Spiegel der sündigen Seele). Das Bändchen spiegelt das enorme Interesse, das die rasch von Reformatoren und Anti-Reformatoren polarisierten gebildeten Schichten, nicht zuletzt auch der Adel, theologischen Problemen entgegen brachten, insbes. der neuen Frage nach dem Verhältnis des einzelnen Gläubigen zu „seinem“ Gott. Es wurde sofort von der Sorbonne verurteilt, aber trotzdem 25 Jahre hindurch immer wieder nachgedruckt.

In die franz. Literaturgeschichte eingegangen ist Marguerite mit L'Heptaméron (= das Siebentagewerk), einer Novellensammlung mit Rahmenhandlung, die wie praktisch alle Novellensammlungen der Zeit in der Tradition von Giovanni Boccaccios Il Decamerone (= das Zehntagewerk, um 1350) steht. Das Werk entstand ab 1542 wohl per Diktat und z.T. auf Reisen, nachdem Marguerite im offiziellen Paris, das sich prokatholisch radikalisierte, als konfessionell unzuverlässig ins Abseits geraten war und meistens in ihrem kleinen Königreich weilte, wo auch die Rahmenhandlung spielt. Es sollte ursprünglich ebenfalls hundert Novellen umfassen, die in der Fiktion an zehn Tagen von zehn Personen (fünf Damen und fünf Herren) erzählt werden sollten; es blieb jedoch unvollendet durch den Tod Marguerites bei Nummer 72. Hauptthema ist, wie in allen Sammlungen dieser Art, die Anziehungskraft der Geschlechter aufeinander und die vielgestaltigen Verwicklungen, die sie zu verursachen pflegt. Neu ist Marguerites Behauptung absoluter Wahrheitstreue des Erzählten und neu auch ihre Idee, ihr Zehnergremium nach jeder Novelle mehr oder weniger ausführlich über deren jeweilige Moral diskutieren zu lassen. Da diese Diskussionen (wie im richtigen Leben!) häufig etwas konfus verlaufen und der Leser den als richtig zu betrachtenen Standpunkt nicht immer klar erkennt oder nicht recht nachvollziehen kann, wirkten sie schon auf jüngere Zeitgenossen, z.B. Montaigne (s.u.), eher aufgesetzt und, im Gegensatz zu den Novellen selbst, etwas blutlos.

Das Werk wurde postum 1559 im Auftrag von Marguerites Tochter Jeanne d'Albret (der Mutter des späteren Königs Henri IV) im Originaltext und mit dem etwa passenden Titel L'Heptaméron veröffentlicht. Schon im Vorjahr war unter dem Titel Histoires des amants fortunés (= Geschichten der glücklich Liebenden) ein Raubdruck erschienen, dessen Text im Sinne des antireformatorischen Konzils von Trient (1545-49) theologisch und moralisch „gereinigt“, d.h. mitunter ziemlich verstümmelt worden war.

Noch zu Lebzeiten der Autorin dagegen erschien ein Sammelband ihrer Versdichtungen (darunter auch der Âme pécheresse) unter dem hübschen Titel: Marguerites de la marguerite des princesses (1547). Erhalten sind darüber hinaus einige ungedruckt und unaufgeführt gebliebene Theaterstücke sowie zahlreiche Briefe.

(Stand: Aug. 11)

1) François Ier, geb. 1494, König 1515-1547 (Schwiegersohn und Nachfolger von Louis XII), kämpfte nach seiner Thronbesteigung fast pausenlos mit Kaiser Karl V. um die Vorherrschaft in Italien, wobei er 1525 in der Schlacht bei Pavia sogar in Karls Gefangenschaft geriet, aus der ihn Marguerite als Unterhändlerin zu befreien versuchte. Er entwickelte ein prächtiges Hofleben und gilt als repräsentativster franz. Renaissancefürst. 1530 gründete er das Collège des Lecteurs du roi (später Collège royal de France, heute Collège de France), weil die Sorbonne sich dem humanistischen Einfluss, z.B. dem Studium altgriechischer Texte, verschloss, bzw. sich überhaupt allem Neuen verweigerte. Ab Ende 1534 ergriff François immer eindeutiger Partei gegen den Protestantismus, der in Frankreich zunächst ebenfalls Lutherischer, dann aber zunehmend Calvinscher Prägung war und sich vor allem im Süden ausbreitete, während er im übrigen Land mehr auf Teile des Adels und des Bürgertums beschränkt blieb. François’ zunehmend brutale prokatholische Parteinahme erscheint im Nachhinein als schleichender Beginn der Religionskriege (Guerres de religion), die Frankreich von 1562 bis 1594 erschütterten und (anders als der ähnlich motivierte und ähnlich lange Dreißigjährige Krieg in Deutschland) mit einer weitgehenden Rekatholisierung des Landes endeten.

François Rabelais (*1483 oder, wahrscheinlicher, 1494, auf dem Gut La Devinière bei Chinon/Touraine; † 9.4.1553 Paris).

Sein Name ist wohl fast jedem Franzosen bekannt und hat sich sogar als Adjektiv verselbständigt in Ausdrücken wie „une plaisanterie rabelaisienne“ (= ein deftiger Witz/Scherz). Er ist verknüpft mit Gargantua et Pantagruel, einem locker komponierten Romanzyklus, dessen 5 Teile 1532, 1534, 1546, 1548-52 und 1562-63 erschienen, wobei der letzte postum herauskam und z.T. nicht mehr authentisch ist. Vor allem die ersten Bände waren sehr erfolgreich; die Protagonisten, d.h. der junge Riese Pantagruel und sein Vater Gargantua, sind noch heute ein Begriff und haben ebenfalls Adjektive gezeugt: pantagruélique (avoir un appétit pantagruélique) und gargantuesque (un repas gargantuesque). Rabelais war jedoch auch als Gelehrter und als Arzt aktiv. Seine sehr mobile Existenz im Schlepptau hochstehender Gönner und auf der ständigen Suche nach Weiterbildung, zumal im Kontakt mit anderen Gelehrten, ist typisch für die humanistischen europäischen Intellektuellen der Zeit. Als Zeitgenosse Martin Luthers (1483-1546) und Jean Calvins (1509-1564) war er involviert in die heftigen religiösen Querelen der Epoche, wobei er selbst, wie so viele Humanisten, lange mit der Reformation sympathisierte, und zwar stärker als die offizielle franz. Literaturgeschichte dies zu sehen pflegt. Auch fand er als Gönner mehrfach Kirchenfürsten, die offenbar ebenfalls den Anliegen der Reformatoren relativ aufgeschlossen gegenüber standen und ihn protegierten.

Über Rabelais’ Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Geboren wurde er vermutlich auf dem o.g. Landgut nahe Chinon als jüngster von drei Söhnen eines wohlhabenden Grundbesitzers und Juristen, der nacheinander verschiedene Ämter in Chinon bekleidete. Er erhielt, vielleicht in der Benediktiner-Abtei von Seuilly bei Chinon, eine passable Bildung gemäß den damals gängigen Methoden (die er später im Roman karikiert). 1510 oder 11 wurde er Novize bei den Franziskanern, wohl in La Baumette nahe Angers. Um 1520 ist er als Mönch in Fontenay-le-Comte (Vendée) bezeugt.

Hier war er inzwischen durch einen älteren Mitbruder in Berührung gekommen mit dem von Italien her ausstrahlenden Humanismus und hatte (Alt-)Griechisch zu lernen begonnen. Auch hatte er Anschluss an den kleinen Zirkel gebildeter Leute gefunden, die es in Fontenay als regionalem Verwaltungs- und Justizzentrum gab. Darüber hinaus war er brieflich in Kontakt mit Gelehrten getreten, wie ein erhaltenes, 1521 datiertes und offenbar schon zweites Schreiben an den bekannten Humanisten Guillaume Budé beweist. Im Rahmen seiner griechischen Studien verfasste Rabelais gegen 1522 eine nicht erhaltene Übertragung von Buch I der Geschichte der Perserkriege des Herodot (5. Jh. v. Chr.) ins Lateinische.

In den 1520er Jahren wurde auch er, wie die meisten humanistisch Interessierten, von den Reformideen Luthers erfasst. Als 1523 alle Griechischstudien von der reformfeindlichen Pariser Theologiefakultät, der Sorbonne, als Vorstufe zur Ketzerei gebrandmarkt wurden, bekam er seine griechischen Bücher entzogen. Durch Vermittlung des Bischofs von Poitiers, Geoffroy d’Estissac, der zugleich Abt eines Benediktinerklosters war, erhielt er 1524 jedoch die päpstliche Erlaubnis, in dieses zu wechseln, und konnte so die eher bildungsfeindlichen Franziskaner mit den traditionell bildungsfreundlichen Benediktinern vertauschen. Offenbar lebte er aber meistens im Gefolge von Estissac in der Abtei von Ligugé bei Poitiers, wobei er ihm als Sekretär und vielleicht auch als Hauslehrer eines Neffen diente. Als sein Begleiter auf Reisen durch das Bistum kam er sichtlich in Kontakt mit Menschen verschiedenster Art und Herkunft. Möglicherweise besuchte er in diesen Jahren auch juristische Vorlesungen an der Universität Poitiers.

Wohl 1526 erschien sein erstes gedrucktes Werk, eine lateinische Versepistel an einen befreundeten Dichter-Juristen aus Ligugé. Von den franz. Versen, die er als junger Mann ebenfalls schrieb, ist so gut wie nichts erhalten.

1528 findet man ihn in Paris, vermutlich nach Zwischenstationen an den Universitäten Bordeaux, Toulouse und Orléans. Anscheinend hatte er unter der Hand den Status eines Weltgeistlichen angenommen, als der er freier war, seine Studien, nunmehr vor allem der Medizin, fortzusetzen und gelehrte Kontakte zu pflegen. Aus dem Kontakt mit einer Witwe gingen zwei uneheliche Kinder hervor, François und Junine.

Dies hielt ihn nicht in Paris, vielmehr schrieb er sich im September 1530 an der  berühmten medizinischen Fakultät in Montpellier ein, wo er schon im November Baccalaureus wurde. Die Medizin war damals ein fast reines Buchstudium mit den Schriften von Hippokrates und/oder Galenus als Quasi-Bibeln. Der Humanist Rabelais scheint sich denn auch vor allem philologisch mit der Medizin beschäftigt zu haben, denn in einer Vorlesung kommentierte er im Frühjahr und Sommer 1531 Texte der genannten Koryphäen, wobei er in revolutionärer Weise die griechischen Originale zugrunde legte.

Im Sommer 1532 findet man ihn in Lyon, wo er sich als Arzt betätigte und zugleich bei dem Drucker und Verleger Gryphe (Greiff) diverse gelehrte Werke herausgab. Hiervon ließ er sich jedoch nicht absorbieren, sondern verfasste auch einen Roman, der Ende 1532 in Lyon erschien: Les horribles et épouvantables faits et prouesses du très renommé Pantagruel, Roi des Dipsodes, fils du grand Gargantua. Composés nouvellement par maître Alcofrybas Nasier (= die schrecklichen und Furcht erregenden Taten und Mutbeweise des sehr berühmten P., Königs der Dipsoden, Sohnes des großen Riesen G. Kürzlich verfasst von Magister A. N.). Das Werk war also schon am Titel als Parodie erkennbar, und zwar vor allem der Gattung volkstümlicher Ritterroman. In der Tat hatte Rabelais sich an ein kurz zuvor anonym erschienenes Volksbuch angehängt: Les grandes et inestimables croniques du grand et énorme géant Gargantua (= die großen und unschätzbaren Chroniken des großen und enormen Riesen G.), wobei er einen Sohn zu dem Riesen erfand. Auch der kuriose Autorname war als humoristisches Pseudonym erkennbar (gebildet übrigens als Anagramm aus f-r-a-n-c-o-y-s-r-a-b-e-l-a-i-s).

In Pantagruel schildert Rabelais in der Rolle des Ich-Erzählers und Domestiken Alcofrybas die Kindheit und Jugend, die Studienjahre sowie die erste militärische Bewährung des Protagonisten, doch führt er zu Beginn der Studienzeit eine zweite, zunehmend wichtige Figur in die Handlung ein, nämlich den ewigen Studenten und Tausendsassa Panurge, mit dem er sich offensichtlich mehr identifiziert als mit dem Ich-Erzähler. Am Ende macht er jedoch auch diesen zur handelnden Person, die im Mund des jungen Riesen eine ganze Welt entdeckt, die der unseren ähnelt. Der Erfolg des äußerst locker strukturierten, mit zahllosen burlesken Anekdoten, witzigen Zitaten und satirischen Seitenhieben gewürzten Werkes war beachtlich. Es wurde allein 1533 und 34 acht Male, z. T. in Raubdrucken, neu aufgelegt. Die Theologen der Sorbonne allerdings stießen sich an Passagen, in denen ihre scholastische Haarspalterei karikiert und Positionen vertreten wurden, die dem „Evangelismus“ der Reformatoren entsprachen. Auch die hohen Richter des Parlements fühlten sich verspottet. Die Reaktion war eine Verurteilung des Buches durch die Sorbonne. Rabelais dagegen nutzte den Erfolg, indem er sogleich einen witzigen, z.T. horoskopartigen Almanach für das Jahr 1533 hinterherschob: La Pantagruéline Pronostication [=Vorhersage], die bei späteren Nachdrucken des Pantagruel oft an diesen angefügt wurde.

Ende 1532 erhielt er eine Anstellung am Lyoner Krankenhaus, dem Hôtel Dieu. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit frequentierte er die intellektuellen Zirkel der Stadt, die es zu dieser Zeit wirtschaftlich und auch geistig mit Paris aufnehmen konnte.

Wohl Anfang 1534 lernte er den Bischof von Paris und Mitglied des Kronrates Jean du Bellay (1498-1560) kennen, einen hochgebildeten, humanistisch interessierten Mann, der sich auf einer Reise nach Rom im Auftrag des Königs befand und in Lyon Station machte. Von ihm, dem wenig Jüngeren, wurde er als Leibarzt und Gesellschafter-Sekretär engagiert.

Bei seinem Aufenthalt in Rom (Febr. bis Apr. 34) erhielt Rabelais Einblicke in die Verhältnisse am päpstlichen Hof, wo man zwischen Frankreich und Kaiser Karl V. lavierte, mit dem Papst Klemens VII. seit der Eroberung und Plünderung Roms durch kaiserliche spanische Truppen 1527 unfreiwillig verbündet war. Vor allem interessierte er sich aber für die zahlreichen Spuren der Antike in der Stadt und ihrer Umgebung. Zurück in Lyon edierte er ein gelehrtes lateinisches Werk eines Italieners über die Topographie des antiken Rom.

Im Schlusswort des Pantagruel hatte Rabelais eine Fortsetzung mit weiteren Abenteuern seines Helden angekündigt. Statt dessen ließ er Ende 34 oder Anfang 35 anonym einen Roman erscheinen, dessen Handlung umgekehrt eine Vorgeschichte enthält: La Vie inestimable du grand Gargantua, père de Pantagruel, jadis composée par l’abstracteur de quinte essence. Livre plein de Pantagruélisme (= das unschätzbare Leben des großen G., Vaters von P., einst verfasst vom Quintessenz-Abstraktor. Ein Buch voller Pantagruelismus). Sichtlich hoffte Rabelais, mit den Verweisen auf den Pantagruel, an dessen Erfolg anzuknüpfen, was jedoch, sieht man die geringe Zahl der Nachdrucke, nur mäßig gelang. Zugleich aber vernebelte er seine Identität als Autor noch stärker und verlegte er die Entstehungszeit des Buches zurück auf ein vages „einst“. Sichtlich fürchtete er (zu Recht, wie sich zeigen sollte) eine erneute Verurteilung durch die Sorbonne. Denn dezidierter noch als im Pantagruel karikiert er anhand des Bildungsganges, den er seinen Protagonisten Gargantua durchlaufen lässt, die überkommenen scholastisch geprägten Lerninhalte und –methoden und propagiert er die neuen humanistischen Bildungsideale. Und auch der Schlussteil über die Abtei Thélème, einen idealen utopischen Ort, an dem eine geistige und soziale Elite von jungen Personen beiderlei Geschlechts ein Leben führt, das nur durch Vernunft, Selbstbeherrschung und die Lehren des Evangeliums geregelt ist, wirkt alles andere als orthodox katholisch. Nicht oder kaum kontrovers war vermutlich nur die ausführliche, wenn auch recht burleske Darstellung des legitimen Abwehrkrieges, den Rabelais seinen Gargantua gegen einen Agressor führen lässt, hinter dem man Kaiser Karl V. vermuten konnte, mit dem König François Ier seit Jahren um die Vorherrschaft in Italien, wenn nicht in Europa kämpfte.

Anfang 1535, soeben hatte er wieder einen Almanach drucken lassen, verschwand Rabelais aus Lyon, vermutlich um sich einer möglichen Verfolgung als Sympathisant der Reformation zu entziehen. Denn François Ier hatte Ende Oktober 34 entschieden Partei gegen die Reformatoren ergriffen und grünes Licht für Ketzer-Prozesse gegen sie gegeben, was eine Fluchtwelle auslöste. Glücklicherweise konnte Rabelais, der vielleicht bei Estissac untergeschlüpft war, wieder in den Dienst Du Bellays treten und ihn, der im Mai zum Kardinal erhoben worden war, erneut nach Rom begleiten. Bei einem Aufenthalt in Ferrara traf er auf Clément Marot (s.u.) und andere dorthin geflüchtete Sympathisanten der Reformation, die Asyl bei der Herzogin, einer Tochter von König Louis XII, gefunden hatten, die dem „Lutherismus“ nahestand.

Anschließend verbrachte Rabelais 1535/36 sieben Monate mit Du Bellay in Rom. Zweifellos über ihn erhielt er die Erlaubnis des Papstes (inzwischen Paul III.), pro forma in den Benediktinerorden zurückzukehren, und zwar als Mönch einer Abtei nahe Paris, deren Prior Du Bellay war. Dort sollte er, nach der beabsichtigten Umwandlung der Abtei in ein Stift, eine Pfründe als Stiftsherr mit regelmäßigen Einkünften bekommen. Die Umwandlung fand 1536 statt, doch wehrten sich die anderen Nutznießer gegen den Quereinsteiger. Rabelais musste eine Eingabe an den Papst richten. Der Ausgang der Angelegenheit ist unbekannt.

Anfang 1537 erwarb er, da ihm der Papst zugleich gestattet hatte, als Arzt tätig zu bleiben, in Montpellier auch den Doktortitel und hielt anschließend Vorlesungen über die Schriften des Hippokrates. Hierbei legte er erneut das griechische Original zugrunde und kritisierte die gängige lateinische Version als fehlerhaft. Im Sommer erregte er Aufsehen in Lyon, als er bei einem Aufenthalt dort die Leiche eines Gehenkten sezierte. Im Winter 37/38 hielt er wieder Kurse in Montpellier.

1538 finden wir ihn in Aigues Mortes mit Du Bellay, der hier an einem Treffen von König François mit Kaiser Karl teilnahm, die soeben einen Waffenstillstand und die Verheiratung eines Sohnes des Königs mit einer Tochter des Kaisers ausgehandelt hatten. Anschließend folgte Rabelais seinem Gönner nach Lyon.

Vermutlich 1539 (oder schon 1536?) wurde ihm ein Sohn, Théodule, geboren, der jedoch zweijährig starb.

Ende 1539 wurde er von Du Bellay an dessen kränkelnden älteren Bruder Guillaume de Langey weitergereicht, einen hohen Militär und ebenfalls sehr gebildeten Mann, der zum Gouverneur des Herzogtums Savoyen-Piemont ernannt worden war, das von franz. Truppen besetzt gehalten wurde. Von ihm wurde er nach Turin mitgenommen, der piemontesischen Hauptstadt. Hier verfasste er, unter dem Titel Stratagemata, auf Latein eine Geschichte der Feldzüge Langeys, die aber verloren ist. Die nächsten drei Jahre bis zu dessen Tod Anfang 1543 pendelte Rabelais mit ihm zwischen Norditalien und Frankreich.

1541 und 1544 brachte er erneut je einen Almanach heraus, letzteren unter dem Titel Grande et vraye pronostication nouvelle pour l’an 1544 (= große und wahre neue Vorhersage für das Jahr 1544).

1542 publizierte er in Lyon Versionen des Pantagruel und des Gargantua, deren Text etwas gereinigt und leicht entschärft war. Offenbar reagierte er hiermit auf die Vorwürfe, beide Bücher seien obszön und theologisch bedenklich, und hoffte er, als linientreuer Katholik zu erscheinen und so seine Ruhe zu haben. Auch die Titel wurden verändert. Das erste Buch hieß nun Pantagruel, Roi des Dipsodes. Restitué à son naturel, avec ses faits et prouesses épouvantables. Composés par feu M. Alcofribas, abstracteur de quinte essence (=P., König der Dipsoden. Naturgetreu wiederhergestellt (?), mitsamt seinen Schrecken erregenden Taten und Mutbeweisen. Verfasst von dem verstorbenen M. A., Quintessenz-Abstraktor). Der andere lautete, nur leicht verändert, La Vie très horrifique du grand Gargantua [etc.]. Etwa gleichzeitig druckte allerdings der pro-protestantische Drucker Étienne Dolet, ein einstiger Freund Rabelais’, sehr zu dessen Ärger eigenmächtig nochmals die ursprünglichen Versionen nach, wobei übrigens erstmals der Gargantua als Band I und der Pantagruel als ihn fortsetzender (und seinerseits noch weiter fortzusetzender) Band II figurierte.

Rabelais übernahm sofort diese Praxis und brachte noch 1542 ebenfalls eine zweibändige Ausgabe heraus unter dem Titel Grands annales ou chroniques très véritables des gestes merveilleux du grand Gargantua et Pantagruel son fils, roi des Dipsodes, enchroniqués par feu Maistre Alcofribas, abstracteur de quinte essence. Im Vorwort der Neuausgabe (deren Text heute i.d.R. den kritischen Editionen zugrunde liegt) attackierte er Dolet, dennoch wurde sie von der Sorbonne verurteilt.

Trotz der Verurteilung schrieb Rabelais einen Fortsetzungsband, mit dem er offensichtlich auf ein misogynes Buch von 1541, L’Amie de cour (=die Freundin am Hof) und eine profeministische Antwort darauf von 1542 reagierte, La parfaite amie (=die perfekte Freundin) von Antoine Hérouet. Hierin meidet er politisch-religiös brisante Themen und auch sein Humor ist weniger derb. Zudem wird Pantagruel kaum mehr als Riese darstellt, der allein durch seine Körpergröße groteske Effekte bewirkt. Im Zentrum der Handlung steht die Frage, ob Panurge, der neben oder gar vor Pantagruel die zentrale Figur ist, heiraten soll, oder – so sichtlich die Tendenz Rabelais’ - lieber nicht. Als dieser das Buch 1545 fertig hatte, durfte er es sogar der Schwester von König François, Marguerite de Navarre (s.u.), widmen und mit einem königlichen Privileg in Paris drucken lassen. Es erschien 1546, unter seinem richtigen Namen, als Le tiers livre des faits et dits héroïques du noble Pantagruel, composés par M. Franc. Rabelais, docteur en médicine (=das dritte Buch der heldenhaften Taten und Worte des edlen P. [etc.]).

Dennoch wurde es erneut verurteilt. Da zur selben Zeit das Parlement eine spezielle Kammer für Ketzer-Prozesse einrichtete (die anschließend 500 Todesurteile fällte) verschwand Rabelais aus Frankreich und schlüpfte unter bei einem Klienten Du Bellays in der damaligen freien Reichsstadt Metz. Dort verdingte er sich als städtischer Arzt und begann zugleich einen weiteren Fortsetzungsband. Dieser inspirierte sich an Berichten von den spektakulären Entdeckungsreisen der Zeit (z.B. Jacques Cartier, 1534-43) und schildert parodistisch eine fiktive Seefahrt, die Pantagruel und Panurge unternehmen, um das Orakel der „göttlichen [Wein-]Flasche“ (dive bouteille) zu finden, das die Frage, ob Heirat oder nicht, beantworten soll.

Nach dem Tod von König François (1547) ging Du Bellay einmal mehr in diplomatischer Mission nach Rom und nahm Rabelais dorthin mit. Auf der Durchreise übergab dieser in Lyon einem Drucker die ersten elf Kapitel des neuen Bandes, die 1548 als Le Quart livre des faits et dits héroïques [etc.] erschienen. In Rom, wo er mit Du Bellay zwei Jahre bis 1549 blieb, stellte er das Buch dann fertig. Hierbei beschreibt er u.a. satirisch ein Inselreich von asketischen Protestanten, den „Papefigues“ (Papstspöttern/-verächtern), aber auch eines von naiv papsttreuen Katholiken, den „Papimanes“, deren Bischof den Reisenden erklärt, wie Rom aus Frankreich Geld absaugt. Sichtlich meinte Rabelais damit dem neuen franz. König Henri II zu Gefallen zu sein, der die Etablierung einer von Rom unabhängigen „gallikanischen“ Kirche anstrebte. Als Anfang 1552, nunmehr in Paris, das Quart livre als Ganzes herauskam, hatte sich allerdings der Wind gedreht: König und Papst hatten sich arrangiert, Kritik an Rom war nicht mehr erwünscht. Entsprechend zögerte die Sorbonne nicht, das Buch zu verurteilen. Das Pariser Parlement zog nach und verbot es. Dass Rabelais es dem Kardinal Odet de Châtillon gewidmet hatte, war sicher wenig hilfreich gewesen, denn der war Neffe von Admiral Coligny, eines der Chefs der Protestanten.

Dem Erfolg des Buches tat das Verbot keinen Abbruch. Rabelais selbst musste allerdings Anfang 1553 die Pfründe in Meudon und eine weitere im Bistum Le Mans aufgeben, die er erst 1551 über Du Bellay erhalten hatte. Hiernach ist nichts mehr von ihm bekannt. Offenbar aber hatte er noch bis kurz vor seinem Tod im April 53 an einem weiteren Band gearbeitet, der die Fortsetzung und das Ende der Seefahrt schildern sollte. 1562 erschien postum, vermutlich auf Initiative seines Druckers, ein Teilstück unter dem Titel L’Île sonnante (= die klingende Insel), das den Besuch der Reisenden auf einer burlesk dargestellten Insel schildert, hinter der unschwer Rom zu erkennen war. 1563 kam, von unbekannter Hand komplettiert, der geamte Band heraus als Le cinquième livre [etc.] (= das fünfte Buch). Dieses wurde in die Gesamtausgaben des Zyklus aufgenommen, die kurz nach dem Tod Rabelais’ zu erscheinen begannen und lange Zeit mit beachtlicher Regelmäßigkeit erschienen.

Letzteres erstaunt umso mehr, weil Rabelais nicht nur der katholischen, sondern auch der protestantischen Seite konfessionell suspekt war. Auch wurde er, wegen seiner freimütigen Akzeptanz der Körperlichkeit des Menschen und von dessen Bedürfnis nach Lustgewinn, zunehmend als unmoralisch gerügt, und zwar ebenfalls sowohl von den prüder und rigoristischer werdenden katholischen Theologen als auch von ihren ohnehin moralinsauren protestantischen Kollegen, deren Vordenker Calvin (s.u.) ihn schon 1550 in seinem Traité des scandales heftig angegriffen hatte.

Vom zeitgenössischen Lesepublikum dagegen wurden Rabelais’ Romane vermutlich als erheiterndes Evasionsangebot genutzt in einer Zeit, wo es wenig zu lachen gab angesichts einer Realität, die beherrscht war von einer enormen religiösen und ideologischen Polarisierung. Denn diese reichte bis in die Familien hinein, bewirkte eine zunehmende Intoleranz der konfessionellen Parteien und ihrer Propagandisten und führte zu einer immer brutaleren Unterdrückung der Protestanten durch den Staat, der seit 1534 offen die katholische Partei unterstützte. Den Ausbruch der Religionskriege 1562 erlebte Rabelais nicht mehr.

Heute gilt er, auch wenn er aufgrund seiner archaisch gewordenen Sprache und seiner nur noch schwer verständlichen Wortspiele und Anspielungen wenig gelesen wird, als der größte franz. Autor des 16. Jh., einer der Großen der franz. Literatur überhaupt und speziell als Galionsfigur des moralisch nicht immer korrekten, dafür aber volkstümlich-heiteren esprit gaulois oder eben rabelaisien. Der Erfolg seines Romanzyklus beruht auf einer unnachahmlichen Kunst der Mischung: auf der Stilebene mengt Rabelais Ernst und Scherz, spielerische Ironie und bissigen Sarkasmus, derben Witz und hypergelehrte Pedanterie, lustige Wortspielereien und komisch verwendete echte und fiktive Zitate; auf der Strukturebene kombiniert er meist knappe, immer wieder die Grenzen zum Phantastischen und Grotesken überschreitende Handlungssequenzen und meist längere Erzähler- und Figurenreden, deren letztlich satirische Intentionen kaum zu übersehen sind, auch wenn sie sich oft verstecken, z.B. hinter einer scheinbaren Naivität der Sprecher. Nicht zu Unrecht erkannte die Sorbonne in dem Humoristen und Fabulisten den kritisch-selbständigen Geist und Anhänger eines unorthodoxen Evangelismus, auch wenn er letztlich, wie viele franz. Autoren der Zeit, pro forma Katholik geblieben war, vielleicht weil ihn der zunehmende religiöse und moralische Rigorismus der Protestanten abstieß.

Die erste deutsche Teil-Übertragung des Zyklus wurde von dem Straßburger Humanisten Johann Fischart verfasst und erschien 1575 unter dem Titel: Abenteuerliche und ungeheuerliche Geschichtsschrift von Leben, Raten und Taten der Herren Grandgusier, Gargantua und Pantagruel.

(Stand: Dez. 10)

 

Clément Marot (* 1496 Cahors; † 1544 Turin)

Er galt schon zu seinen Lebzeiten als der bedeutendste franz. Lyriker der Epoche und blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein ein sehr geschätzter und gern imitierter bzw. pastichierter (spaßhaft nachgeahmter) Dichter, den man als prototypisch betrachtete für die vermeintlich guten alten Zeiten.

Er wurde geboren als Sohn des Kaufmanns und angesehenen Dichters Jean Marot. Dieser stammte aus der Normandie, die Mutter aus Cahors in Südfrankreich. Hier verbrachte Marot seine Kindheit, wobei er zunächst zweisprachig aufwuchs, d.h. vor allem okzitanisch. Eine solide Schulbildung genoss er offenbar nicht, doch lernte er Latein sowie Italienisch und konnte sich eine gewisse klassische Bildung aneignen.

1506 erhielt der Vater durch Vermittlung einer adeligen Bewunderin einen Posten als Sekretär im Dienst der Königin, Anne de Bretagne. Später wurde er zum Kammerdiener (valet de chambre) bei ihrem Gatten Louis XII befördert.

Durch seinen Vater, dem er nach Paris gefolgt war, erhielt der junge Marot Kontakt zum Hof und bekam eine Stelle als Page bei einem hochrangigen Adeligen. Dieser verschaffte ihm etwas später einen Schreiberposten in der Chancellerie (quasi beim Justizminister) und protegierte ihn auch weiterhin.

Ab ca. 1511 schrieb Marot Verse, angeleitet vom Vater und von dessen Dichter- und Sekretärskollegen Jean Lemaire de Belges (s.o.). Daneben schulte er seine Feder mit Übertragungen von Texten der römischen Klassiker Vergil und Lukian. 1514 trat er erstmals an die Öffentlichkeit mit der Versepistel (épître) Le Temple de Cupido, verfasst zur Hochzeit von Claude de France, der Tochter von Louis XII, mit ihrem Cousin François d’Angoulême, der aufgrund des Fehlens eines direkten männlichen Thronerben engster Anwärter auf die franz. Krone war. Im selben Jahr wurde auch ein erstes Werk Marots gedruckt, die Épître de Maguelonne.

Nachdem François d’Angoulême schon 1515 als François Ier auf den Thron gelangt war (und Marots Vater Jean als Kammerdiener übernommen hatte), schaffte es Marot, dem nur zwei Jahre älteren jungen König mit weiteren Gedichten zu gefallen, z.B. einer witzigen Petite épître au Roi, und seine Sympathie zu gewinnen. 1519 wurde er von François dessen älterer Schwester empfohlen, Marguerite d’Angoulême (bzw. de Navarre, s.o.), die ihn als Kammerdiener und Sekretär in ihre Dienste aufnahm.

Dies hinderte Marot nicht, König François 1521 und 22 auf Feldzügen gegen Kaiser Karl V. in Flandern und im Hennegau zu begleiten. Meist jedoch lebte er als von ihm geschätzter Dichter und Unterhalter am Hof in Paris. Hier verfasste er bei den verschiedensten Anlässen und Gelegenheiten Texte in fast allen lyrischen Gattungen der Zeit. Eine Spezialität dieser frühen Schaffensphase waren, neben weiteren Versepisteln, kürzere Gedichte zum Thema Liebe, insbesondere Rondeaus und Chansons. Seine Texte verbreitete er in der Regel zunächst durch Lesung oder Vortrag vor seinem Zielpublikum, doch kursierten meistens rasch auch Abschriften Dritter.

Zweifellos war es durch den Einfluss Marguerites und ihrer Umgebung, dass Marot sich dem reformatorischem Gedankengut Luthers öffnete, das sich um 1520 als „Evangelismus“ auch in Frankreich zu verbreiten begann. Dies, aber zweifellos auch ein etwas lockerer Lebenswandel und vor allem eine spöttische Zunge, trug ihm Anfeindungen und bald auch Probleme ein. Insbesondere scheint er Richter des Obersten Gerichts, des Parlement, und Theologen der Sorbonne verärgert zu haben.

Als 1525 der König bei der Schlacht von Pavia in die Gefangenschaft von Kaiser Karl geraten und seine Schwester Marguerite zu Freilassungsverhandlungen nach Madrid gereist war, wurde Marot von einer rachsüchtigen Frau denunziert, er habe in der Fastenzeit Speck gegessen. Seine Feinde und Neider nutzten die Abwesenheit seiner fürstlichen Gönner und bewirkten im Februar 26 seine Inhaftierung im berüchtigten Pariser Stadtgefängnis, dem Châtelet. Dank der Fürbitte eines Freundes zog jedoch wenig später der Bischof von Chartres den Fall an sich und nahm Marot in eine Art Schutzhaft. Im Mai befreite ihn ein Gnadenakt des soeben zurückgekehrten Königs. Seine misslichen Erlebnisse im Châtelet schildert er sehr realistisch und mit bissigem Humor in einer Epistel mit dem sprechenden Titel L’Enfer, die er aber vorsichtshalber in der Schublade ließ, weil sie nur zu richtig als Attacke auf die Pariser Gerichtsbarkeit und ihre Schergen verstanden werden konnte.

Wenig später wurde Marot zum Nachfolger seines kürzlich verstorbenen Vaters im Kammerdieneramt ernannt. Als er 1527 er erneut im Kerker landete, weil er einem gerade von der Polizei festgenommenen Bekannten zur Flucht verholfen hatte, befreite ihn König François umgehend selbst. Die betreffende Anordnung und der vorangehende Hilferuf Marots in Gedichtform sind erhalten, ebenso ein launiges Dankgedicht.

Die Jahre nach 1526 waren sehr fruchtbar für Marot, zunächst auch dank seiner Verliebtheit in Anne d’Alençon, eine junge Nichte von Marguerites erstem Gatten, die ihn zu vielen Gedichten inspirierte. Vor allem jedoch fungierte er weiterhin als Hofdichter mit Gelegenheitsgedichten aller Art und zu allen möglichen Anlässen, wobei er u.a. die Gattung Epigramm, d.h. witzige, oft bissige, einstrophige Texte, entwickelte. Finanziell ging es ihm ebenfalls gut, so dass er 1529 (?) heiraten konnte und angeblich seine bald vorhandenen zwei Kinder täglich dankbar für den König beten ließ.

Nachdem 1531 als Raubdruck in Lyon eine erste Sammlung seiner Gedichte erschienen war, gab Marot 1532 unter dem etwas burschikosen Titel L'Adolescence [Jugendzeit] clémentine erstmals selber einen Sammelband heraus. Da dieser sehr erfolgreich war, ließ er 1534 einen weiteren Band folgen, die Suite [Fortsetzung] de l'Adolescence clémentine.

Schon um 1525 hatte er die Idee gehabt, nach quasi humanistischen Editionsprinzipien Werke der älteren franz. Literatur gedruckt herauszugeben. So hatte er 1526 ein Lieblingswerk seines Vaters, den Roman de la rose (Rosenroman, 13. Jh., s.o.), in leicht modernisierter Sprache ediert. 1533 besorgte er eine Ausgabe der Dichtungen von François Villon (15. Jh., s.o.).

Der Oktober 1534 brachte einen tiefen Einschnitt im Leben Marots. Er sah sich in die sog. Affaire des Placards verwickelt, eine Plakat-Aktion protestantischer Aktivisten (vielleicht aber auch verkappter katholischer Scharfmacher). Diese bewirkte, dass König François seine bis dahin geübte religiöse Toleranz oder auch Gleichgültigkeit aufgab, Partei bezog auf Seiten der konservativen Kräfte des Katholizismus und einer scharfen Repression des Protestantismus freien Lauf ließ, was rasch zu einer Reihe von Ketzerprozessen vor dem Parlement und zahlreichen Todesurteilen und Hinrichtungen führte , sowie eine erste Fluchtwelle auslöste (der z.B. auch [[Jean Calvin]] angehörte).

Als Marot erfuhr, dass auch er auf einer Liste von Verdächtigen stand, entschloss er sich, wie viele andere Gesinnungsgenossen, zur Flucht. Er ging nach Nérac im Béarn, das als Hauptort des franz. Teils des kleinen Rest-Königreichs Navarra diente, mit dessen Titularkönig Henri d’Albret seine Gönnerin Marguerite sich 1527 in zweiter Ehe verheiratet hatte. Nachdem er 1535 vom Pariser Parlement in Abwesenheit verurteilt worden war, zog Marot auf Anraten Marguerites weiter nach Ferrara an den Hof der Herzogin Renée d'Este, der jüngeren Tochter von König Louis XII, die mit Luthers Lehren sympathisierte und schon andere franz. Flüchtlinge beherbergte.

Von dort aus richtete er eine Bitt-Epistel an König François, worin er den Vorwurf, er sei „Luthériste“, zu entkräften versuchte und sich sarkastisch über seine Feinde in der Pariser Justiz und der Sorbonne beklagte. Er bekam aber keine Antwort, so dass er eine weitere Epistel verfasste, nunmehr an den Dauphin (Thronfolger).

Als er in Ferrara wenig später mit Duldung des Herzogs, der de jure Lehensmann des Papstes war, von der Inquisition bedrängt wurde, floh er 1536 weiter nach Venedig. Hier erreichte ihn die Nachricht, dass er vom König amnestiert worden war. Nachdem er in Lyon dem Protestantismus abgeschworen und sich von Lyoneser Sympathisanten etwas feiern lassen hatte, kehrte er Anfang 1537 zurück nach Paris und zu seiner Familie. Wieder aufgenommen am Hof wurde er dort zunächst in eine Fehde mit Gedichten verwickelt von einem alten Rivalen namens François de Sagon, der sich inzwischen als Platzhirsch betrachtete. Marot konnte sich durchsetzen und erreichte hiernach den Höhepunkt seiner Anerkennung.

1538 ließ er bei dem bekannten Drucker Étienne Dolet in Lyon unter dem schlichten Titel Les Œuvres eine erste Gesamtausgabe seiner Werke erscheinen. Im selben Jahr übertrug er Gedichte Francesco Petrarcas, darunter sechs Sonette, die vielleicht die ersten in franz. Sprache sind. 1539 bekam er vom König ein Haus in Paris geschenkt. Seine Stellung als bester Dichter seiner Zeit schien gesichert.

Schon 1533 hatte er einen Bibel-Psalm in franz. Versen und Strophen nachgedichtet. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil hatte er, auf Vorschlag von König François, diese Arbeit wieder aufgenommen und fortgeführt. 1541 gab er das Ergebnis unter dem Titel Trente psaumes de David mis en français in Druck und durfte das Buch sogar dem großen Gegner von François, Kaiser Karl V., widmen, als dieser während einer Kriegspause Paris besuchte.

Nachdem ihm die Trente Psaumes zunächst viel Lob eingebracht hatten als der erste gelungene Versuch einer künstlerisch adäquaten Nachdichtung der Psalmen, wurden sie 1542 auf Betreiben der Sorbonne überraschend verboten. Ein Grund war wohl, dass soeben der inzwischen eindeutig proprotestantische Dolet ohne Zustimmung Marots L’Enfer gedruckt hatte; ein anderer war sicher der Umstand, dass der Reformator Calvin, der in Genf  gerade an die Macht gelangt war, die Psalmen-Nachdichtung ebenfalls lobte und seinen Anhängern empfahl.

Da zugleich das Parlement eine neue Prozessaktion gegen Protestanten startete, verschwand Marot (so wie u.a. auch Rabelais, s.o.) aus Paris und ging nach Genf zu Calvin. Hier übertrug er weitere 20 Psalmen, so dass er 1643 eine Neuauflage mit nunmehr 50 Psalmen drucken lassen konnte. Kurz danach jedoch verließ er Genf, weil er Probleme mit Calvin und dessen fundamentalistisch strengem und asketischem Regime bekam. Er zog weiter in das von franz. Truppen besetzte Herzogtum Piemont-Savoyen, von wo aus er vergeblich Kontakt mit König François aufzunehmen versuchte. Nach kürzeren Aufenthalten in Annecy und Chambéry starb er 1544 verbittert in Turin. Kurz nach seinem Tod (dessen genaues Datum ebenso unbekannt ist wie das seiner Geburt) erschien eine Neuauflage der Œuvres.

Marots literarhistorische Bedeutung liegt darin, dass er (im Sinne seiner beiden Lehrmeister) einerseits die reiche eigenständige franz. lyrische Tradition mit ihrem vielfältigen Formenbestand weiterführte, sich andererseits aber als einer der ersten franz. Autoren auch an der zu dieser Zeit tonangebenden italienischen Lyrik inspirierte. Anscheinend war er es, der das Sonett in Frankreich einführte. Er pflegte insbes. die Gattung Versepistel, wobei er oft sehr persönlich wirkende Passagen einflicht; und er gilt vor allem als erster Meister, wenn nicht gar Erfinder der Kurzform Epigramm. Insgesamt verfasste er 65 Episteln, 80 Rondeaus, 15 Balladen, 300 Epigramme, 27 Elegien.

Viele seiner Gedichte gelten dem Thema Liebe, insbesondere Rondeaus und Chansons, in denen er höchst kunstvoll, mal eher ernst, mal eher scherzhaft und mitunter auch leicht anzüglich, die Begrifflichkeit und die Vorstellungswelt der überkommenen höfischen Lyrik aufnimmt und variiert.

Das Markenzeichen, vor allem der Gedichte, die der leichteren Muse gelten, ist ihre formale und stilistische Vielfalt bei gleichzeitiger Eleganz und spielerischer, oft verspielter Leichtigkeit des Ausdrucks: der sprichwörtlich gewordene „style marotique“.

Die Beurteilung Marots in Frankreich war nicht immer frei von konfessionell bestimmten Motiven. Dennoch war seine Nachwirkung groß, allein im 16. Jahrhundert wurden die Œuvres weit über zweihundertmal nachgedruckt.

Seine Cinquante psaumes wurden zum Kern des sog. Genfer Psalters (Hugenottenpsalter).

Sein Sohn Michel Marot, der Page bei Marguerite wurde, versuchte sich ebenfalls als Dichter, erreichte aber nicht entfernt die Bedeutung seines Vaters oder auch des Großvaters.

(Stand: Apr. 12)

Maurice Scève (* ca. 1500 in Lyon; † ca. 1560, vermutlich ebenfalls in Lyon).

Er gilt als der bedeutendste Vertreter der um 1550 blühenden sog. Lyoneser Dichterschule, deren einigendes geistiges Band die idealistische neoplatonistische Vorstellung von Liebe war, die man aus Italien übernommen hatte.

Über die Biografie Scèves ist wenig bekannt. Er war Sohn eines städtischen Richters aus alter Lyoneser Familie und erhielt eine gute humanistische Bildung. Er lebte überwiegend in und bei Lyon, das zu dieser Zeit dank seiner Nähe zu Italien wirtschaftlich florierte und auch geistig ein der Hauptstadt Paris fast ebenbürtiges Zentrum war, weil es nicht von stockkonservativen Institutionen wie der Sorbonne oder dem Parlement kontrolliert und erstickt wurde.

Scèves bekanntere Werke sind die Elegie Arion (1536), die Ekloge La Saulaie, églogue de la vie solitaire (1547) und vor allem Microcosme, ein 3000 Verse langes enzyklopädisches Gedicht (postum 1562 gedruckt). Hierin sieht Scève den Sündenfall Adams und Evas, bzw. ihre Vertreibung aus dem Paradies, als Voraussetzung für die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und damit allen Fortschritts, der in Form einer Traumvision Adams von der Zukunft der Menschheit an Beispielen dargestellt wird. Des weiteren verfasste Scève sog. Blasons, d.h. damals beliebte Gedichte, die (weibliche) Körperteile besingen, z.B. Le Sourcil oder Le Front oder Le soupir oder La Gorge.

Seinen Ruhm schon zu Lebzeiten verdankte Scève vor allem dem 1544 erschienenen Gedichtzyklus Délie, objet de plus haute vertu, den er 1537 begonnen hatte, nach der Begegnung mit seiner großen, aber unerfüllten Liebe, der ebenfalls dichtenden Pernette du Guillet (ca. 1520-1545). Der Zyklus beginnt mit einem achtzeiligen Zueignungsgedicht und umfasst dann 449 zehnzeilige Gedichte, die im Druck durch eingefügte Embleme in Gruppen unterteilt sind, und zwar nach dem System 5+(9×49)+3. Die in zehnsilbigen Versen verfassten Gedichte sind allesamt sehr kunstvoll, oft hermetisch. Sie sprechen von oder richten sich an eine ideale Geliebte, die als grundsätzlich unerreichbar vorgestellt wird, ähnlich wie die Beatrice von Dante oder die Laura von Francesco Petrarca, deren Grab Scève 1533 in Avignon gefunden zu haben glaubte. Mit Délie (der Name ist ein Anagramm aus L’-I-D-E-E) steht Scève gedanklich in der Tradition des italienischen Neoplatonismus und stilistisch in der der sog. petrarkistischen Liebeslyrik, wie sie von dem o.g. Petrarca um 1330 inauguriert, in ganz Mittel- und Westeuropa rezipiert und mehr als zwei Jahrhunderte hindurch imitiert wurde.

Scève kannte sich übrigens nicht nur in der italienischen Literatur gut aus (sowie selbstverständlich in der lateinischen und der griechischen), sondern auch in der spanischen, deren „siglo de oro“ (Goldenes Zeitalter) gerade begann. Er zählt zu deren ersten franz. Mittlern mit seiner Übertragung La deplourable fin de Flamecte, élégante invention de Jehan de Flores, espaignol, traduicte en langue françoise (1535, = das beklagenswerte Ende Flamettas. Eine elegante Erfindung von Juan de Flores…).

(Stand: Dez. 10)

Jean Calvin (eigentlich Jean Cauvin, *10.7.1509 in Nyon/Picardie, † 27.5.1564 in Genf).

In Deutschland praktisch nur in als wichtigster Reformator neben Luther und als Vordenker der „reformierten“ Protestanten bekannt, ist er in Frankreich, ähnlich wie Luther bei uns, zugleich eine bedeutende Figur der Literatur- und Sprachgeschichte.

Calvin war Sohn eines wohlhabenden Juristen, der im Dienst des Bischofs von Nyon stand und ihn zunächst für die kirchliche Laufbahn bestimmte. Er durfte am häuslichen Unterricht der Neffen des Bischofs teilnehmen und erhielt im Vorgriff einen Anteil an einer Pfründe an der Kathedrale von Nyon. Mit 14 wurde er nach Paris geschickt, wo er auf Kollegien (collèges) der Sorbonne die propädeutischen Studien der Septem Artes liberales absolvierte und dann theologische und kirchenrechtliche Studien betrieb. 1528 begann er jedoch auf Wunsch seines Vaters, der inzwischen in einen Rechtsstreit mit dem Bistum geraten war, ein Studium auch des Zivilrechts in Orléans, das er in Bourges fortsetzte und abschloss. Zurück in Paris, hängte er nach dem Tod des Vaters (1531) die Juristerei jedoch an den Nagel und widmete sich vor allem den im Trend liegenden humanistischen Studien, für die er sich schon in Bourges zu interessieren begonnen hatte. In diesem Sinne frequentierte er das soeben (1530) von König François Ier gegründete Collège des trois langues (Latein, Griechisch und Hebräisch) bzw. Collège des Lecteurs du roi und publizierte er 1532 als erste Frucht seiner neuen Studien einen lateinischen Kommentar zu einem Werk des römischen Klassikers Seneca.

Schon gegen 1528 war er in Paris über seinen Landsmann Pierre Robert, genannt Olivetan (den späteren Bibelübersetzer), in Berührung mit den Gedanken Luthers gekommen. Seine humanistischen Studien und seine Kontakte zu anderen franz. Humanisten, die damals in der Regel ebenfalls mit Luther sympatisierten, vertieften seinen reformatorischen Elan. 1533 erregte er Anstoß mit einer Rede, die er für den mit ihm befreundeten neuen Rektor der Universität zum Amtsantritt verfasst hatte und worin er energisch für die Reformation eintrat. Als die empörten Theologen der Sorbonne den Rektor und ihn vor dem Parlement als Ketzer verklagten, verschwand er aus Paris und fand zunächst unter falschem Namen Unterschlupf bei einem Freund in Angoulême. 1534 reiste er kurz nach Nyon, um seine Teilpfründe offiziell aufzugeben. Anschließend traute er sich zurück in die Hauptstadt. Als nach der sog. Affaire des placards (17./18. Okt. 34) in Frankreich eine systematische Verfolgung der Sympathisanten der Reformation begann, flüchtete auch er erneut und fand Zuflucht in Nérac, am kleinen Hof der Schwester des Königs, Marguerite de Navarre (s.o.), die mit den „Evangelischen“ sympathisierte. Hier lernte er den Bibelübersetzer Jacques Lefèvre d’Étaples (s.o.) kennen, der sich schon vorher dorthin zurückgezogen hatte. Die nachfolgenden Jahre lebte Calvin, wie so viele Gesinnungsgenossen, unstet im Exil. Hierbei verfasste er, überwiegend auf Latein, eine Vielzahl theologischer Schriften.

Eine davon war Christianae religionis institutio (=Unterweisung in der christlichen Religion), die seine Hauptschrift werden sollte und die er 1535 in Basel konzipierte und publizierte, einem Zentrum des deutschen Humanismus und Druckereiwesens der Zeit. In einem an François Ier gerichteten Vorwort distanziert sich Calvin von protestantischen Eiferern wie den Bilderstürmern von Münster und gibt der Hoffnung Ausdruck, dass der König, der ja so lange dem Humanismus aufgeschlossen gegenüber gestanden hatte, auch die Reformation unterstützt.

1536 hielt er sich einige Zeit bei der Herzogin von Ferrara auf, der Schwägerin von François Ier, die zu dieser Zeit zahlreiche emigrierte franz. Intellektuelle beherbergte, z.B. Clément Marot (s.o.). Auf der Rückreise kam er erstmals in den schweizerischen Stadtstaat Genf und blieb dort bei dem hierhin geflüchteten franz. Reformsympathisanten Guillaume Farel, der zu diesem Zeitpunkt den Stadtrat dominierte und ihn als Verbündeten in die Politik hineinzog. Ein Wechsel der Mehrheitsverhältnisse im Rat vertrieb sie jedoch beide 1538.

Calvin ging nach Straßburg, einem anderen geistigen Zentrum der Zeit, wo er, als Gast des bedeutenden Humanisten und Reformators Bucer, seine Institutio ins Franz. übertrug und 1541 als Institution de la religion chrétienne publizierte. Die Schrift wurde 1542 vom Pariser Parlement verboten und 1544 sogar vom Henker verbrannt, was der Verbreitung naturgemäß nutzte.

Inzwischen, 1541, war Calvin nach einem neuerlichen Mehrheitswechsel im Stadtrat von Genf dorthin zurückgerufen worden. In der nunmehr von protestantischen Emigranten majorisierten Stadt hielt er hinfort als Pastor (frz. pasteur) jeden Tag eine Predigt und wurde mit seinen Schriften und seiner rastlosen Aktivität zur zentralen Figur der Reformation im franz. Sprachraum sowie den Niederlanden, Teilen des westlichen Deutschlands und auch Englands. In dieser Rolle beriet und ermahnte er brieflich zahlreiche protestantische Fürsten und hochgestellte Persönlichkeiten. Daneben machte er Genf zu einer Art fundamentalistischen puritanischen Gottesstaat, wo es auch nicht eben tolerant zuging (und wo z.B. der Dissident Michel Servet 1559 abgeurteilt und verbrannt wurde).

1560 ließ Calvin eine Neuausgabe der Institution erscheinen, die er sprachlich und stilistisch im Sinne einer guten Lesbarkeit auch für weniger Gebildete überarbeitet hatte. Sie wurde das erste weitverbreitete theologische Werk in franz. Sprache und vermutlich einer der meistgelesenen franz.sprachigen Texte des 16. Jh. überhaupt. Die nüchterne und klare Ausdrucksweise wurde auch von Gegnern bewundert und zum Vorbild genommen.

(Stand: März 11)

Bonaventure des Périers (*ca. 1510, wahrscheinlich in Arnay-le–Duc/Bourgogne ; † ca. 1543, wohl in Lyon, vermutlich durch Selbstmord).

Über die Herkunft und Jugend Des Périers’ ist so gut wie nichts bekannt. Möglicherweise stammte er aus einer kleinadeligen Familie und erhielt jedenfalls eine passable humanistische Bildung. 1534/35 wird er erstmals greifbar, und zwar als Randfigur in dem Team junger Humanisten, das unter der Regie von Pierre Robert Olivetan in Neuchâtel mit protestantischen Intentionen die Bibel übersetzte. Danach findet man ihn als Mitarbeiter des bekannten Humanisten und Druckers Étienne Dolet in Lyon. Sichtlich verkehrte er auch in den intellektuellen Zirkeln der Stadt, denn er unterstützte z.B. 1536 mit einem Gedicht den aus dem Exil heimgekehrten Lyriker Clément Marot (s.o.) in seiner siegreichen Fehde mit einem anderen Hofdichter. In Lyon auch und ebenfalls 1536 begegnete er Marguerite de Navarre (s.o.), der mit der Reformation sympathisierenden hochgebildeten älteren Schwester von König François Ier. Er schaffte es, sie mit einem Gedicht auf sich aufmerksam machen und wurde als Kammerherr und Sekretär in ihren Dienst aufgenommen.

Seine Tätigkeit für Marguerite ließ ihm die Muße für eigene Werke. Das wichtigste ist das unter Pseudonym Anfang 1538 herausgekommene Cymbalum mundi en français, contenant quatre dialogues poétiques fort antiques, joyeux et facétieux (=die Pauke der Welt auf Französisch, die vier ziemlich alte, spaßige und witzige poetische Dialoge enthält). Das Büchlein erzählt in vier Kapiteln mit hohem Anteil von Figurenreden satirisch von einen Besuch des Jupiter-Sohnes Merkur im alten Athen, wo er mit allerlei seltsamen Personen und ihrem Gerede konfrontiert wird. Dieses Gerede spiegelt und ironisiert sichtlich die Borniertheit, den Fanatismus und den Egoismus sowohl der katholischen als auch der sich inzwischen untereinander befehdenden protestantischen Theologen und Wortführer. Im zweiten Kapitel z.B. glauben ein gewisser Rhetulus (=Lutherus) und Cubercus (=Bucerus, der bekannte Straßburger Humanist und Reformator) Stücke des Steines der Weisen finden zu können. Im letzten Kapitel, dem einzigen Dialog im engeren Sinne, unterhalten sich zwei Hunde über die Leichtgläubigkeit, mit der Menschen vermeintlich neuen Ideen aufsitzen.

Das sich an dem griechischen Satiriker Lukian (2. Jh. n. Chr.) inspirierende Werk scheint vordergründig vor allem humoristisch intendiert, ist jedoch bei näherer Betrachtung ein erster literarischer Ausdruck von Skeptizismus und religiösem Freidenkertum zwischen den konfessionellen Fronten. Es wurde von der Sorbonne als ketzerisch verurteilt und vom Parlement verboten, und zwar auf persönliche Initiative von König François (der vielleicht über seine Schwester die hintergründigen Motive des Werkes zu kennen glaubte?). Der Drucker wurde vorübergehend eingesperrt; Des Periers kam selbst mit dem Schrecken davon, scheint hiernach aber nur noch verdeckt von Marguerite protegiert worden zu sein. Auch der Reformator Jean Calvin (s.u.) tadelte später das Cymbalum in seinem Traité des scandales (1555). Die Autorschaft Des Périers’ ist übrigens nicht vollständig sicher, jedoch sehr wahrscheinlich.

Weitere Texte von ihm, vor allem Gedichte, wurden 1544 als Sammelband von einem Freund herausgegeben (der im Vorwort den Tod des Autors mitteilt). Erst 1558 erschien das Büchlein Nouvelles Récréations et joyeux devis (=neue Unterhaltsamkeiten und lustige Reden), eine für die Zeit typische Sammlung von Schwänken und Novellen, die von manchen Literarhistorikern als das beste Werk Des Périers’ betrachtet wird. Er hatte es offenbar zur etwa gleichen Zeit begonnen wie seine Gönnerin Maguerite ihre Sammlung L’Heptaméron.

Über die Umstände seines frühen Todes ist nichts Verlässliches bekannt, doch ist Selbstmord wahrscheinlich.

(Stand: Dez. 10)

Jacques Amyot (* 29. Oktober 1513 in Melun; † 6. Februar 1593 in Auxerre).

Er ist zwar heute auch als Name kaum mehr bekannt, hat aber mit seinen vielgelesenen Übertragungen griechischer Werke die Entwicklung der franz. Literatur stark beeinflusst.

Amyot stammte aus relativ kleinen Verhältnissen, doch konnte er sich in Paris eine theologische Bildung einschließlich Priesterweihe verschaffen und vor allem auch humanistische Studien betreiben. Wie so viele Humanisten dieser Jahre sympathisierte auch er mit der Reformation und geriet 1534, als deren Unterdrückung in Frankreich begann, kurz in Schwierigkeiten. Um 1536 war er einige Zeit Lektor (eine Art Privatdozent) für Griechisch an der Universität von Bourges, bevor er 1540 Hauslehrer der Kinder eines Königlichen Sekretärs wurde, der als Euripides-Übersetzer dilettierte. Über ihn erhielt er Kontakt zu König François Ier, der ihn 1542 mit einer Übertragung von Plutarchs „parallelen Biografien“ berühmter Griechen und Römer (ca. 110 n. Chr.) beauftragte und ihm kurz vor seinem Tod 1547 eine einträgliche Kirchenpfründe zuwies.

Die erste Übertragung, die Amyot erscheinen ließ, war allerdings 1548 die der Äthiopika von Heliodor (3. Jh. n. Chr.), der abenteuerreichen Liebesgeschichte des Theagenes und der schönen Chariklea. Das ohne Nennung des Übersetzers publizierte Buch (denn Liebesromane waren für Geistliche eher tabu) wurde in Frankreich, und nicht nur hier, unendlich viel gelesen und nachgeahmt, zu Theaterstücken verarbeitet (z.B. von Jean Racine, s.u.) und noch 1758 von Voltaire (s.u.) in Candide parodiert.

Zwischen 1548 und 52 unternahm Amyot mehrere längere Reisen nach Venedig und Rom, um dort Manuskripte seiner griechischen Autoren einzusehen. 1554 brachte er eine Übertragung von sieben Büchern der monumentalen Universalgeschichte des Diodoros von Sizilien († ca. 30 v. Chr.) heraus.

1557 wurde er von König Henri II und seiner Gemahlin Catherine de Médicis zum Hauslehrer ihrer jüngeren Söhne Charles (*1550) und Henri (*1551) bestellt. Als Charles nach dem raschen Tod seines soeben auf den Thron gelangten älteren Bruders François II (1559-60) diesem nachfolgte, wurde Amyot von ihm zum „Grand aumônier (=Großalmosenier) de France“ befördert.

Kurz zuvor (1559) hatte er endlich die Übertragung herausgebracht, an der er seit langem arbeitete und die als seine wichtigste gilt: Les vies des hommes illustres grecs et romains, comparées l'une avec l'autre par Plutarque, eine Sammlung von 46 Biografien historischer Figuren, die paarweise (z.B. Alexander und Cäsar) mit einander verknüpft sind. Die für heutige Begriffe sehr freie Übertragung war offenbar dem Erwartungshorizont franz. Leser gelungen angepasst und wurde sofort ein großer Bucherfolg. Noch zu Lebzeiten Amyots erschienen vier von ihm überarbeitete Neuauflagen sowie jeweils zahlreiche Nachdrucke. Auch in den nachfolgenden Jahrhunderten wurde der Plutarque immer wieder gedruckt, war obligate Lektüre für alle Gebildeten und eine wichtige Stoffquelle für Roman- und Theaterautoren.

Ebenfalls 1559 publizierte Amyot, einmal mehr ohne sich zu nennen, eine Übertragung von Longos’ idyllischem kleinen Liebesroman um die jungen Hirten Daphnis und Chloe (2. Jh. n. Chr.), der die Schäferliteratur im Frankreich der Zeit etablieren half.

Die 1562 beginnenden Bürgerkriege zwischen Protestanten und Katholiken tangierten ihn offenbar nicht sofort und unmittelbar. Vielmehr konnte er eine Übertragung vermischter moralphilosophischer Schriften Plutarchs vollenden, die 1572 unter dem Titel Œuvres morales erschien. Auch sie war ein großer Erfolg, wurde z.B. von Montaigne (s.u.) bewundert und beeinflusste die nachfolgende franz. Essayistik und Moralistik.

Inzwischen, 1570, war Amyot zum Bischof von Auxerre ernannt worden. In dieser Rolle entwickelte er sich zum energischen Verfechter eines katholisch orientierten staatlichen Zentralismus in Frankreich, in dem er das einzige Heilmittel sah gegen die ständig neu aufflammenden Religionskriege (deren Ende 1598 er nicht mehr erlebte).

(Stand: Jan. 11)

Louise Labé (* gegen 1524 nahe Lyon; † 25.4.1566 nahe Lyon).

Zu ihren Lebzeiten vor allem als emanzipierte Frau avant la lettre bekannt, gilt sie seit ihrer Wiederentdeckung gegen Ende des 18. Jh. als eine der bedeutendsten franz. Lyrikerinnen.

Sie war Tochter aus der zweiten Ehe des wohlhabenden Seilhändlers Pierre Charly, genannt L’Abbé oder Labé, und wuchs auf im damals wirtschaftlich und intellektuell prosperierenden Lyon. Sie erhielt eine für eine junge Bürgerliche der Zeit vorzügliche und vielseitige Bildung und lernte nicht nur mehrere Sprachen sowie die Laute spielen, sondern auch (wenn man ihrer dritten Elegie glaubt), kunstvoll zu sticken, zu reiten und sogar zu fechten. Sie wurde sehr jung, wohl ca. 16jährig, mit dem deutlich älteren reichen Seilfabrikanten Ennemond Perrin verheiratet und hieß fortan „la Belle Cordière“, die schöne Seilerin.

In ihrem Salon versammelte sie die Lyoneser Schöngeister und Literaten, z.B. den bekannten Lyriker Maurice Scève (s.o.). Sie ließ sich von ihnen anhimmeln und animierte sie, über alle Aspekte der Liebe und nicht zuletzt auch über die Stellung und Rolle der Frau in Dichtung und Gesellschaft zu diskutieren und zu schreiben. Auch selbst schrieb sie gelegentlich. 1555 stellte sie einen schmalen Sammelband ihrer Werke zusammen und brachte ihn bei dem bekannten Lyoneser Drucker Jean de Tournes heraus unter dem Titel Œuvres de Louise Labé, Lyonnaise.

Nach ihrer frühen Verwitwung (1560) zog sich Labé auf ein Landgut nahe Lyon zurück, wo sie relativ jung verstarb. Ihr Testament ist eines der wenigen Dokumente, die aus ihrem Leben erhalten sind.

Die knapp 200 Seiten der Œuvres enthalten (neben 24 Gedichten befreundeter Autoren) drei Komplexe: den Prosatext Le Débat d'Amour et de Folie (=Streitgespräch zwischen Amor und der Torheit), d.h. ein naturgemäß unernster Disput zwischen Amor und der Torheit samt Plädoyers von Apollo und Merkur sowie dem Schiedspruch Jupiters, weiter drei kürzere, teils autobiographische Elegien im Stil Clément Marots (s.o.) sowie vor allem die berühmten 24 Sonette, deren 3 oder 4 besten zu den schönsten Liebesgedichten in franz. Sprache gerechnet werden. Sie handeln von der schicksalhaften Leidenschaft eines mit der Autorin selbst identisch suggerierten weiblichen Ich zu einem seinerseits als nur lau vorgestellten fernen Geliebten, hinter dessen Figur sich wohl der heute praktisch unbekannte Literat Olivier de Magny verbirgt, der sich auf der Durchreise von Paris nach Rom eine Weile in Lyon aufgehalten hatte. Obwohl die Sonette formal und ideell ganz den petrarkistischen Dichtungskonventionen der Epoche entsprechen und sehr kunstvoll sind, wirken sie, wie stellenweise auch die Elegien, insgesamt ungewöhnlich bekenntnishaft und authentisch, so dass sie auch moderne Leser ansprechen können.

Labés Œuvres wurden bald nach dem Erscheinen mehrfach, auch an anderen Orten, nachgedruckt, gerieten aber schon im späten 16. Jh. in Vergessenheit. Eine Ursache war sicher der Ausbruch der jahrzehntelangen Religionskriege 1562, ein anderer Grund war vielleicht, dass der Reformator Calvin, der wohl im nahen Genf von Labé gehört hatte, sie um 1560 wegen ihres relativ emanzipierten, für eine Ehefrau leicht als unschicklich empfundenen Lebenswandels als „ordinäre Hure“ (plebeia meretrix) geschmäht hatte und dass auch die wieder prüder gewordenen Katholiken diese negative Wertung übernahmen. Die Wiederentdeckung Labés wurde eingeleitet von einer Neuausgabe ihrer Œuvres um 1760. Seit der Romantik gilt sie neben Scève als die bedeutendste Vertreterin der um 1550 blühenden sog. Lyoneser Dichter-Schule und bedeutende Autorin überhaupt.

In Deutschland ist sie nicht unbekannt dank der allerdings recht freien Übertragungen ihrer Sonette durch Rilke (1917 u.ö.). Z. Zt. sind sogar zwei neuere deutsche Übertragungen mit kompetentem Nach- bzw. Vorwort im Buchhandel erhältlich. Die Nachdichtung von Paul Zech (postum 1947 u.ö.) beruht auf der Übertragung Rilkes. Der 12teilige Zyklus Sonette einer Verschmähten von Rudolf G. Bindung ist sichtlich ebenfalls von der Labé-Figur Rilkes inpiriert. Auch in andere Sprachen wurden die Sonette im 19./20. Jh. erstaunlich oft übertragen.

2006 stellte eine Pariser Literaturhistorikerin die These auf, dass die unter Labés Namen gedruckten Werke in Wahrheit nicht von ihr selbst, sondern von anderen Lyoneser Autoren verfasst seien (z.B. der Débat von Scève und die Sonette von Magny). Die These ist jedoch angesichts des Fehlens von einschlägigen Dokumenten oder Zeugnissen schwer zu erhärten. Zu einem verbesserten Verständnis der Texte führt sie nicht.

(Stand: März 13)

Joachim du Bellay (* um 1522 auf dem Herrensitz La Turmelière in Liré bei Angers; † 1.1.1560 in Paris).

Er gilt neben Pierre de Ronsard (s.u.) als der bedeutendste franz. Lyriker der Mitte des 16. Jh.

Du Bellay (alphabetisch unter D einzuordnen!) war jüngerer Sohn aus einer ärmeren Linie eines alten Adelsgeschlechts des Anjou. Über seine jungen Jahre ist wenig bekannt. Offenbar verlor er sehr früh seine Mutter, war mit 10 Jahren Vollwaise und verlebte, von Kindheit an kränklich, unter der Vormundschaft seines 15 Jahre älteren Bruders eine freudlose Jugend. Eine solide Bildung erhielt er angeblich nicht, doch will er früh gedichtet haben. 1540 begann er ein Jurastudium in Poitiers, sicher mit der Absicht, sich für einen Posten in der königlichen Verwaltung bzw. Gerichtsbarkeit zu qualifizieren, den er sich erhoffen konnte dank der Protektion zweier Cousins seines Vaters: des Heerführers Guillaume de Langey und vor allem des Bischofs von Paris und Kardinals Jean du Bellay.

In Poitiers fand er Anschluss an einige humanistisch gebildete Literaten, insbes. Jacques Peletier du Mans (1517-82), und neulateinische Dichter. In diesem Kreis verfasste er Verse, ebenfalls zum Teil auf Latein. Spätestens hier lernte er zudem Italienisch und beschäftigte sich mit den Autoren der italienischen Renaissance, vor allem der Lyrik von Francesco Petrarca und dessen Nachfolgern.

Vielleicht schon 1543, bei der Beerdigung Langeys, hatte er den wenig jüngeren Dichterkollegen Pierre de Ronsard (s.u.) kennen gelernt. Bei einer Wiederbegegnung 1547 ließ er sich von ihm bereden, nach Paris zu kommen, um dort mit ihm bei dem bekannten Gräzisten Jean Dorat (1508-88) am Collège de Coqueret Studien auch der altgriechischen Literatur zu treiben. Wenig später gründete er mit Ronsard sowie einigen anderen, heute kaum bekannten Autoren einen Dichterkreis, den man zunächst „la brigade“ (= Trupp, Gruppe) nannte und der später (wohl 1556) von Ronsard in „la Pléiade“ (= Siebengestirn) umgetauft wurde.

Der Wechsel Du Bellays nach Paris trug rasch Früchte. Schon im März 1549 publizierte er zwei bedeutsame Werke: das programmatische Büchlein La Défense et illustration de la langue française (= Verteidigung und Berühmtmachung der franz. Sprache), das er seinem Verwandten, dem Kardinal, widmen durfte, sowie die Gedichtsammlung L'Olive et quelques autres œuvres poétiques (= die Olive und einige andere lyrische Texte).

Die Défense war ein Manifest der Theorien und der künftigen Praxis der Brigade-Autoren und war sicher die Frucht vieler Diskussionen in ihrem Kreis. Im ersten Teil wird das Französische zu einer Sprache von der gleichen Dignität proklamiert wie das Griechische, Lateinische oder auch Italienische; allerdings seien seine Ausdrucksmöglichkeiten und damit seine Eignung als Literatursprache durch die Dichter noch zu verbessern, und zwar vor allem durch die produktive Anverwandlung bedeutender Werke der genannten Sprachen. Der zweite Teil ist eine Poetik (die viele Anstöße einer im Vorjahr erschienenen Poetik des Pariser Juristen Thomas Sébillet verdankt), d.h. eine Anleitung zum Dichten. Neu ist, dass auch hier eine Orientierung der franz. Literatur, insbes. der Lyrik, an den Themen und am Formenschatz der antiken sowie der inzwischen als vorbildhaft geltenden italienischen Literatur gefordert wird, und zwar unter konsequenter Abkehr von der eigenen, angeblich mittelalterlich-gestrigen franz. Tradition, wie sie vor allem der eine Generation ältere Clément Marot (s.o.) und seine Schüler repräsentierten. Die zu ihrer Zeit zwar kurz diskutierte, dann aber nur noch mäßig beachtete Défense wurde im 19./20. Jh. von patriotischen Literarhistorikern, denen der selbstbewusste, quasi nationalistische Tenor Du Bellays gefiel, zu einem Schlüsseltext stilisiert.

L’Olive war die erste Sonett-Sammlung der franz. Literatur und, neben dem Gedichtband Délie von Maurice Scève (1544, s.o.), eine der ersten franz. Sammlungen petrarkistischer Lyrik. Die äußerst kunstvollen, auf heutige Leser oft manieriert wirkenden Sonette des Bändchens inspirieren sich überwiegend an italienischen Vorbildern und kreisen zumeist um eine unerreichbare ideale Geliebte namens Olive (deren eventuelle reale Identität unbekannt, aber auch unerheblich ist). Hierbei nimmt Du Bellay Gedankengut des Neoplatonismus auf, sowie gelegentlich auch christliche Vorstellungen. Ende 1550 brachte er eine zweite, von 50 auf 115 Stücke erweiterte Auflage heraus. Diese durfte er der Prinzessin Marguerite zueignen, der er im Vorjahr mit einem Begrüßungsgedicht an ihren Bruder, den neuen König (ab 1547) Henri II, aufgefallen war und die ihm auch weiterhin eine Gönnerin blieb.

Seinen humanistischen Interessen folgend betätigte Du Bellay sich zugleich als Vermittler lateinischer Klassiker und ließ 1552 eine Nachdichtung von Buch IV der Äneis Vergils und andere freie Übertragungen erscheinen. Anfang 1553 publizierte er ein weiteres Bändchen Gedichte, Recueil de poésie (=Gedichtsammlung).

Sein Gesundheitszustand in diesen Jahren war offenbar prekär (Tuberkulose?); u.a. litt er zunehmend unter Schwerhörigkeit, die ihm, dem ohnehin eher Depressiven, das Leben zusätzlich verdüsterte. Ebenfalls prekär war seine materielle Situation; anscheinend war er gezwungen, längere Prozesse um Besitzansprüche zu führen.

Im April 53 ließ er sich, da er nach dem Tod seines Bruders einen Neffen zu versorgen hatte, in die Dienste seines Onkels zweiten Grades, Kardinal du Bellay, aufnehmen, eines hochgebildeten Mannes, der bis kurz zuvor François Rabelais (s.o.) protegiert hatte. Wenig später begleitete er ihn nach Rom, wohin jener, einmal mehr, als Gesandter des franz. Königs reiste, um den Papst, d.h. den Kirchenstaat, auf die Seite Frankreichs zu ziehen in dessen Kampf gegen Kaiser Karl V. (der auf dem 1551 beendeten Konzil von Trient, das auf kaiserlichem Territorium stattfand, gerade seine Macht gegenüber dem Papst demonstriert hatte).

Der Rom-Aufenthalt Du Bellays dauerte gut vier Jahre, wobei er als Majordomus des Kardinals dessen prächtigen Palazzo und Hausstand verwaltete. Zwar bot ihm die Stadt dank der vielfältigen Beziehungen seines Dienstherrn neue Horizonte und bekam er Anschluss an Literatenkreise, wobei er einen Freund gewann in dem (heute kaum bekannten) Dichter Olivier de Magny, dem Sekretär eines anderen franz. Kardinals; doch absorbierte ihn sein Posten offenbar mehr als erwartet, ohne, wie es ihm schien, Karriereperspektiven zu eröffnen. Auch desillusionierten ihn die Einblicke, die er in die Verhältnisse am päpstlichen Hof und in die große Politik erhielt. So erlebte er 1555 zwei Papstwahlen samt ihren Intrigen hautnah mit, zumal bei der zweiten auch Du Bellay kurz Kandidat war; und 1556 sah er enttäuscht, wie jener in Ungnade fiel bei König Henri, der ohne Rücksicht auf ihn und die Bundesgenossen, insbes. den Papst, überraschend einen Waffenstillstand mit dem spanischen König Philipp II. schloss, dem Sohn Kaiser Karls, der dessen italienische Interessen weiter verfolgte.

Immerhin verfasste Du Bellay in diesen römischen Jahren zahlreiche Gedichte. Auch hatte er ein reales Verhältnis mit einer nicht nur idealen Faustina.

Im Spätsommer 1557 kehrte er mit dem Kardinal zurück nach Paris, wo er von ihm mit mehreren Pfründen versorgt wurde, deren Einkünfte er allerdings, wie üblich, mit den Priestern teilen musste, die ihn jeweils vor Ort vertraten. Ob er sich im Hinblick auf die Übernahme solcher Pfründen irgendwann zumindest die niederen Weihen erteilen lassen hatte, scheint nicht bekannt. Unbedingt nötig war es nicht.

In Paris fand er wieder Anschluss an die alten sowie auch an neue Literatenkollegen. Darüber hinaus versuchte er mit Gedichten zu verschiedenen offiziellen und anderen Anlässen am Königshof Fuß zu fassen, so wie dies während seiner Abwesenheit Freund Ronsard geschafft hatte, den er sichtlich beneidete.

Die Zeit nach der Rückkehr war sehr fruchtbar für Du Bellay. Im Januar 1558 ließ er sein wohl bedeutendstes Werk erscheinen: Les regrets (= Klagen). Es ist eine Sammlung von 191 Sonetten mit vielfältiger Thematik, aber einem gemeinsamen Unterton von Nostalgie, Frustration und Desillusion. Der größte Teil der Texte ist in Rom verfasst, ein kleinerer nach der Heimkehr. Sie beklagen, erstaunlich bekenntnishaft, existenzielle und psychische Nöte des Autors, insbes. sein Heimweh in Rom und die Enttäuschung seiner Karrierehoffnungen, die er dort sowie, anschließend, auch in Paris erlebte. Andere kommentieren, zunächst meist im Vergleich mit den vermeintlich besseren franz. Verhältnissen, aktuelle Ereignisse und Zustände der hohen und der weniger hohen Politik in Rom. Wieder andere karikieren sarkastisch die Höflinge dort, danach aber auch deren Kollegen am Hof in Paris, was natürlich wenig dazu beitrug, dem heimgekehrten Autor hier Sympathien zu verschaffen. Viele der Gedichte sind, so als wären sie Briefe, an namentlich genannte Freunde (z.B. Ronsard) und Bekannte gerichtet. Insgesamt war der Band der Regrets insofern neuartig und epochemachend, als er die Gattung Sonett als geeignetes Medium nicht nur für das Thema Liebe, sondern für ein breites Themenspektrum etablierte.

Ebenfalls im Januar 58 brachte Du Bellay den Sammelband Divers jeux rustiques (= diverse ländliche Spiele) heraus. Dieser enthält, ähnlich wie Ronsards Bändchen Folâtries von 1553, Gedichte der verschiedensten Gattungen und Sujets und zeigt, wie der Titel andeutet, einen überraschend heiteren, manchmal sogar witzigen Du Bellay.

Den melancholischen wiederum bietet Le premier livre des antiquités de Rome (= Buch I der römischen Altertümer), ein im März gedrucktes Bändchen mit 32 Sonetten. Hauptthema der ebenfalls zumeist in Rom verfassten Gedichte sind die in der Stadt (die in der Spätantike stark geschrumpft war) und in ihrer näheren Umgebung verstreuten antiken Ruinen bzw. das Gefühl von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, das sie in Du Bellay auslösten. Dasselbe Gefühl spiegeln die 15 Sonette, die unter dem Sammeltitel Songe (= Traum) an die Antiquités angehängt sind und eine Traumvision in 15 Bildern schildern, worin jeweils eine zunächst glanzvolle Erscheinung am Ende unrühmlich in sich zusammenfällt.

Zugleich mit den Antiquités gab Du Bellay eine vierbändige Sammlung seiner lateinischen Gedichte heraus, von denen einige relativ offen sein Verhältnis zu Faustina behandeln. Ende des Jahres erschien seine Übertragung von Platos Symposion.

Ebenfalls 1558 konnte er endlich den lange erhofften Karrieresprung verzeichnen: Er erhielt einen höheren Posten in der Verwaltung des Erzbistums Paris. Allerdings profitierte er kaum noch hiervon, denn er starb, depressiv und nach längerem Kränkeln, mit 37(?) an einem Herzschlag in der Nacht vom 1. auf den 2. Jan. 1560.

Postum kamen 1561 nochmals ein Bändchen Lyrik sowie einige andere Texte heraus. Hierunter sind einige politisch intendierte Discours (= Reden) in Versform, mit denen Du Bellay auf die Eskalation der innenpolitischen Spannungen gegen Ende der 1550er Jahre reagiert hatte. Die grausame Bestrafung der sog. Verschwörung von Amboise (1560) und den Ausbruch der Religionskriege 1562 erlebte er nicht mehr.

1568/69, in einer Friedenspause zwischen dem Zweiten und dem Dritten Religionskrieg, erschien die erste Gesamtausgabe seiner Werke, die mehrfach nachgedruckt wurde.

Auch aus der Distanz von fast fünf Jahrhunderten gesehen wirken viele seiner Gedichte lebendig und authentisch, seine Figur in ihrer Tragik sympathisch. Für sich selbst und seine Umgebung war er zweifellos (anders als sein glücklicherer Freund und Rivale Ronsard) ein schwieriger Fall.

(Stand: Dez. 10)

Pierre de Ronsard (* 6.9.1524 auf dem Herrensitz La Possonnière/Vendômois; † 27.12.1585 in Croix-Val/Vendômois).

Obwohl von den Zeitgenossen als “prince [Fürst] des poètes“ hoch geschätzt, geriet er bald nach 1600 in Vergessenheit. Seit seiner Wiederentdeckung durch die Romantiker gilt er als der bedeutendste franz. Lyriker der 2. Hälfte des 16. Jh.

Ronsard war jüngerer Sohn eines gebildeten und literarisch dilettierenden Adeligen, der sich als Offizier in den Italienkriegen der Könige Louis XII und dann François Ier hervorgetan hatte und von 1526 bis 1530, also während der frühen Kindheit Pierres, länger von seiner Familie getrennt war, weil er den beiden ältesten Söhnen von König François als Haushofmeister diente, während sie in Madrid von Kaiser Karl V. als Geiseln festgehalten wurden nach dessen Sieg in der Schlacht bei Pavia (1525).

Nachdem er zunächst von seinem Vater unterrichtet worden war, wurde Ronsard mit 9 aus dem ländlichen Schlösschen der Familie ins ferne Paris geschickt, um dort als Internatsschüler das Collège de Navarre zu besuchen. Schon nach sechs Monaten holte man ihn jedoch wieder heim. Mit 12 kam er erneut in die Hauptstadt, diesmal an den Hof. Hier wurde er, sicher dank der Nähe seines Vaters zum König und zu dessen Söhnen, Page bei dem ältestem, dem Thronfolger. Als dieser wenig später starb, wurde er dem dritten Königsohn, Charles, zugewiesen. Nicht lange danach, im Sommer 1537, wurde er an die 17jährige Tochter des Königs, Madeleine, weitergereicht, die soeben mit dem jungen schottischen König James Stuart verheiratet worden war. In ihrem Gefolge fuhr er nach Schottland und blieb dort bis zu ihrem frühen Tod (1538). Die Heimreise führte ihn auf dem Landweg durch England und Flandern. Mit 14 zurück in Paris, wurde er wieder Page bei Charles. 1539 kam er erneut nach Schottland, diesmal im Gefolge der neuen Braut des Schottenkönigs, Marie de Guise.

1540 begleitete er den franz. Diplomaten Lazare de Baïf, einen Verwandten, auf einer dreimonatigen Reise ins westliche deutsche Reich, u.a. ins Elsass, von wo aus jener Kontakt mit protestantischen deutschen Fürsten aufnehmen sollte, um sie als Bundesgenossen Frankreichs gegen Kaiser Karl V. zu gewinnen. Über den hochgebildeten Baïf kam Ronsard mit humanistischem Gedankengut in Berührung.

Von der Reise zurück, erlitt er eine Krankheit (Mittelohrentzündung?), die ihn „halb taub“  (einseitig ganz taub? beiderseits schwerhörig?) werden ließ. Er gab deshalb die bis dahin wohl angestrebte Offiziers- und/oder Höflings- und Diplomatenlaufbahn auf und kehrte nach Hause zurück. Hier las er, insbes. lateinische Literatur, und übte seine Feder an franz. und lateinischen Versen sowie an Nachdichtungen von Texten der großen römischen Dichter Vergil (ca. 70 – ca. 20 v. Chr.) und vor allem Horaz (ca. 65 - ca. 8 v. Chr.).

Mit 18 (1543) ließ er sich die niederen Weihen erteilen, um bei Gelegenheit eine oder sogar mehrere Kirchenpfründen bekommen zu können, über die die franz. Könige das Verfügungsrecht hatten und mit denen sie vorzugsweise jüngere Söhne adeliger Familien versorgten. Im selben Jahr zeigte er seine Nachdichtungen horazischer Oden dem etwas älteren Humanisten Jacques Peletier du Mans, der ihn ermutigte.

1545, nach dem Tod des Vaters, ging er zurück nach Paris. Hier fand er Aufnahme bei Baïf und nahm teil an dem Unterricht, den dessen (gut sieben Jahre jüngerer) Sohn Jean Antoine von seinem Hauslehrer erhielt, dem Gräzisten Jean Dorat (1508-1588). Beide Schüler folgten Dorat, als er 1547, nach dem Tod Baïfs, Direktor des humanistisch ausgerichteten Pariser Collège de Coqueret wurde. Ronsard mietete sich sogar bei Dorat ein und begann unter seinem Einfluss, Oden auch des altgriechischen Autors Pindar (521-441) nachzudichten.

Vielleicht schon 1543, bei einer Beerdigung, hatte er den wenig älteren Joachim du Bellay (s.o.) kennengelernt, der ähnliche Interessen verfolgte wie er. Ende 1547 traf er ihn auf einer Reise wieder und beredete ihn, ebenfalls nach Paris zu kommen, um bei Dorat in die Schule zu gehen. Zweifellos war er hiernach ein wichtiger Diskussionspartner Du Bellays und somit beteiligt an der Konzeption von dessen programmatischer Schrift La Défense et illustration de la langue française (=Verteidigung und Berühmtmachung der frz. Sprache, s.o.), die Anfang 1549 erschien.

Im selben Jahr 49 schlossen sich Ronsard, Du Bellay, Jean Antoine de Baïf, Dorat sowie einige weitere humanistisch interessierte Literaten zu einem Kreis zusammen, den sie zunächst „La Brigade“ = Schaar, Gruppe nannten (und der um 1556 von Ronsard, der rasch zum informellen Chef avancierte, auf sieben Mitglieder eingegrenzt und in „La Pléiade“ = Siebengestirn umgetauft wurde).

1550 publizierte er seine bis dahin verfassten Oden in dem Sammelband Les quatre premiers livres des Odes, dem er 1552 eine Fortsetzung folgen ließ als Le cinquième livre des Odes.

Der Publikumserfolg der Oden, mit denen er eine neue Gattung in der franz. Literatur heimisch zu machen und sich selbst als „erster französischer lyrischer Autor“ (Vorwort) zu etablieren gedachte, war geringer als erhofft. Zwar behandelten die Texte in einer Vielfalt von Formen eine Vielzahl von Themen, z.B. das Preisen mehr oder weniger bedeutender Personen (à la Pindar), das Lob schöner Natur oder des Glücks eines einfachen, den Augenblick genießenden Lebens in ländlicher Idylle (à la Horaz). Doch waren sie - vor allem die pompösen pindarischen Oden von Buch I und Buch V – häufig mit Gelehrsamkeit überfrachtet und zielten sichtlich mehr auf den Beifall der Freunde als einer breiteren Leser-/Hörerschaft. Zumal der Hof, zu dem Ronsard als Jugendgefährte des seit 1547 herrschenden Königs Henri II Zutritt hatte, reagierte kühl und bevorzugte die gefälligen Gedichte, wie sie insbes. der quasi offizielle Hofdichter Mellin de Saint-Gelais im Stil Clément Marots (s.o.) produzierte.

Ronsard nahm sich die Lektion zu Herzen. So ließ er noch 1552 unter dem Titel Les Amours de Cassandre einen Sammelband seiner neben den Oden verfassten Liebesgedichte – fast ausschließlich Sonette –  erscheinen. In ihnen besingt er eine gewisse Cassandra Salviati, die er am 21. April 1545 bei einem Hoffest in Blois als 13jähriges Mädchen in einer ähnlich flüchtigen poetischen Szene erblickt haben will wie Dante seine Muse Beatrice oder Petrarca am 6. April 1327 seine Laura. Wie weit diese Fernliebe echt empfunden war oder nur imaginiert, ist kaum zu entscheiden. Ein wichtiger Ansporn für Ronsard war sicher der Umstand, dass sein Freund Du Bellay schon vor ihm begonnen hatte, eine Muse namens Olive in Sonetten zu bedichten, die 1549 und 1550 als die erste Sammlung petrarkistischer Liebessonette in Frankreich erschienen waren.

Die Gedichte der Amours trafen, obwohl sie im manieristischen Stil des Petrarkismus der Zeit gehalten waren, den Geschmack am Hof schon besser als die Odes. Vor allem aber näherte Ronsard sich mit den Texten, die er anschließend schrieb, dem Stil Marots und seiner Schule an, den er in der Vorrede zu den Odes noch herablassend kritisiert hatte, um sich stolz als Jünger der Griechen und der Römer zu präsentieren. Darüber hinaus imitierte er, neben Horaz, nun auch Anakreon, d.h. die von Liebe, Wein und Lebenslust handelnden Lieder, die (fälschlich, wie man heute weiß) dem alten Griechen Anakreon zugeschrieben wurden und die sein Brigade-Freund Henri Estienne gerade herausgab (ersch. 1554), während sich zugleich ein weiterer Brigade-Freund, Rémi Belleau, mit ihrer Übertragung befasste (ersch. 1556).

Ronsards Hinwendung zu einem breiteren, wenngleich überwiegend höfischen Publikum zeigen auch die nächsten Sammelbände. Sie vereinen in bunter Mischung längere Oden sowie kürzere „Ödchen“ (odelettes), Sonette, Lieder, Elegien, Epigramme und andere Gedichte verschiedener Gattungen und unterschiedlichster Thematik. Ihre Titel lauten bezeichnenderweise Le Livret des folâtries, 1553 (=das Büchlein der Späße), Le Bocage, 1554 (=das Wäldchen) und Mélanges, 1554 (=Vermischtes).

Ronsards Bemühungen wurden nicht nur durch die Gunst des Publikums belohnt, sondern auch von König Henri, der ihm 1553 einige Pfründen zuwies (die kumulierbar waren). Hiermit war er finanziell erfreulich unabhängig, so dass er z.B. seine unmündigen Nichten und Neffen unterstützen konnte, als 1556 sein älterer Bruder verstarb.

1555 hatte er wieder ein Bändchen Liebesgedichte zusammen, die er als La Continuation [Fortsetzung] des Amours in Druck gab. 1556 ließ er ein weiteres Bändchen folgen: La nouvelle [neue] continuation des Amours. Beide enthalten Gedichte unterschiedlicher Form, die in einem natürlicher wirkenden „niederen“ Stil anfangs noch Cassandre besingen und später ein einfaches Mädchen namens Marie, die Ronsard  Anfang 1555 als 15-Jährige kennengelernt hatte.

Ebenfalls 1555 und 56, aber wie ein Kontrastprogramm, ließ er zwei Bände mit dem Titel Innes (= Hymnen) erscheinen. Denn er pflegte seit einiger Zeit eine weitere Versgattung nach griechischem Vorbild: längere Texte in paarweise reimenden Zehnsilblern oder Alexandrinern zum Lobpreis bedeutender Personen am Hof, z.B. des Kanzlers Michel de l’Hospital, aber auch mythologischer Figuren oder abstrakter Wesenheiten wie die Ewigkeit oder der Tod. Die Innes trugen sehr dazu bei, das Ansehen Ronsards am Hof zu erhöhen.

1558, nach dem Tod von Saint-Gelais, bekam er dessen Amt eines „conseiller et aumônier du roi“ (Königlicher Rat und Almosenier) übertragen. Zugleich fiel ihm wie selbstverständlich die Rolle eines Hofdichters zu, der zu vielerlei Anlässen Gelegenheitsgedichte produzierte.

Auch nach dem Unfalltod von Henri II (1559) blieb die Position Ronsards am Hof intakt. 1560 erhielt er von dem neuen jungen König François II (1559-60) bzw. der Königinmutter und Regentin Catherine de Médicis weitere Pfründen und war damit ein wohlhabender Mann.

Ebenfalls 1560 ließ er eine erste Gesamtausgabe seiner Werke erscheinen, die er in vier Sektionen bzw. Bände einteilte: Les Amours, Les Odes, Les Poèmes (Gedichte verschiedenster Art) und Les Hynnes. Diese Einteilung behielt er in den nächsten Neuausgaben bei, wobei er die zwischenzeitlich neu entstandenen Gedichte jeweils in die passenden Sektionen einfügte.

1561 präsentierte er dem neuen, erst 12jährigen König Charles IX (1560-74) ein Lehrbuch für junge Monarchen (Institution [Unterweisung] pour l’adolescence du Roi). Das in Alexandrinern verfasste Büchlein zielte zweifellos vor allem auf den Beifall der Regentin. Den verdeckten Hintergrund bildete allerdings die innenpolitische Situation in Frankreich, wo seit dem Vorjahr 1560 die Spannungen zwischen Katholiken und Reformierten stark eskaliert waren. 

Als 1562 offener Bürgerkrieg ausbrach, konnte Ronsard, der sich bis dahin eher als ein Hohepriester der Dichtkunst gesehen hatte, die Politik nicht mehr nur indirekt behandeln. Da er offenbar der Reformation nicht völlig ablehnend gegenüber gestanden hatte, versuchte er zunächst ausgleichend zu wirken und veröffentlichte in diesem Sinne als Broschüren mehrere „Reden“ (discours) in gereimten Alexandrinern: D. à la Reine (=Rede an die Königin); D. sur les misères de ce temps (=Rede über die Nöte der Gegenwart); Rémontrance au peuple de France (=Mahnung an das franz. Volk; alle 1562). Wenig später allerdings engagierte er sich entschieden auf Seiten der katholisch gebliebenen Krone und wurde zum gefürchteten Pamphletisten, wobei er sicher auch an seine hübschen Kirchenpfründen dachte, die er als Protestant hätte aufgeben müssen. Als ihm die Gegenseite, um ihn zu diskreditieren, einen Hang zum Wohlleben vorwarf, konterte er mit der Réponse aux injures et calomnies de je ne sais quels prédicantereaux et ministreaux de Genève (=Antwort auf die Anwürfe und Verleumdungen irgendwelcher [protestantischer] Genfer Prediger- und Priester-Laffen, 1563). Naturgemäß war er hiermit für die Protestanten abgestempelt als katholischer Autor.

1564 und 1566 begleitete er Charles IX und die Königinmutter auf zweien ihrer nur kurzfristig erfolgreichen Befriedungsreisen in die Provinz. Zwischendurch, 1565, publizierte er jedoch auch wieder Unpolitisches: den Gedichtband Élégies, mascarades et bergeries [Schäfereien], der vor allem Gelegenheitslyrik aus seiner Rolle als Hofdichter enthält, sowie einen Abrégé de l'art poétique [=Abriss der Dichtkunst], worin er grosso modo das Programm der Pléiade resümiert.

Nach 1566 zog er sich aus der Politik wieder zurück und weilte immer häufiger in seinem Priorat Saint-Cosme in der Touraine, das er 1565 erhalten hatte. Hier stellte er 1567 eine neue Gesamtausgabe seiner Werke fertig, der er 1569 zwei Bändchen mit diversen „poèmes“ folgen ließ.

Anschließend machte er sich an das große Projekt seines Lebens: das Versepos La Franciade. Schon 1550 hatte er Henri II den Plan eines Epos um den legendären Frankenreichgründer Francus unterbreitet, das sich inspirierte an den Illustrations de Gaule et singularités de Troye von Jean Lemaire de Belges (1511-13, s.o.). Jetzt, fast 20 Jahre später, nahm er das Werk endlich in Angriff, nicht zuletzt mit der Absicht, dem konfessionell gespaltenen und soeben in den Dritten Religionskrieg (1569/70) gerutschten Frankreich ein nationales Epos nach dem Muster von Vergils Aeneis zu geben. 1572 gab er 4 von 24 geplanten Gesängen in Druck, sie erschienen wenige Tage vor dem Protestantenmassaker der Bartholomäus-Nacht (22./23. August). Hiernach brach er die Arbeit ab. Sichtlich hatten sich seine Hoffnungen auf eine innere Befriedung Frankreichs als Illusion erwiesen. Vielleicht auch sah er, dass er letztlich doch kein Epiker war. Zudem hatte sich wohl der Zehnsilbler, den er auf Vorschlag König Charles als Metrum gewählt hatte, als nicht recht geeignet erwiesen. Hinzu kam vermutlich aber auch, dass er selbst sowie sein Publikum sich nur noch mühsam erwärmen konnten für die apokryphe Figur des Francus, jenes erst im Mittelalter erfundenen Sohnes des trojanischen Helden Hektor, der sich zusammen mit dem legendären Rom-Gründer Äneas aus dem brennenden Troja gerettet und seinerseits „Francia“ und sogar die Dynastie der Kapetinger gegründet habe. Denn inzwischen (1560) war das sehr erfolgreiche Buch Recherches de la France von Étienne Pasquier (s.u.) erschienen, das die Vorstellungen der Franzosen rasch in dem Sinne veränderte, dass nicht irgend ein Francus (und auch nicht die Römer) ihre Urväter seien, sondern die keltischen Gallier. Die später an den Schluss des Epos angefügte Begründung Ronsards, der Tod von Charles IX (1574) habe ihm den Mut zur Vollendung des Werkes genommen, ist sicher eher vorgeschoben.

Nach dem Scheitern der Franciade und angesichts der fast pausenlosen Religionskriege, aber wohl auch des Umstands, dass ihn der neue König Henri III (seit 1574) nicht gebührend schätzte, zog Ronsard sich zurück auf seine beiden Lieblingspfründen Saint-Cosme nahe Tours und Croixval im Vendômois. Hier überarbeitete er seine Werke im Hinblick auf eine weitere (die inzwischen fünfte) Gesamtausgabe. Sie erschien 1578 und enthielt als neue Elemente der Sektion Les Amours eine Serie melancholischer Gedichte über den Tod Maries und vor allem die rd. 130 Sonnets pour Hélène. Mit diesen Gedichten auf Hélène de Surgères, eine Ehrenjungfer der Königinmutter, feierte Ronsard ein spätes, so überraschendes wie anrührendes Comeback als Liebeslyriker.

Zunehmend kränklich, überarbeitete er in den folgenden Jahren nochmals grundlegend das Korpus seiner Werke, wobei er allerdings, wie schon bei den vorangehenden Überarbeitungen, manche heute als gelungen erscheinende Texte tilgte und andere eher verschlimmbesserte. 1584 ließ er die sechste und letzte Gesamtausgabe erscheinen, die als Bocage royal eine weitere Sektion vermischter Gedichte enthielt.

Daneben und danach schrieb er, wie immer, auch Neues. Seine letzten Gedichte, die er z.T. angesichts des nahen Todes verfasste, kamen postum 1586 als Les derniers vers heraus.

Trotz seines Ruhmes und seiner tonangebenden Rolle zu Lebzeiten geriet Ronsard relativ rasch in Vergessenheit. Grund waren nicht zuletzt die abwertenden Urteile, die eine bzw. zwei Generationen später die Literatur-Gurus François de Malherbe (s.u.) und Nicolas Boileau (s.u.) über ihn fällten. Die Romantiker entdeckten den im engeren Sinne lyrischen Teil seines Schaffens wieder und die Literarhistoriker des 19./20. Jh. wiesen ihm den insgesamt sehr hohen Rang zu, den er sich selbst schon im Schlussgedicht der Odes zuerkannt hatte.

(Stand: Apr. 12)

Étienne Pasquier (* 7.6.1529 Paris; † 30.8.1615 ebd.).

Für die Zeitgenossen und die Nachwelt war und ist er vor allem der Autor der Recherches de la France (=Forschungen über Frankreich), eines teils historiographischen, teils essayistischen Werkes, das erstmals 1560 und dann 1565, 1596, 1607 sowie postum 1621 in überarbeiteten und um neue Kapitel erweiterten Versionen erschien und eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung der nationalen Identität der Franzosen gespielt hat.

Pasquier stammte aus dem gebildeten Pariser Bürgertum und studierte Jura in Paris und Toulouse sowie in Bologna und Pavia, wo er neben seiner juristischen auch seine humanistische Bildung vervollkommnete und sich mit der seinerzeit als vorbildhaft geltenden italienischen Literatur beschäftigte. Hier aber auch, im gerade zwischen Frankreich und Deutschland/Spanien umkämpften Italien, wurde er sich seiner Identität als Franzose bewusst.

1549 zurück in Paris, erhielt er die Zulassung als Anwalt am Obersten Pariser Gericht, dem Parlement. Neben seiner offenbar nicht absorbierenden Tätigkeit als Jurist verkehrte er mit Autoren der Dichtergruppe der Pléiade, u.a. Ronsard (s.o.) und Du Bellay (s.o.), und publizierte diverse kleinere Texte, in denen er häufig das idealistische neoplatonische Liebesideal hinterfragt und diesem modischen Import aus Italien die realistischere Sicht des Franzosen entgegensetzt.

Vor allem aber verfolgte er das Thema Frankreich, genauer das des Werdens und der Identität der franz. Nation, deren innerer Zusammenhalt durch die seit 1534 zunehmende konfessionelle Spaltung gefährdet war. Hierbei sah Pasquier die Wurzeln der Nation nicht, wie bis dahin üblich, bei den Römern oder den Franken oder gar dem legendären Trojaner Francus, sondern bei den keltischen Galliern. Entsprechend war sein Hauptziel der Nachweis einer geradezu exemplarischen konstitutionellen und kulturellen Eigenständigkeit Frankreichs, die schon bei den Galliern angelegt gewesen, nach dem Intermezzo der Römerzeit wiederbelebt und dann von Königen, intellektueller Elite und Volk kontinuierlich weiterentwickelt worden sei. Mit diesen durchaus nationalistische Züge tragenden Vorstellungen, die er in den Recherches ausführte, propagierte Pasquier zugleich die Idee, dass die Belange der in Jahrhunderten organisch gewachsenen Nation Vorrang hätten vor den wechselnden Partikularinteressen und insbes. vor der konfessionell motivierten Parteilichkeit, mit der Katholiken und Protestanten ihr Vaterland spalteten und sogar auswärtige Mächte wie England oder Spanien in ihren Konflikt hineinzogen.

Mit seiner Idee vom Vorrang des Interesses der Nation war Pasquier einer der ersten „Politischen“ (politiques), d.h. jener bald wachsenden Zahl überkonfessionell denkender Intellektueller und Amtsträger, die angesichts der seit 1562 immer wieder aufflammenden Religionskriege Frankreich zu befrieden versuchten, dies allerdings erst 1598 unter dem vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierten König Henri IV1) schafften.

1564 machte Pasquier von sich reden durch ein fulminantes Plädoyer für die traditionsreiche, so typisch französische Pariser Universität und gegen die ultramontan orientierten Jesuiten, die gerade das neuartige Collège de Clermont gegründet hatten. Mit seiner Schelte der quasi vaterlandslosen Jesuiten hatte er ein Thema gefunden, das ihn immer wieder beschäftigen sollte, z.B. 1602 mit dem sarkastischen Catéchisme des Jésuites, dem später Blaise Pascal (s.o.) manche Anregung für seine anti-jesuitischen Lettres provinciales (1656-57) entnahm.

1585 wurde Pasquier (sicherlich auch dank dem Erfolg der Recherches) Generalstaatsanwalt am königlichen Rechnungshof, was er zwei Jahrzehnte lang blieb. Auch dieser Posten absorbierte ihn sichtlich nicht völlig, denn neben diversen kleineren, häufig polemischen Texten publizierte er ab 1586 viele Bände literarischer Briefe, die mit denen des Römers Plinius oder des Italieners Claudio Tolomei rivalisieren sollten.

1588 bis 94 war Pasquier Abgeordneter der Stadt Paris bei der intermittierend tagenden Versammlung der Generalstände in Blois.

Mit seinem Werdegang war er ein typischer Vertreter des neuen Amtsadels, der „noblesse de robe“, d.h. einer aus der königlichen Justiz- und Verwaltungselite samt ihren Familien bestehenden Schicht zwischen dem höheren Bürgertum und dem älteren Adel, der „noblesse d'épée“ (Schwertadel).

Vielleicht könnte man Pasquier, mit seiner Hervorhebung der keltischen Ursprünge Frankreichs, als den entfernten geistigen Vater der urkeltischen Ur-Franzosen Astérix und Obélix betrachten.

(Stand: Jan. 11)

1) Henri IV, König von 1589 bis 1610. Der 1553 geborene Henri de Navarre (Enkel von Marguerite de Navarre) stammte aus einer Seitenlinie des franz. Königshauses und war ursprünglich Protestant, ab 1576 sogar Chef des protestantischen Lagers. Als 1584 der präsumptive Nachfolger des kinderlosen Königs Henri III, dessen jüngerer Bruder François d'Alençon, starb und 1589 Henri selbst ermordet wurde, war Henri de Navarre die Nr. 1 in der Rangfolge der Thronanwärter. Er musste jedoch sein Anrecht auf den Thron in jahrelangen Kriegen gegen die von Spanien und Savoyen unterstützte Katholische Liga und deren Gegenkönig Charles de Bourbon durchsetzen. 1594, also einige Jahre nach seinem Griff nach der Krone konvertierte Henri mit dem berühmten Satz „Paris vaut bien une messe!“ (Paris ist eine Messe wert), und nach seinem endgültigen Sieg über die Liga (1598) verstand er es, Frankreich zu befrieden, nicht zuletzt durch das Toleranzedikt von Nantes, das den Protestanten Religionsfreiheit und volle Bürgerrechte einräumte. 1610 wurde auch er von einem religiösen Fanatiker ermordet. Henri IV ging als besonders volkstümlicher Herrscher, „le bon roi“, in die franz. Geschichte ein und ist bis heute jedem auch nur halbwegs gebildeten Franzosen ein Begriff. Legendär war er auch als „l’amant vert“ (der jugendlich vitale Liebhaber).

Jean Bodin (*1529 oder 1530 in Angers ; † 1596 in Laon)

Er gilt als der erste franz. Staatstheoretiker von Rang. Sein Hauptwerk Les six livres de la république / Sechs Bücher über den Staat wird als einer der Gründungstexte der Politikwissenschaft betrachtet.

Bodin wuchs auf in kleinbürgerlichen Verhältnissen (als Sohn eines Schneiders?) in Angers. Er konnte sich aber eine passable Bildung verschaffen, offenbar bei den Karmelitermönchen seiner Stadt, wo er auch Novize wurde. Die gelegentlich zu findende Information, er habe sich zeitweilig in Genf aufgehalten und sei 1547/48 in Ketzerprozesse verwickelt gewesen, betrifft vielleicht einen sonst unbekannten Namensvetter.

1549 verließ er das Kloster, ohne das Gelübde abzulegen, und ging nach Paris. Hier trieb er theologische Studien, hörte aber auch am jungen Collège des trois langues und kam so mit dem Humanismus in Kontakt. Er kehrte der Theologie den Rücken und studierte und lehrte im weiteren Verlauf der 1550er Jahre Recht in Toulouse, wobei er sich besonders für den Vergleich von Rechtssystemen interessierte.

1561 ließ er sich in Paris nieder und erhielt hier die Zulassung als Anwalt am Obersten Gericht, dem Parlement.

Seine rechts- und staatstheoretischen Interessen verfolgte er in Paris auch nach Beginn der sog. Religionskriege (1662) weiter. 1566 publizierte er eine erste Schrift, Methodus ad facilem historiarum cognitionem (= Methode zum leichten Begreifen der Geschichte), worin er aufzeigt, dass historische Kenntnisse, insbes. der verschiedenen Rechtssysteme, nützlich sein können für die Gesetzgebung der Gegenwart.

Sein nächstes Werk, Réponse de J. Bodin aux paradoxes de M. de Malestroit, erschien 1568: Hierin analysiert er als offenbar erster quasi wissenschaftlich das vor dem 16. Jh. unbekannte Phänomen der Inflation oder schleichenden Geldentwertung und erklärt es zutreffend, wenn auch zu monokausal, aus der starken Vermehrung der Zahl der Silbermünzen, die vor allem mit dem Silber geprägt wurden, das reichlich aus den spanischen Kolonien in Amerika kam. Vermutlich war Bodin mit seinen Thesen nicht unbeteiligt daran, dass 1577 König Henri III (letztlich vergeblich) per Erlass versuchte, den Wert der Silbermünzen (livres) im Verhältnis zum Goldtaler (écu) zu stabilisieren.

Von März 1569 bis August 1570, während des inzwischen Dritten Religionskrieges, war er in Paris inhaftiert, vielleicht jedoch in einer Art Schutzhaft, um ihn, der offenbar als verkappter Protestant verdächtigt wurde, den Verfolgungen katholischer Eiferer zu entziehen. Danach gehörte er zu dem hochkarätigen Berater- und Diskussionskreis um Prinz François d'Alençon (bzw. ab 1576 d’Anjou), den ehrgeizigen vierten und jüngsten Sohn von Henri II, der sich 1574, beim Tod seines zweitältesten Bruders König Charles IX schon auf dem Thron sah, dann aber zugunsten des drittältesten Bruders Henri III zurückstehen musste, weil der die ihm gerade angetragene Königskrone von Polen ausschlug und nach Paris zurückkam.

Die 1560er und 70er Jahre waren in Frankreich, aufgrund des Unfalltodes von König Henri II (1559) und der Jugend der drei Söhne, die ihm kurz nacheinander auf dem Thron folgten, eine Zeit der Schwäche der Monarchie und damit zugleich eine Zeit zentrifugaler Tendenzen, die durch die konfessionelle Spaltung des Landes verstärkt wurden und ab 1662 immer wieder religiös verbrämte Bürgerkriege ausbrechen ließen. Da in diesen Kriegen die Monarchie sich letztlich immer wieder auf die Seite des katholischen Lagers schlug, versuchte das protestantische Lager, die Herrschaftsrechte des Monarchen einzuschränken oder ganz in Zweifel zu ziehen. In diesen Jahren allgemeinen Streites um die beste Staatsform, aber auch unter dem Eindruck von grausamen Ereignissen wie insbes. den Potestantenmassakern der Bartholomäusnacht (1572) konzipierte Bodin sein bedeutendstes Werk, Les six livres de la république (1576).

Mit ihm versuchte er einen mittleren Weg einzuschlagen zwischen dem von vielen Katholiken vertretenen Macchiavellismus, wonach ein Herrscher die Pflicht und damit das Recht habe, ohne moralische Rücksichten zum Vorteil seines Staates zu handeln, und dem von protestantischen Theoretikern vertretenen Ideal einer Volksherrschaft oder zumindest einer Wahlmonarchie. Ausgehend von der neuartigen These, dass das Klima eines Landes den Charakter seiner Einwohner präge und damit auch die für sie geeignetste Staatsform in weitem Umfang vorgebe, postuliert er als ideales Regime für das klimatisch gemäßigte Frankreich die erbliche Monarchie. Hierbei soll der Monarch/König „souverän“, d.h. keiner anderen Instanz unterworfen sein, allerdings einer gewissen Kontrolle unterliegen durch Institutionen wie die Obersten Gerichtshöfe (Parlements) und die Ständeversammlungen (États). Vor allem jedoch soll er „nur Gott verantwortlich“ sein, d.h. über den konfessionellen Parteien stehen. Mit seinem Postulat einer durch Erblichkeit legitimierten, souveränen und religiös neutralen Monarchie reagierte Bodin auf das Problem, dass die die jungen Könige bzw. die sie dominierende Königinmutter und Regentin Catherine de Médicis nicht zuletzt deshalb die Bürgerkriege nicht zu beenden schafften, weil die Krone seit 1534 fast immer auf Seiten der Katholiken stand somit nicht als schlichtende überparteiliche Instanz auftreten konnte.

Die Six livres waren sofort sehr erfolgreich und wurden umgehend mehrfach nachgedruckt. 1586 erschien eine erweiterte und vom Autor selbst überarbeitete lateinische Version. Mit seinem Buch gehörte Bodin zu den Begründern der Bewegung der pragmatisch gesonnenen „Politischen“ (politiques), die in den Folgejahren an Einfluss gewannen und schließlich, unter König Henri IV, das Ende der Religionskriege und den Erlass des Toleranzedikts von Nantes (1598) erreichten.

Nach dem Scheitern der Hoffnungen von François d’Alençon hatte Bodin sich dem neuen König Henri III angeschlossen. Dessen Gunst verlor er aber, als er 1576 als Delegierter des Dritten Standes auf dem Ständetag von Blois versuchte, mäßigend auf die katholische Partei einzuwirken und die Gewährung finanzieller Sondermittel für den König zu verhindern, die einer einer intensiveren Kriegsführung dienen sollten. Er zog sich aus der Politik zurück und verheiratete sich in Laon. Im selben Jahr 76 wurde er dort Nachfolger seines Schwiegervaters im Amt des königlichen Generalleutnants und Staatsanwaltes.

Zweifellos motiviert durch sein Amt entwickelte er ein besonderes Interesse für Hexenprozesse. 1580 nämlich publizierte er ein weiteres sehr erfolgreiches, in mehrere Sprachen (auch ins Deutsche) übersetztes Werk, das in Literaturgeschichten gerne übergangen wird: La Démonomanie des sorciers (= die Dämonenmanie der Hexer). Es ist ein Handbuch der Hexer- und Hexenkunde samt Ratschlägen und Argumentationshilfen für die mit Prozessen befassten Richter, die nach Bodin vor Todesstrafen nicht zurückscheuen dürfen. (Laut einer Interview-Aussage der Historikerin Martine Ostorero in Le Monde vom 5.9.08 waren die Jahre 1560 bis 1630 die hohe Zeit der Hexenprozesse in Mitteleuropa.)

1581 trat Bodin noch einmal in den Dienst von Prinz François d’Alençon und hielt sich mehrere Monate in England auf, um dort über eine Eheschließung seines Herrn mit Königin Elisabeth zu verhandeln. 

In politisch-ideologischer Hinsicht blieb er seiner Tendenz zu Pragmatismus und Toleranz treu. Hiervon zeugt (wenn, was manche Forscher bezweifeln, er der Autor ist) ein als Manuskript erhaltenes Werk: das Colloqium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis. Dieses „Siebenergespräch über die verborgenen Geheimnisse der erhabenen Dinge“ zeigt eine friedliche Diskussion unter sieben Vertretern verschiedener Religionen und Weltanschauungen, die sich am Ende auf die grundsätzliche Gleichwertigkeit ihrer Überzeugungen einigen.

In den Kriegen, mit denen nach 1584, dem Tod von François, die Katholische Liga die Ansprüche des zunächst noch protestantischen Henri IV auf die Thronfolge abzuwehren und einen Gegenkandidaten durchzusetzen versuchte, stand Bodin anfangs auf Seiten der mächtigen Liga, deren raschen Sieg er wohl für unausweichlich hielt.

Er starb in einer der zahlreichen Pestepidemien, die das von den jahrzehntelangen Bürgerkriegen geschwächte Frankreich immer wieder heimsuchten.

(Stand: Dez. 10)

Étienne de La Boétie (gesprochen: laboeßi ; * 1.11.1530 in Sarlat/Dordogne ; † 18.8.1563 nahe Bordeaux)

Dieser Jurist, Humanist und Gelegenheitsautor ist heute praktisch nur noch als enger Freund Montaignes (s.u.) bekannt. Zu seiner Zeit war er jedoch sehr einflussreich mit seiner um 1550 entstandenen, lange Zeit nur anonym verbreiteten kleinen Schrift Discours de la servitude volontaire (=Rede/Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft), die die Protestanten bestärkte in ihrem Kampf gegen die Unterdrückung durch die franz. Krone.

La Boétie entstammte dem niederen Beamtenadel der Bischofsstadt Sarlat. Er erhielt eine gute Bildung, u.a. auf dem renommierten Collège de Guyenne in Bordeaux, und interessierte sich früh für die klassischen griechischen und lateinischen Autoren. 1548 erlebte er zweifellos aus der Nähe mit, wie, nachdem der neue König Henri II auch in Südwestfrankreich die Salzsteuer eingeführt hatte, dort Revolten ausbrachen und durch königliche Truppen blutig niedergeschlagen wurden.

Um dieselbe Zeit begann er ein Jurastudium an der Universität von Orléans. Zu seinen Professoren gehörte Anne du Bourg, der einige Jahre später Gerichtsrat („Conseiller“) am Parlement von Paris wurde und dort offensiv für die Rechte der Protestanten eintrat, was ihm 1559 einen Ketzerprozess und die Todesstrafe eintrug und ihn zum Märtyrer machte.

Vermutlich war es während seiner Studienzeit, dass La Boétie, sichtlich unter dem Eindruck der genannten Revolten und ihrer blutigen Niederschlagung, seinen flammenden Discours verfasste, worin er die These vertritt, dass ein einzelner Mensch nur deshalb viele andere Menschen unterdrücken könne, weil diese sich unterwerfen statt sich kollektiv zu widersetzen.

Nach Abschluss seines Studiums wurde La Boétie 1553 mit 23 Jahren Gerichtsrat am Parlement von Bordeaux, dem obersten Gericht der Provinz Aquitaine. Hier befreundete er sich mit dem gut zwei Jahre jüngeren Montaigne, als dieser 1557 ebenfalls Gerichtsrat in Bordeaux wurde. Montaigne hat später berichtet, er sei schon vorher durch den Discours auf La Boétie aufmerksam geworden.

Ab 1560 wurde dieser verschiedentlich von Michel de l'Hospital, dem „Kanzler“ (chancelier) von Frankreich, mit dem er freundschaftlich verbunden war, zur Teilnahme an Verhandlungen gebeten, die das konfessionell zunehmend gespaltene und in Gewalt abgleitende Frankreich befrieden sollten. Er galt also (ähnlich wie sein Freund Montaigne) als jemand, der einerseits loyal hinter der Krone stand, andererseits jedoch genug Verständnis für die Anliegen und Überzeugungen der Protestanten hatte, um ausgleichend wirken zu können.

Diese versöhnliche Haltung vertrat er auch in seiner letzten Schrift, dem Mémoire sur l’édit de janvier [1562] (=Memorandum über den Januar-Erlass), worin er den König unterstützt, der gerade den Protestanten in gewissem Umfang entgegengekommen war.

La Boétie starb jung und plötzlich an einer der häufigen Seuchen der Zeit. Montaigne war bei dem Sterbenden und bewunderte dessen stoische Fassung, wie er in einem Brief an seinen Vater berichtet.

1570 gab Montaigne in Paris verschiedene Schriften aus dem Nachlass von La Boétie in Druck. Es handelte sich um lateinische und französische Verse – die letzteren meist im Stil der Pléiade – sowie um Übersetzungen von Texten der alten Griechen Xenophon und Plutarch (der Anstöße für den Discours geliefert hatte). Darüber hinaus auch den Discours zu drucken, hielt Montaigne für unangebracht, denn jener diente inzwischen der protestantischen Seite als Munition gegen den wieder unnachgiebigen König und seinen Anspruch, absolut zu herrschen und insbes. auch die Religion seiner Untertanen zu bestimmen. Zudem entsprach das revoluzzerhafte kleine Werk nicht mehr der ausgleichenden Loyalität, wie sie der späte La Boétie praktiziert hatte und auch Montaigne sie vertrat.

Der Discours wurde erstmals 1574 gedruckt als Teil einer protestantischen Kampfschrift und nochmals 1577 im Rahmen der propagandistischen Mémoires des états de France sous Charles IX. Auch spätere Generationen von Oppositionellen, z.B. prärevolutionäre Autoren der Spätaufklärung und sozialistische und anarchistische Denker des 19. Jh., griffen häufig auf La Boéties Werk zurück mit seinem Kernsatz: „Soyez résolus de ne servir plus, et vous voilà libres!“ (Seid entschlossen, nicht mehr zu dienen, und ihr seid frei!).

(Stand. April 11)

Étienne Jodelle (* ca. 1532 in Paris, † 1573 ebd.).

Dieser heute kaum mehr bekannte Dramatiker hat in der franz. Literaturgeschichte eine gewisse Bedeutung durch zwei zu ihrer Zeit neuartige Stücke, die er als ganz junger Mann verfasste: die Komödie Eugène (1552) und vor allem die Tragödie Cléopâtre captive (= die gefangene Kleopatra) von 1553.

Die Tragödie, welche darstellt, wie die besiegte ägyptische Königin Kleopatra sich durch Selbstmord der Demütigung durch ihren Besieger, den römischen Kaiser Octavian alias Augustus, entzieht, war in mehrfacher Hinsicht neu: Zum einen ist sie das erste ernste, also nicht komische, franz. Stück mit weltlicher, d.h. nichtreligiöser Thematik. Weiterhin ist sie das erste franz. Stück mit antikem Stoff (den Jodelle aus den „parallelen“ Biografien des Griechen Plutarch [um 100 n. Chr.] bezog). Vor allem aber ist sie die erste franz. Tragödie nach antikem Muster, insbes. mit ihrem Aufbau in fünf Akten und dem Auftreten eines Chores. Auch die zumindest teilweise Abfassung in Alexandrinern war eine Neuerung. Das Stück war ein Publikumserfolg bei der Pariser Erstaufführung und wurde in den literarisch interessierten Kreisen als gewissermaßen längst notwendige Errungenschaft begrüßt. Für die Mitglieder der humanistisch orientierten Pariser Dichtergruppe der Pléiade, zu denen Jodelle zählte, bedeutete es die Umsetzung ihrer Theorien, wonach sich die franz. Literatur durch Orientierung an der klassischen Antike erneuern sollte.

Im selben Sinne hatte Jodelle schon ein Jahr zuvor den Eugène verfasst, ein Stück, das zwar in Paris spielt und das typische Farcenthema des Cocuage bearbeitet, sich aber in der Machart ebenfalls an antiken Vorbildern, nämlich Komödien der klass. römischen Autoren Plautus und Terenz orientierte.

1555 schrieb er eine weitere antikisierende Tragödie, Didon se sacrifiant (= die sich opfernde Dido).

Sowohl mit seinen Tragödien als auch der Komödie verwirklichte Jodelle allerdings nicht nur Ideen der Pléiade-Gruppe, sondern folgte zugleich auch Vorbildern aus Italien, wo man schon seit etwas längerer Zeit versuchte, das volksprachliche Theater in Anlehnung an antike lateinische und griechische Vorbilder zu erneuern.

Seine Lyrik, die er schon sehr jung zu verfassen begann, gilt als weniger bedeutend.

(Stand: Nov. 10)

Michel Eyquem, seigneur de Montaigne (* 28.2.1533 auf dem Schlösschen Montaigne/Périgord; † 13.9.1592 ebd.)

Montaigne (wie er in der Literaturgeschichte schlicht heißt) stammte aus einer Familie reicher Kaufleute in Bordeaux. Nachdem der Urgroßvater die adelige Grundherrschaft Montaigne erworben hatte, waren die Eyquems vom großbürgerlichen Patriziat in den Adel hineingewachsen, besetzten aber weiterhin hohe Ämter in der Stadt. Montaignes Vater hatte 1525 König François Ier auf dessen Italienfeldzug begleitet und war so mit der italienischen Renaissance-Kultur in Berührung gekommen. Nach seiner Heimkehr hatte er 1528 eine adelige Frau geheiratet und war 1530 Chef des Ordnungswesens (prévôt) von Bordeaux geworden. Ab 1533 war er stellvertretender Bürgermeister; 1554 wurde er Bürgermeister.

Montaigne war das erste Kind seiner Eltern und bekam noch etliche Geschwister, von denen jedoch nur drei das Erwachsenenalter erreichten. Er wurde zunächst zu einer Amme in einem nahen Dorf in Pflege gegeben und erhielt dann einen Hauslehrer, einen deutschen Mediziner, der nur lateinisch mit ihm sprach. 1539 bis 46 besuchte er das Collège de Guyenne in Bordeaux, wo er auch Griechisch lernte. Anschließend absolvierte er vermutlich propädeutische Studien an der Artistenfakultät der dortigen Universität.

Unbekannt ist, ob er 1548 direkt die Revolte miterlebte, mit der Bordeaux auf die Auferlegung der Salzsteuer durch den neuen König Henri II reagierte, eine Revolte, die von königlichen Truppen blutig niedergeschlagen wurde, der Stadt den Verlust ihrer Gerichtsamkeit eintrug und die Gruppe der Patrizier etliche Köpfe kostete.

1554, mit 21, erhielt Montaigne nach Jurastudien in Toulouse und vielleicht auch Paris das Amt eines Gerichtsrats (conseiller) am Steuergericht in Périgueux. Im selben Jahr begleitete er seinen soeben zum Bürgermeister gewählten Vater, der es vorgezogen hatte Katholik zu bleiben, zu Verhandlungen mit dem König nach Paris.

Als 1557 das Steuergericht in Périgueux aufgelöst wurde, erhielt Montaigne einen Gerichtsratsposten am Parlement von Bordeaux, dem obersten Gerichtshof der Guyenne.

Hier schloss er eine (wie er es rückblickend sah) geradezu symbiotische Freundschaft mit dem gut zwei Jahre älteren, humanistisch hochgebildeten und literarisch dilettierenden Richter-Kollegen Étienne de la Boétie (1530-63), dessen frühen Tod er lange betrauerte.

In seiner Eigenschaft als Gerichtsrat am Parlement reiste er 1559, 1560 und 1562 nach Paris, wobei es vor allem um die Frage der Unterdrückung oder Duldung des im franz. Südwesten stark verbreiteten Protestantismus ging. Bei dem letztgenannten Parisaufenthalt, der vom Beginn der offenen Kriege zwischen Protestanten und Katholiken, der sog. Religionskriege, überschattet wurde, musste sich Montaigne, zusammen mit den anderen Richtern der diversen franz. Parlements, feierlich zum Katholizismus bekennen.

1565 heiratete er in einer Konventionalehe, die dies offenbar auch blieb, die Tochter eines Richterkollegen. Beim Tod des Vaters 1568 erbte er, nach den Regeln der adeligen Erbteilung, den Hauptteil von dessen Besitz, darunter das Gut und Schlösschen Montaigne, nach dem er sich hinfort benannte, um seinen Status als Adeliger zu betonen.

1569 beendete er eine kommentierte Übersetzung der Theologia naturalis des Toulouser Theologen und Mediziners Raimundus Sebundus († 1436). Er hatte sie noch auf Wunsch seines Vaters begonnen, der sich – sehr verständlich in Zeiten heftiger konfessioneller Streitereien – offenbar für die These von Sebundus interessierte, wonach Gott und die christlichen Lehren quasi aus der Natur ableitbar seien.

Zugleich mit seiner Sebundus-Übertragung gab er in Paris eine Sammlung von franz. und lateinischen Gedichten seines Freundes La Boétie in Druck.

1571, mit 38, quittierte er sein Richteramt und zog sich auf sein Schlösschen zurück. Ein Grund zu diesem Entschluss war vielleicht die Enttäuschung darüber, dass seine Versuche, in eine der wichtigeren und damit interessanteren Kammern des Gerichts zu wechseln, gescheitert waren, weil in der einen als zu naher Verwandter schon sein Schwiegervater saß und in der anderen schon ein Schwager. Vielleicht spielte aber auch der Umstand eine Rolle, dass er zum zweiten Mal Vater wurde, nachdem ein im Vorjahr geborenes erstes Kind, ebenfalls ein Mädchen, bald nach der Geburt gestorben war  (so wie auch vier weitere 1573, 74, 77 und 83 geborene Kinder, allesamt Töchter, das Säuglingsalter nicht überleben sollten).

Mit der Rolle des Landedelmanns, als der Montaigne sich nach seinem Rückzug ins Private offenbar sah, vertrug es sich durchaus, zu lesen und literarisch zu dilettieren. Dies tat er sogleich, mit Hilfe der schönen Bibliothek, die er besaß und die zum Teil aus der bestand, die ihm La Boétie übermacht hatte. Hierbei begann er, markante Sätze aus klassischen, meistens lateinischen Autoren, aufzuschreiben und zum Ausgangspunkt eigener Überlegungen zu machen. Diese betrachtete er als Versuche, der Natur des menschlichen Wesens und den Problemen der Existenz auf den Grund zu kommen. Die passende Darstellungsweise für diese „Versuche“ (essais) musste er jedoch selber tastend entwickeln, denn erst später, dank ihm, konstituierte sich der essai als neue literarische Gattung.

Insgesamt sind die Essais Montaignes mehr assoziativ als logisch strukturiert aneinandergereihte, thematisch äußerst vielfältige, kürzere und längere, mit einer immensen Menge von meistens lateinischen Lesefrüchten angereicherte Betrachtungen über sich selbst und die Welt, insbes. den Tod, dessen Allgegenwart ihm die kriegerischen Zeitläufte und das Sterben seiner Töchter nur zu bewusst sein ließen. Seine Perspektive ist hierbei die eines Geistes, der den religiösen Dogmen distanziert gegenüber steht und auch alle sonstigen vermeintlich verbürgten Wahrheiten kritisch betrachtet. Basis seiner Überlegungen ist die Prämisse, dass man mittels der Beobachtung des Fühlens, Denkens und Handelns eines einzigen intim bekannten Individuums, nämlich seiner selbst, zu allgemein gültigen Aussagen über den Menschen insgesamt gelangen könne.

Allerdings konnte Montaigne nach dem Wechsel ins Private nicht, wie sicher erhofft, seine Tage ungestört von den Kriegswirren der Zeit verbringen. Denn als nach den Protestantenmassakern der Bartholomäusnacht (22./23.8.1572) die Spaltung im Land sich vertiefte und beide Seiten sich erneut bekämpften, hielt er es für seine Pflicht, sich der königlichen, d.h. der katholischen Armee anzuschließen. 1574 versuchte er, mit einer Rede vor den Richtern des Parlements in Bordeaux, zur Versöhnung der Konfessionen beizutragen. Nach dem Friedensschluss von 1575, der den Protestanten (vorübergehend) Bürgerrechte gewährte, ließ er sich von Henri de Navarre, dem Chef des protestantischen Lagers und de facto-Herrscher in weiten Teilen Westfrankreichs, pro forma zum Kammerherrn ernennen.

Dank der kurzen Ruhe im Land schloss er 1579 Buch I der Essais ab und erweiterte er sie um ein Buch II. Sie erschienen 1580 in Bordeaux und waren so erfolgreich, dass sie schon 1582 leicht erweitert nachgedruckt wurden.

Da Montaigne seit 1577 unter Nierenkoliken litt (deren starken Einfluss auf sein Leben und auch sein Denken und Fühlen er in den Essais thematisierte), ging er 1580 trotz der soeben wieder ausgebrochenen Kriegshandlungen auf eine Bäder-Reise, von der er sich Linderung erhoffte. Sie führte ihn über Paris, wo er von König Henri III empfangen wurde, in etliche französische und süddeutsche Bäder und wurde dann fortgesetzt als Bildungsreise durch einige Städte Süddeutschlands sowie mehrere italienische Städte bzw. Stadtstaaten bis nach Rom. Dort blieb er mehrere Monate, erhielt eine Audienz beim Papst, bekam den Titel eines römischen Bürgers verliehen und ließ die Essais von der päpstlichen Zensur absegnen. Die Reise, auf der ihn mehrere Personen begleiteten, beschrieb er in einem Tagebuch, das er jedoch unpubliziert ließ (und das erst 1770 wiedergefunden und 1774 gedruckt wurde).

Unterwegs, in Lucca, erhielt er im Frühherbst 1581 die Nachricht, dass er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt worden war. Etwas widerstrebend und nicht ohne brieflich von König Henri III in die Pflicht genommen worden zu sein, akzeptierte er das Amt und übte es nach seiner Heimkehr Ende November zweimal zwei Jahre lang aus. Hierbei war er darum bemüht, zwischen Protestanten und Katholiken zu vermitteln, wobei er z.B. 1583 versuchte, Verhandlungen zwischen Henri de Navarre und König Henri III einzufädeln. Auch schaffte er es 1585, seine Stadt von einer militärischen Beteiligung auf Seiten der Katholischen Liga abzuhalten, die Henri de Navarre bekriegte, nachdem er 1584 zum nächsten Anwärter auf den Thron aufgerückt war. Zwischendurch (1583) wurde er zum sechsten Mal Vater, doch starb die Tochter wiederum bald nach der Geburt.

Nach dem Ende seiner Zeit als Bürgermeister (Spätsommer 85) und der vorübergehenden Flucht vor einer Pestepidmie setzte sich Montaigne wieder in seine Bibliothek im Schlossturm, um neue Lektüren, Erfarungen und Erkenntnisse in den Essais zu verarbeiten, die er hierbei stark erweiterte und um einen dritten Band vermehrte. Als er im Frühjahr 1588 nach Paris reiste, um sie dort in Druck zu geben, wurde er unterwegs von adeligen Wegelagerern ausgeraubt, bekam das Manuskript jedoch von ihnen zurück. In Paris angekommen, geriet er dort in den Aufstand gegen Henri III, den am 12. Mai die Liga angezettelt hatte. Er wurde in der Bastille eingekerkert, kam aber durch eine Intervention der Königinmutter frei. Im Juni 88 erschien die Neuausgabe schließlich im Druck.

Offenbar zur selben Zeit lernte er Marie de Gournay kennen, die ihm zu einer geistigen Ziehtochter wurde.

Auf der Rückreise im Herbst nahm er als illustrer Gast an der Versammlung der Generalstände in Blois teil.

In den nachfolgenden Jahren überarbeitete und vermehrte er unablässig weiter die Essais. Daneben reiste er mehrfach zu Marie de Gournay nach Paris.

1590 erlebte er die Heirat seiner einzigen ins Erwachsenenalter gelangten Tochter und 1591 die Geburt einer Enkelin. Er verstarb plötzlich, während einer Messe in der Schlosskapelle, am 13.9.1592.

1595 publizierte Marie de Gournay postum in Paris eine nochmals erheblich überarbeitete dritte Version der Essais. Grundlage war die Abschrift eines Manuskripts der Essais, die ihr den letzten Stand der Arbeit Montaignes darzustellen schien. Diese Ausgabe wurde immer wieder nachgedruckt. Grundlage der heutigen kritischen Editionen ist jedoch das später aufgefundene Original der genannten Abschrift, das „Exemplaire de Bordeaux“ , das weitere Änderungen von der Hand des Autors enthält.

Nachdem sie gleich bei ihrem ersten Erscheinen 1580 auf großes Interesse gestoßen waren, wurden die Essais  jahrhundertelang viel gelesen und waren sie epochemachend als erstes europäisches Beispiel ihrer Gattung. Montaigne hatte großen Einfluss auch auf die ähnlich über den Menschen und die Welt nachdenkenden franz. „Moralisten“ des 17./18. Jh., die meist allerdings die gedrängtere Form des Aphorismus bevorzugten. Er gilt heute neben Rabelais als der bedeutendste franz. Autor des 16. Jh.

(Vermutlich weil die Gattung später vor allem in England florierte, wo 1613 auch die erste Übersetzung der Essais in eine Fremdsprache erschienen war, dominiert bei uns die Schreibung Essay.)

(Stand: März 11)

Guillaume de Salluste, seigneur du Bartas (1544–1590).

Du Bartas, wie er in der Literaturgeschichte heißt, wurde früh zum repräsentativsten Autor der franz. Protestanten und war vor allem bekannt, ja berühmt durch La Semaine, ou création du monde (1578), ein Epos in sieben Gesängen in paarweise reimenden Alexandrinern über die Schöpfung der Welt.

Er war Sohn eines reichen protestantischen Kaufmanns, der 1565 geadelt wurde. Er studierte Jura in Toulouse und verbrachte sein Leben im Dienst zunächst von Jeanne d’Albret, der Königin von Navarra, und anschließend ihres Sohnes Henri de Navarre, des späteren Henri IV. An dessen Seite kämpfte er gegen die Truppen der Katholischen Liga und starb an den Folgen einer Kriegsverletzung.

La Semaine ist der Versuch eines frommen, wenn auch nicht radikalen Protestanten, Vorstellungen der älteren und neueren Naturphilosophen sowie Erkenntnisse der sich langsam herausbildenden Naturwissenschaften in Einklang zu bringen mit der Schöpfungsgeschichte der Bibel. Heute ist das Epos wegen der völlig obsolet gewordenen Thematik wie auch der abstrus wirkenden Gedankengänge und Vergleiche vergessen; zu seiner Zeit war es jedoch enorm erfolgreich, wurde allein bis 1632 in 42 Auflagen nachgedruckt, ins Lateinische, Italienische, Spanische, Englische, Niederländische und Schwedische übertragen und von vielen Autoren, z.B. noch Milton, Goethe und Byron, bewundert.

(Stand: Jan. 11)

Robert Garnier (* 1544 in La Ferté-Bernard/Dép. Sarthe; † 20.9.1590 in Le Mans)

Obwohl heute kaum mehr bekannt, ist er der bedeutendste franz. Dramatiker des 16. Jh. und ein wichtiger Vorläufer der großen Klassiker des 17. Jh.. Seine moralisch und politisch erzieherisch intendierten Stücke verarbeiten in rhethorisch anspruchsvollen Alexandrinern überwiegend antike Vorlagen und gelten als Höhepunkt des Humanistentheaters in Frankreich.

Garnier studierte Jura in Toulouse, wo er sich auch literarisch zu betätigen begann. Er schrieb zunächst Lyrik im Stil der Pléiade-Schule; sein Gedichtband Plaintes amoureuses de Garnier von 1565 scheint jedoch verloren. 1564 und 1566 erhielt er Jahrespreise der Toulouser Académie des Jeux floraux (= Ak. der Blumenspiele) für seine Chants royaux en allegorie, längere allegorische Gedichte, in denen er die 1562 ausgebrochenen Bürgerkriege zwischen Katholiken und Protestanten beklagt und, aus einer katholischen Perspektive, die Rückkehr von Frieden und Ordnung herbeiwünscht. 1565 betätigte er sich anlässlich eines Besuchs des jungen Königs Charles IX in Toulouse als Texter von Grußinschriften und Autor dreier Begrüßungssonette.

1567 erhielt er die Zulassung als Anwalt am Parlement von Paris, wo er sich mit der königstreuen Hymne de la monarchie einführte. 1569 wurde er hochrangiger Richter in Le Mans.

In den nachfolgenden 14 Jahren verfasste er acht Stücke, deren Handlungen zwar auf vorgegebenen Stoffen beruhen und in mehr oder weniger ferner Vergangenheit spielen, aber sichtlich aktualisiert sind im Hinblick auf die eigene Zeit.

Die ersten sechs Stücke, sämtlich Tragödien, inspirieren sich an den antiken griechischen bzw. römischen Autoren Euripides und Seneca. Es sind: Porcie (1569), Hippolyte (1573), Cornélie (1574), Marc-Antoine (1578), La Troade (1579) und Antigone (1580). Alle scheinen mit den Schrecknissen und Grausamkeiten, die sie darstellen, die Wirren der Religionskriege zu spiegeln, die allen Friedensschlüssen zum Trotz ständig neu ausbrachen.

1582, in einer längeren Friedensphase, verfasste Garnier das romaneske, versöhnlich mit zwei Hochzeiten endende Stück Bradamante, das eine Episode aus Ariostos Versepos Orlando furioso verarbeitet. Es führte zugleich die Gattung Tragikomödie in Frankreich ein und war das erste und für lange Zeit letzte franz. Stück, dessen Handlung im Mittelalter spielt.

Garniers wohl bestes und jedenfalls erfolgreichstes Stück war sein letztes: die Tragödie Les Juives (1583). Es bezieht seinen Stoff aus der Bibel und zeigt, wie der jüdische König Sedecias nach seinem Aufstand gegen den Eroberer Nebukadnezar grausam bestraft wird - ähnlich grausam wie die aufständischen franz. Protestanten durch die katholisch gebliebenen Könige verfolgt wurden, die jedoch, wie suggeriert wird, damit durchaus einer höheren Ordnung und dem Seelenheil der Bestraften dienen.

Mit seiner Übernahme antiker Stoffe sowie der antiken Form der Tragödie, insbes. in Gestalt des Chores, folgte Garnier, wie vorher schon sein älterer Kollege Étienne Jodelle (s.o.), einer aus Italien gekommenen Mode sowie den Lehren der Pléiade-Gruppe, wie sie z.B. 1549 von Du Bellay (s.o.) formuliert worden waren. Nicht zuletzt dank Garnier wurden Stücke, deren Handlung in der Antike spielt, gängig im franz. Theater. Sein Marc-Antoine wurde von Corneille (s.u.) für La Mort de César und sein Hippolyte von Racine (s.u.) für Phèdre als Inspirationsquelle benutzt.

1586 wurde Garnier von König Henri III (der 1589 ermordet wurde) zum Mitglied des Staatsrats ernannt. Er war damit ein typischer Vertreter der neu entstehenden Schicht des Amtsadels („noblesse de robe“) zwischen Bürgertum und Adel, aus der in den nächsten 200 Jahren noch viele Autoren hervorgingen

Seine Gattin (seit 1573) Françoise Hubert war zu ihrer Zeit eine geschätzte Dichterin.

(Stand: Nov. 10)

17. Jh. (Barock und Klassik)

Agrippa d’Aubigné (*8.2.1552 auf dem Herrensitz Saint-Maury bei Pons in der Saintonge/Dep. Charente Maritime; 29.4.1630 in Jussy bei Genf)

Dieser adelige Militär und glühende Verfechter des Protestantismus war, vor allem mit seinem Epos Les Tragiques, sicher der sprachmächtigste franz. Autor seiner Epoche, des frühen Barock. Da er jedoch seine Werke fern vom Pariser Literaturbetrieb verfasste und jeweils sehr spät oder gar nicht publizierte, blieb er zu seiner Zeit als Literat fast unbekannt. Den ihm gebührenden Platz in der Literaturgeschichte verdankt er erst seiner Entdeckung durch die Romantiker, insbes. Victor Hugo. Im klassizistisch und katholisch geprägten, ganz auf Paris bezogenen kulturellen Gedächtnis der Franzosen ist er eine marginale Figur.

D’Aubigné war erstes Kind seiner Eltern, die beide der ersten schon protestantisch erzogenen Generation angehörten. Die Mutter starb bei seiner Geburt.

Ein prägendes Erlebnis für den Achtjährigen war, dass sein Vater auf einer Parisreise mit ihm in Amboise Halt machte, ihm die aufgespießten Köpfe von hingerichteten protestantischen Anführern der sog. Verschwörung von Amboise (1560) zeigte und ihn schwören ließ „diese ehrenvollen Chefs“ zu rächen.

Da er früh Unterricht in den alten Sprachen (auch Hebräisch) bekommen und Talent hierfür bewiesen hatte, wurde er mit zehn zu dem protestantischen Pariser Humanisten Béroald in Pension gegeben. Wenig später, bei Ausbruch des Ersten Religionskrieges (1562/63), flüchtete er mitsamt seiner Schule nach Orléans, das von protestantischen Truppen gehalten wurde und wo sein Vater stellvertretender Befehlshaber war. Nach dem Fall der Stadt, bei dem der Vater ums Leben kam, wurde d’Aubigné von Verwandten nach Genf geschickt, wo er bei dem Humanisten und Reformator Théodore de Bèze seine Schulzeit fortsetzte. Mit 14 brannte er dort durch und geriet in Lyon an einen zweifelhaften Zauberer und Magier. Hiernach lebte er bei einem Vormund in der Saintonge.

Mit sechzehneinhalb brannte er abermals durch, diesmal um sich den protestantischen Truppen im inzwischen Dritten Religionskrieg anzuschließen. In dieser Zeit lernte er den ein Jahr jüngeren Henri de Navarre kennen, den angehenden Chef des protestantischen Lagers und späteren König Henri IV.

Nach dem Friedensschluss (1570) wurde d’Aubigné von der Familie seiner Mutter in der Beauce aufgenommen. Dort begegnete er 1571 auf einem Nachbarschlösschen Diane Salviati, einer Nichte von Cassandre Salviati, die um 1550 von Pierre Ronsard (s.o.) besungen worden war. Er verliebte sich und widmete ihr in den folgenden zwei Jahren Sonette, Oden und Stanzen im Stil Ronsards und der Pléiade-Schule – allerdings vergeblich, denn sie blieb abweisend und war überdies auch versprochen. D’Aubigné vereinigte zwar später die Gedichte unter den Titel Printemps (=Frühling) in einem Sammelband, ließ diesen aber ungedruckt (erschienen erst 1874).

Am 18. Aug. 1572, anlässlich der Hochzeit von Henri de Navarre mit Marguerite de Valois (der Schwester von König Charles IX) war auch d’Aubigné in Paris, floh aber wenige Tage später, weil er bei einer Rauferei einen Soldaten der Stadtwache verletzt hatte. Er entging so dem Massaker der Bartholomäusnacht (23./24.8.), bei dem die katholische Partei das protestantische Lager zu enthaupten versuchte. Kurz darauf, da die Massaker sich auch auf die Provinzen ausdehnten, wurde er bei einem Anschlag auf ihn schwer verletzt und schleppte sich ins nahe Schlösschen Dianes, um in ihren Armen, wie er sich ausmalte, zu sterben.

Auf dem Krankenlager will er unter dem Eindruck der blutigen jüngsten Ereignisse eine Vision gehabt haben, die ihm den Plan zu einem Epos eingab, Les Tragiques. Es sollte vom tragischen Schicksal der franz. Protestanten handeln, d.h. ihrer grausamen Verfolgung durch die katholische Partei und die von ihr instrumentalisierte Staatsgewalt.

1573, angesichts der nahenden Heirat Dianes, ging d’Aubigné nach Paris und trat als „Schildknappe“ (écuyer) in den Dienst von Henri de Navarre, der seit der Bartholomäusnacht am königlichen Hof wie ein Gefangener lebte. Nicht unmöglich scheint, dass er hierbei, wie Henri selbst, eine Konversion zum Katholizismus vortäuschte. Auch nahm er, offenbar als geschätzter Unterhalter, durchaus am Hofleben teil.

Darüber hinaus hatte oder suchte er in Paris auch Kontakt zu Literaten, denn 1574 gab er ein Gedicht auf den Tod des Dramatikers Étienne Jodelle (s.o.) in Druck, eines Mitglieds der Pléiade-Schule.

Anfang 1576 konnte er seinem Herrn zur Flucht aus Paris verhelfen. Er blieb an Henris Seite, als dieser, rekonvertiert, im nunmehr Sechsten Religionskrieg (1576/77) den Kampf der Protestanten als ihr Chef wieder aufnahm. 1577 wurde er schwer verletzt. Auf dem Krankenbett diktierte er angeblich erste Passagen der Tragiques.

Nach seiner Genesung überwarf d’Aubigné sich mit Henri, der ihm zu politisch, d.h. nicht radikal genug dachte, und zog sich auf ein Landgut in Westfrankreich zurück. Hier heiratete er (1583) und bekam mit seiner Frau rasch zwei Töchter und einen Sohn. Den Siebten Religionskrieg (1579/80) und den Beginn des langen achten und letzten (1585) erlebte er im selbstgewählten Abseits.

1587 hielt es ihn dort nicht mehr und er kehrte er zurück in die Dienste Henris. Dieser war nämlich 1584, nach dem Tod des jüngeren Bruders des kinderlosen Königs Henri III, zum Thronanwärter aufgerückt, sah sich aber der mächtigen Allianz der Katholischen Liga gegenüber, die mit Hilfe Spaniens und Savoyen-Piemonts den Protestantismus auszurotten und einen eventuellen protestantischen König zu verhindern trachtete.

D’Aubigné nahm nun teil an den Kämpfen gegen die Liga, bei denen es anfangs vor allem um die Rettung des protestantischen Lagers ging, nach 1589, der Ermordung von Henri III, zunehmend aber um die Durchsetzung der Thronansprüche Henris. In diesen Jahren war d’Aubigné nicht nur hoher Militär, sondern bekleidete auch hohe Verwaltungsämter in westfranz. Provinzen, die von den Protestanten kontrolliert wurden. 

1593 versuchte er vergeblich, Henri von einer neuerlichen Konversion abzuhalten, mittels derer jener die Duldung von Teilen des katholischen Lagers zu erkaufen gedachte. Enttäuscht über Henris „Verrat“ an der gerechten Sache zog sich d’Aubigné erneut zurück auf sein Landgut.

Hier erlebte er den frühen Tod seiner Frau (1595), die ihn mit den drei Kindern zurückließ.

Vor allem aber schrieb er nun. So stellte er endlich die Tragiques fertig, deren „Gesänge“ eins bis drei die Not des Volkes, die Verderbtheit des Hofes und die Willkür der von den Katholiken beherrschten Gerichtsbarkeit zeigen, vier und fünf den Leidensweg der Protestanten, insbes. in der Bartholomäusnacht, sechs die Rache Gottes an den Ungerechten von Kain bis in die Gegenwart und sieben eine eindringliche Vision des Jüngsten Gerichts. Zum Druck gab er das in paarweise reimenden Alexandrinern verfasste Epos vorerst jedoch nicht.

1597 begann er die romanartige Satire La Confession catholique du Sieur de Sancy, worin er, der aufrechte Protestant, den Opportunismus geißelt, mit dem viele protestantische Ehrgeizlinge dem Beispiel ihres Königs gefolgt und konvertiert waren, um besser Karriere zu machen.

Ab 1601 arbeitete er an dem Werk, das ihm sein wichtigstes war: die Histoire universelle depuis 1550 jusqu’en 1601, eine umfangreiche Geschichte der Religionskriege samt ihren europäischen Verästelungen aus der Sicht eines direkt Beteiligten.

Ganz zurückgezogen blieb er allerdings nicht. So scheint er im Jahr 1600 in Paris an fruchtlosen katholisch-protestantischen Religionsgesprächen teilgenommen zu haben, und 1607 verhinderte er als Wortführer der Kompromisslosen, der „fermes“, eine Annäherung der beiden Konfessionen. Denn sie hätte ja bedeutet, dass die Protestanten ihren Peinigern hätten vergeben müssen, womit diese der Gottesrache vielleicht entzogen worden wären, die ihnen die Tragiques angekündigt hatten. Auch mit Pamphleten bekämpfte d’Aubigné die Kompromissler unter den Protestanten, die „prudents“.

Ebenfalls 1607 stellte er die Confession catholique fertig, wiederum ohne das Werk zu publizieren (das erst 1660 in Köln erschien).

Nach der Ermordung von König Henri IV und der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die Regentin Marie de Médicis (1610) schaffte d’Aubigné keine dauerhafte Rückkehr an den Hof. Vielmehr beteiligte er sich an Versuchen des wiederbelebten protestantischen Lagers, seine Positionen im Land zu sichern. So nahm er 1611 in Saumur an einer Versammlung von Mandatsträgern protestantischer Gemeinden teil; 1615 kämpfte er als hoher Offizier in einer protestantischen Armee gegen königliche Truppen.

1616 erschien, in der westfranz. Kleinstadt Maillé und unter einem Pseudonym, endlich das Epos Les Tragiques, das nun jedoch, mehr als dreißig Jahre nach seiner Konzeption, hier und dort obsolet wirken musste, selbst wenn die Thematik nach wie vor aktuell war.

Inzwischen hatte d’Aubigné denn auch ein wiederum satirisches romanartiges Werk begonnen, Les aventures du baron de Faeneste. Es kontrastiert in einer locker strukturierten Handlung den Titelhelden, einen lächerlichen, aber selbstbewussten katholischen Höfling, mit einem gebildeten protestantischen Landedelmann, hinter dem der Autor selbst erkennbar ist. Teil I und II erschienen (wiederum in Maillé) 1617, Teil III 1619.

Etwa gleichzeitig ging in Maillé die Histoire universelle in den Druck: Band I kam 1618 heraus, Band II 1619.

Als eine große Enttäuschung erlebte d’Aubigné 1618, dass sein Sohn konvertierte. Er enterbte ihn im Zorn (und bewirkte so, dass seine Nachkommen im Mannesstamm verarmten, darunter seine Enkelin Françoise d’Aubigné, die allerdings, nach einem Zwischenspiel als bürgerliche Madame Scarron, Mätresse von Louis XIV wurde und schließlich als Mme de Maintenon zu dessen Gattin „linker Hand“ avancierte).

1620 beteiligte sich d’Aubigné an einer Verschwörung gegen den Duc de Luynes, einen Günstling des jungen Louis XIII. Nach deren Scheitern wurde er aus Frankreich verbannt. Entsprechend wurde die dreibändige Ausgabe der Histoire universelle, die im selben Jahr herauskam, in Paris vom Henker verbrannt.

D’Aubigné fand Asyl in Genf, dem geistigen Zentrum des frankophonen Protestantismus, wo er in Stadtnähe ein verfallenes Schlösschen kaufte und restaurierte (und 1523 nochmals heiratete).

Als 1621 die königliche franz. Armee einmal mehr einen Feldzug gegen die Truppen der Protestanten führte, wurde er als erfahrener Militär von der Stadt Genf beauftragt, die Verteidigung gegen einen eventuellen Angriff vorzubereiten.

Seine letzten Jahre füllte er wieder mit Schreiben. So verfasste er kleinere staatstheoretische Schriften (Traité sur les guerres civiles und Du devoir mutuel des rois et des sujets) sowie Pamphlete gegen Luynes. Er überarbeitete Les Tragiques und publizierte sie, nun unter seinem Namen, in Genf (1523 oder 25). Er führte den Faeneste fort, dessen vierter Teil allerdings erst 1630 in seinem Todesjahr in Genf erschien. 1627 begann er einen vierten Band seiner Histoire, der die Zeit nach 1601 darstellen sollte, aber unvollendet blieb. Daneben schrieb er die Autobiografie Sa vie à ses enfants (= Sein Leben, seinen Kindern [gewidmet]; gedruckt erst 1729) und stellte unter dem Titel L’Hiver (= Winter) einen Band überwiegend religiöser Gedichte aus seinen mittleren Jahren zusammen (gedruckt in Genf 1630).

Wohl bei kaum einem franz. Autor klaffen die Entstehungszeiten und die Erscheinungsdaten der Werke so oft und so weit auseinander wie bei d’Aubigné. Dies hatte den Effekt, dass er die ursprünglich angesprochene Leserschaft meistens nicht mehr erreichte und damit zu seiner Zeit praktisch unwirksam blieb. Offensichtlich war er auch bei der Wahl seiner Drucker, z.B. in der peripheren Kleinstadt Maillé, wenig auf eine effiziente Verbreitung bedacht. Vielleicht sah er sich insgesamt mehr als literarisch nur dilettierenden Edelmann denn als Autor. Zu seinem Glück entriss ihn die verdiente Bewunderung der Romantiker dem Vergessen.

(Stand: Dez. 11)

François de Malherbe (* 1555 in Caen; † 16.10.1628 in Paris)

Heute allenfalls als Name bekannt, gilt er in der franz. Literaturgeschichtsschreibung traditionell als eine Art Markstein zwischen Barock und Klassik.

Malherbe wuchs auf in einer protestantischen Richterfamilie in Caen, wo er früh in humanistischen Zirkeln verkehrte und Gedichte verfasste. Auch er selbst studierte Jura, zunächst in Caen, dann in Basel und in Heidelberg, kalvinistischen Hochburgen der Zeit. Die ab 1562 immer wieder ausbrechenden Religionskriege scheinen ihn nicht direkt berührt zu haben. 1577, beim Ende des Sechsten, konvertierte er zum Katholizismus und wurde Sekretär des königlichen Statthalters (gouverneur) der Provence, des literaturbeflissenen Bastards von König Henri II, Henri d'Angoulême, der auch Grand Prieur, d.h. Oberhaupt des Malteserordens in Frankreich war. 1581 heiratete er in Aix die Tochter eines der Vorsitzenden Richter am obersten Gerichtshof (Parlement) der Provence.

Seine ersten Werke (kürzere und längere lyrische Texte) sind geprägt von italienischen Vorbildern und von den Dichtungen der Pléiade-Schule, d.h. der Lyrikergeneration vor ihm. Als 1586, kurz nach Beginn der letzten Phase der Religionskriege, sein Protektor Henri d’Angoulême ermordet wurde, kehrte Malherbe zurück nach Caen und wurde dort städtischer Richter. Ab 1595, inzwischen war Frankreich fast befriedet, lebte und schrieb er wieder in Aix. Sein Name wurde allmählich bekannt in der Literaturszene der Zeit. Dennoch scheiterte er lange Zeit mit seinen Versuchen, erneut einen hochstehenden Mäzen zu finden oder gar am Hof Fuß zu fassen (z.B. 1600 mittels einer Begrüßungsode an die zweite Gemahlin von König Henri IV, Marie de Médicis).

1605 endlich wurde er Henri IV vorgestellt, dann allerdings sogar zum écuyer (Schildknappen) du Roi und zum Königlichen Kammerherrn (gentilhomme de la Chambre) ernannt und somit geadelt. In den nächsten 20 Jahren war Malherbe anerkannter Hofdichter, denn auch nach König Henris Ermordung 1610 blieb er in der Gunst der Königin und gewann später die des allmächtigen Kardinals de Richelieu.

In seiner Hofdichterrolle verfasste er zahllose Gelegenheitsgedichte (poésies de circonstance) zu den unterschiedlichsten Anlässen, z.B. Prière pour le Roi allant en Limousin (1605, sein Einstiegsgedicht in Paris), Sonnets pour Alcandre (Rollenlyrik im Namen von Henri IV an eine von dessen Geliebten), Ode au Roi Louis XIII allant châtier la rébellion des Rochelois (1628). Zugleich beherrschte er als Kritiker mit seinem Urteil die Pariser Literaturszene und umgab sich mit jüngeren Literaten als Schülern. In dem Maße, wie seine Kreativität abnahm, wurde sein Stil nüchterner, klarer, ausgefeilter, formvollendeter; und während die meisten seiner dichtenden Zeitgenossen der typisch barocken Tendenz zum Gekünstelten und damit oft zum Hermetismus, d.h. dem gewollten Schwierigsein, folgten, war Malherbe der Meinung, dass Dichtung verständlich sein soll. Ebenso verurteilte er das angeblich der Inspiration folgende Drauflosschreiben und vertrat vielemehr das Prinzip des geduldigen Arbeitens und Feilens am Text.

Mit den strengen formalen und sprachlogischen Maßstäben, die er so setzte, wurde er einer der einflussreichsten Wegbereiter der franz. Klassik. Bekannt geworden ist der Halbvers „Enfin Malherbe vint !“, mit dem der spätere Klassiker Nicolas Boileau (s.u.) ihm Tribut zollte. Für die Romantiker des frühen 19. Jh. allerdings, die sich von den literarischen Normen der Klassik zu befreien versuchten, war Malherbe der Prototyp des inspirationslosen Verseschmieds – ein Klischee, das noch heute oft sein Bild in der Literaturgeschichte bestimmt.

(Stand: Jan. 11)

Honoré d'Urfé (*10.2.1567 Marseille; †1.6.1625 Villefranche-sur-Mer nahe Nizza).

Sein Name ist verbunden vor allem mit L'Astrée, einem so umfänglichen wie erfolg- und einflussreichen Schäfer-Roman.

D'Urfé kam als fünfter von sechs Söhnen einer altadeligen Familie im Marseiller Haus seines Onkels zur Welt, des Comte (=Graf) de Savoie-Tende, Gouverneur der Provence. Seine Kindheit verbrachte er jedoch überwiegend auf Schloss La Bastie im Forez am Oberlauf der Loire, das sein Großvater, der Erzieher der Söhne von König Henri II gewesen war, verschönert und mit einer gutbestückten Bibliothek ausgestattet hatte. Er wurde früh für den Malteserorden bestimmt und besuchte bis 1584 das Jesuiten-Kolleg in Tournon an der Rhône, wo er eine umfassende humanistische Bildung erwarb. Mit 17 schrieb er ein erstes Schäfergedicht, La Sireine. Mit Anfang 20 hatte er die Idee zu einem Schäferroman (roman pastoral) nach italienischen und spanischen Vorbildern, d.h. vor allem Sannazaros Arcadia, Tassos Aminta, Guarinis Il pastor fido, Montemayors Diana und Cervantes' Galatea.

Doch wurde zunächst nichts daraus, denn 1590 unterbrach d'Urfé sein Leben als lesender und schreibender (und offenbar nicht eben mönchisch-keuscher) junger Edelmann und schloss sich der Armee der Katholischen Liga an, die 1589 den zunächst noch protestantischen neuen König Henri IV nicht anerkannte und im Bündnis mit dem König von Spanien und dem Herzog von Savoyen-Piemont gegen ihn einen Bürgerkrieg führte. Zweimal geriet er hierbei in Gefangenschaft, kam aber durch die Intervention von Verwandten jeweils wieder frei. 1595, nach der Niederlage der Liga und seiner zweiten Freilassung, ging er ins Exil nach Virieu in Savoyen, mit dessen Herzog er über seine Mutter verwandt war.

In Virieu und am savoyischen Hof in Turin schriftstellerte er wieder: Er verfasste die Versepisteln Épîtres morales (begonnen schon während der zweiten Gefangenschaft, gedruckt in zwei Bänden 1598 und 1603) und begann seinen seit langem projektierten Schäferroman, L'Astrée.

1600 heiratete er seine Jugendliebe, die Frau eines älteren Bruders, nachdem ihre Ehe vom Papst für nichtig erklärt und er selbst von seinem Ordensgelübde entbunden worden war. Allerdings trennten sich die neuen Gatten ziemlich bald, wenn auch gütlich. L'Astrée, die von der Liebe des Schäfers Céladon zu der Schäferin Astrée erzählt, verarbeitet in vielerlei Hinsicht d'Urfés zunächst unerlaubte, schwierige Liebe zu seiner Schwägerin.

1603 machte er, so wie viele andere zuvor oppositionelle Adelige, seinen Frieden mit Henri IV und weilte hiernach häufig in Paris. Dort versah er am Hof das Amt eines gentilhomme ordinaire (eine Art Edeldomestik des Königs), verkehrte vor allem aber aber mit Literaten, u.a. Malherbe (s.o.), und frequentierte die tonangebenden Salons, z.B. den der Marquise de Rambouillet. Allerdings hielt er sich auch oft in Turin oder seinen Besitzungen auf.

Zugleich führte er L’Astrée fort: 1607 wurde der erste Band gedruckt, 1610 und 1619 erschienen Bd. II und III. 1624 folgte Teil I von Bd. IV, 1627 (schon postum) der Rest des Bandes, dem d'Urfés langjähriger Sekretär Baro 1627 einen fünften Band hinzufügte, der wohl grosso modo der originalen Konzeption d’Urfés entsprach.

Dieser nämlich hatte inzwischen trotz seines vorgerückten Alters im Dienst des Herzogs von Savoyen an dessen Krieg um das Veltlin teilgenommen und war bei einem Sturz mit seinem Pferd ums Leben gekommen.

Wie der Name der Titelfigur des Romans, Astrée, andeutet, spielt die Handlung nicht, wie in den o.g. ital. und span. Vorbildern, in einem räumlich und zeitlich fernen, legendären Arkadien, sondern in Frankreich, genauer in d'Urfés Heimatgegend, dem Forez. Immerhin wird sie zurückverlegt in das 5. Jh. n. Chr., d.h. die Zeit der Völkerwanderung, von deren Wirren, das Forez aber ausgenommen scheint, ebenso wie es noch frei ist von der Herrschaft einer zentralistischen und tendenziell absolutistischen Monarchie, wie sie dem Aristokraten d’Urfé insgeheim zuwider war. Die mehr als 5000 (!) Seiten des Werkes umfassen eine Haupthandlung, in die nach dem Schubladenprinzip mehrere Nebenhandlungen, zahlreiche Binnenerzählungen sowie lange Diskussionen der Figuren über alle Aspekte der Liebe eingebettet sind. Haupthandlung ist die Geschichte der Liebe des anfangs 14-jährigen Céladon zu der 12-jährigen Astrée, die ihn wegen seiner vermeintlichen Untreue verstößt und erst nach langen, langen Prüfungen wieder aufnimmt. (In Bd. III z.B. lebt Céladon als angebliche Druidentochter unerkannt mit Astrée in engster Freundschaft zusammen, was ihn öfters in Bedrängnis bringt.)

Die Astrée ist von der Technik her eine Summe der Romankunst der Zeit. Vor allem aber hatte sie wegen der psychologischen Einfühlsamkeit der Personen-Darstellung, der salongemäß kultivierten Reden dieser Personen und des schönen Dekors, in dem die Handlung spielt, einen enormen und langandauernden Erfolg in adeligen, aber auch in bürgerlichen Kreisen. Sie diente als Vorlage für andere Schäferromane, Schäfergedichte, Schäferspiele, Schäferopern und -ballette, sowie für viele Gemälde, Stiche, Wandteppiche usw. Der männliche Protagonist Céladon wurde zum Prototyp des schmachtenden, schüchternen Liebhabers; sein Name ist ins franz. Lexikon eingegangen in der Wendung „être un Céladon“.

Die Astrée wurde früh auch ins Deutsche übersetzt.

(Stand: Juli 05)

Alexandre Hardy (* um 1570 in Paris; † 1632)

Zwar ist er auch in Frankreich kaum mehr bekannt, doch war er einer der fruchtbarsten Dramatiker der franz. Literaturgeschichte überhaupt mit seinen offenbar mehr als 600 Stücken. Sein Einfluss auf die Dramatiker neben und unmittelbar nach ihm sowie auf den Publikumsgeschmack der Zeit war groß.

Die meisten seiner Tragödien, Tragikomödien und Pastoralen schrieb er ab 1593 für die Truppe um den Schauspieler Valleran Lecomte, die im Saal des Pariser Hôtel de Bourgogne auftrat, aber auch in der Provinz umherzog. Sein Publikum waren demnach nicht nur die gebildeten Kreise in Adel und Bürgertum, sondern auch ungebildete Zuschauer z. B. auf Jahrmärkten.

Da Hardy lange ausschließlich für eine bestimmte Truppe arbeitete, ließ er seine Stücke während dieser Zeit ungedruckt. Nach dem Druck nämlich wären sie frei gewesen und hätten auch von konkurrierendenTruppen  aufgeführt werden dürfen.

Seine Stoffe bezog Hardy relativ wahllos aus der klassisch-antiken und spätantiken, aber auch der jüngeren franz., italienischen und spanischen Literatur. Hierbei arbeitete er häufig ältere und neuere Stücke anderer Autoren nach seinen Vorstellungen und denen seiner Schauspieler einfach nur um. Er dramatisierte aber auch erzählende Werke und überführte z. B. den berühmten Liebes- und Abenteuer-Roman Theagenes und Chariklea von Heliodor (3./4. Jh.), der in Frankreich seit 1548 in der Übersetzung Jacques Amyots (s.o.) verbreitet war, in eine Serie von acht Folgen. Naturgemäß wirken Komposition und Stil seiner meist sehr rasch verfassten Stücke oft flüchtig, doch war er ein routinierter Praktiker, der sein Publikum durch aktionsreiche Handlungen, spannende, mitunter brutale Szenen und lebendig wirkende Figuren zu fesseln verstand.

Als Hardy nach Lecomtes Tod nicht mehr für nur eine Truppe arbeitete (auch wenn er überwiegend das Pariser Théâtre du Marais belieferte), ließ er eine Auswahl von 34 Stücken drucken (Paris., 6 Bde., 1624-28; Neudruck in 5 Bdn. Marburg 1883-84). Nur sie sind erhalten geblieben.

Die Autoren der Generation nach ihm, z. B. Jean Chapelain (s.u.) oder Jean Mairet (s.u.), die um 1635 die Regeln und Vorstellungen des klassischen französischen Theaters entwickelten, taten dies nicht zuletzt in direkter Reaktion auf Hardy, dem sie Regellosigkeit, Mangel an Geschmack und Rohheit vorwarfen. Schon vorher hatte es seinem Image geschadet, dass der Pariser Literatur-Guru François de Malherbe (s.o.) seinen Stil für unlesbar erklärte.

(Stand: März 08)

Claude Favre de Vaugelas (*6.1.1585 in Meximieux/Bresse ; † 26.2.1650 in Paris).

Sein Name ist jedem Historiker der franz. Sprache bekannt.

Vaugelas (wie er i.d.R. schlicht genannt wird) war Sohn eines klein- bzw. neuadeligen Richters in der bis 1601 zu Savoyen gehörenden Provinz Bresse nahe dem schweizerischen Genf. 1624 erbte er den Titel eines „baron de Pérouges“.

Er erhielt eine solide klassische Bildung, überwiegend durch seinen Vater, und trat jung in die Dienste des Duc de Nemours, eines Cousins des Herzogs von Savoyen. In seinem Gefolge reiste er viel und erwarb gute Kenntnisse des Italienischen und Spanischen. Er ließ sich schließlich in Paris nieder, wo er sich mit wechselnden Aktivitäten über Wasser hielt, z.B. indem er einen franz. Hochadeligen als Dolmetscher nach Spanien begleitete oder sich als Hauslehrer in einer anderen hochadeligen Familie verdingte. Auch ließ er sich die niederen Weihen erteilen, um vielleicht einträgliche Kirchenpfründen bekommen und möglichst kumulieren zu können. Immerhin gelang es ihm, Zugang zu einigen mondänen Salons der Hauptstadt zu erhalten, wo man ihn geschätzt zu haben scheint, und Kontakte mit anerkannten Autoren zu pflegen, u.a. Malherbe (s.o).

Er selbst war als Literat nur ein mäßig erfolgreicher Übersetzer aus dem Lateinischen und Spanischen. Doch erarbeitete er sich hierbei einen Ruf als Grammatiker und Sprachgelehrter. 1634 gehörte er, als Mitglied des Kreises um Valentin Conrart (s.u.), zu den Gründungsmitgliedern der Académie Française (s.u.). Er war danach von Anbeginn an aktiv an dem wichtigsten Projekt der Académie beteiligt, dem Wörterbuch der franz. Sprache, dessen Konzept er entwarf, wobei er selber für die Buchstaben A bis I zuständig war.

Unzufrieden über die Langsamkeit, mit der dieses und die anderen Académie-Projekte vorankamen, insbes. die Grammatik (die erst 1932 erschien und sofort als veraltet galt), brachte er seine eigenen Überlegungen zu Papier als Remarques sur la langue française, utiles à ceux qui veulent bien parler et écrire, die er 1647 publizierte. Das Buch, ein Ratgeber für das „richtige“ Sprechen und Schreiben, wurde rasch mehrfach aufgelegt und zur allseits bekannten Autorität (die Molière in seinen Femmes savantes ironisiert). Mit den Remarques wurde Vaugelas zum Ahnherrn der in Frankreich (anders als im deutschen Sprachraum) sehr zahlreichen, noch heute höchst aktiven Wächter und Hüter der franz. Sprache.

Als Norm für den „guten Gebrauch“ (le bon usage) des Franz. setzte er den mündlichen Sprachgebrauch des überwiegend in Paris lebenden Hochadels und den schriftlichen Sprachgebrauch der bons auteurs, d.h. der anerkannten, in Paris arbeitenden und in Pariser Salons verkehrenden Autoren. Er bestärkte damit den wachsenden, auf Paris ausgerichteten politischen Zentralismus auch auf sprachlichem Gebiet und initiierte eine Entwicklung, die bis heute alle Personen benachteiligt, die nicht das pariserisch geprägte français standard beherrschen.

(Stand: Dez. 08)

La marquise de Rambouillet (* 1588 in Rom; † 2.12.1665 in Paris)

Sie war zwar keine Autorin, ist aber als Schirmherrin eines der wichtigsten „Salons“  in die Geistes- und insbes. die Literaturgeschichte eingegangen.

Geboren als Tochter des französischen Marquis Jean de Vivonne und der aus altem römischen Adel stammenden Giulia Savelli, war sie sehr jung mit dem reichen Marquis de Rambouillet verheiratet worden. Sie war hochgebildet und beherrschte mehere Sprachen. Da sie gesundheitlich anfällig war und die regelmäßige Anwesenheit am Pariser Königshof scheute, schuf sie sich ab ca. 1620 eine Art kleinen eigenen Hof in ihrem nahe dem Louvre gelegenen Stadtpalast, dem Hôtel de Rambouillet, das mehr oder weniger nach ihren Plänen erbaut worden war. Hier führte sie bis gegen 1660 ein offenes Haus, in dem sich geistig interessierte Hochadelige, darunter Le Grand Condé oder Richelieu, mit kleinadeligen sowie auch bürgerlichen Intellektuellen trafen. Zugleich, um keine reine Männergesellschaft entstehen zu lassen, sorgte sie für die Anwesenheit adeliger Damen sowie auch adeliger junger Mädchen, darunter, neben ihrer Tochter Julie, Marie de Rabutin-Chantal, die spätere Mme de Sévigné (s.u.) oder Marie-Madeleine Pioche de la Vergne, die spätere Mme de La Fayette (s.u.).

Der sich durchaus als elitär und exklusiv empfindende Kreis um die Marquise sowie den einfallsreichen Animateur Vincent Voiture (s.u.) übte sich vor allem in der Kunst der geistreichen Konversation sowie der galanten Gelegenheitsdichtung. Hierbei entwickelte man das im Prinzip egalitäre, d. h. nicht ständisch gebundene Ideal des honnête homme (ein Begriff, der vielleicht in Analogie zu „gentilhomme - Edelmann“ kreiert wurde und mit „Ehrenmann“ sehr unzutreffend übersetzt ist).

Die bewusst kunst- und anspruchsvollen Ausdrucksweisen des Kreises fanden starken Widerhall in der Literatur der Epoche, wirkten aber auch in die Pariser Gesellschaft hinein, wo sie bald teils nachgeahmt, teils aber auch als „preziös“ (eigentlich „kostbar“) belächelt wurden.

Nach dem Tod Voitures (1648) und mit Beginn der Wirren der Fronde (1648-52) war die Glanzzeit des Hôtel de Rambouillet vorbei. Als 1661 Molière (s.u.) mit Les Précieuses ridicules die Preziosität in Gestalt zweier überkandidelter Bügerstöchter karikierte, war sie schon eine Art abgesunkenes Kulturgut geworden.

(Stand: Nov. 09)

Théophile de Viau (*1590 in Clairac ; † 25.9.1626 in Chantilly).

Er war zu seinen Lebzeiten ein sehr erfolgreicher Autor, der zur Zeit der Klassik aber in Vergessenheit geriet und erst von den Romantikern als einer der besten Lyriker des 17. Jh. wiederentdeckt wurde.

Viau (in Literaturgeschichten häufig liebevoll schlicht „Théophile“ genannnt) war jüngerer Sohn aus einer protestantischen adeligen Familie und besuchte kalvinistische Schulen in Montauban und in Leiden/Holland.

Nachdem er 1615, in einer der immer wieder noch aufflammenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken, zunächst auf protestantischer Seite gegen die Armee des jungen Königs Louis XIII gekämpft hatte, machte er seinen Frieden mit diesem, um in Paris Zugang zum Hof und zur guten Gesellschaft zu erhalten und leichter Mäzene zu finden. 1619 bekam er jedoch Schwierigkeiten mit der Justiz, weil Jesuiten ihn als unchristlichen libertin (Freidenker), aber auch als sittenlosen, womöglich homosexuellen Lebemann denunzierten. Er zog es deshalb vor, vorübergehend aus Paris zu verschwinden. 1620 kämpfte er in der königlichen Armee gegen Truppen der Protestanten. 1622 konvertierte er offiziell zum Katholizismus, so wie viele französische Protestanten, die es leid waren, Bürger zweiter Klasse zu sein. De facto war und blieb Viau jedoch libertin und Epikuräer (Anhänger des die Lust und den Genuss bejahenden griechischen Philosophen Epikur), wobei vielleicht seine mutmaßliche Homosexualität eine Rolle spielte, die ihn letztlich sowohl bei Katholiken wie bei Protestanten Außenseiter sein ließ und ihm die Prekarität und Flüchtigkeit der menschlichen Existenz besonders bewusst machte.

Als Lyriker, der er hauptsächlich war, orientierte sich Viau formal an Malherbe (s.o.), akzeptierte aber nicht dessen Nüchternheit und quasi kunsthandwerkliche Feilerei, sondern ließ der Phantasie und der Spontaneität der Gefühle und Gedanken freieren Lauf. Ein Sammelband seiner thematisch vielfältigen und oft sehr persönlich wirkenden Dichtungen erschien erstmals 1621 als Œuvres poétiques, traf ganz offenbar den Zeitgeschmack und erlebte mehrere jeweils erweiterte Auflagen, deren letzte postum noch rd. 90 (!) Male nachgedruckt wurde.

Auch als Dramatiker war Viau erfolgreich mit Les amours de Pyrame et de Thisbé (1621), einem Stück, das die unglückliche Liebe der Nachbarskinder Pyramus und Thisbe darstellt, die von beiden Familien und dazu dem König als Nebenbuhler behindert wird und im irrtümlichen doppelten Selbstmord endet. Das Stück wurde zwischen 1623 und 1698 73 Male nachgedruckt und diente vielen späteren Autoren als Vorbild.

1623 floh Viau einmal mehr aus Paris, als ihm ein anonymes erotisches Gedicht mit homosexueller Pointe zugeschrieben wurde. In Abwesenheit zum Scheiterhaufen verurteilt, wurde er bald danach verhaftet und 1625, nach einem nochmaligen, zweijährigen, demütigenden Prozess, zu einer Verbannung aus Paris „begnadigt“. Offensichtlich wollte man ein Exempel an ihm statuieren, um die anderen libertins zu disziplinieren, mochte dann aber nicht bis zum Äußersten gehen, weil der Prozess ein großes öffentliches Für und Wider erregte und hochstehende Personen sich für ihn einsetzten. Viau wurde hiernach von Freunden in der Provinz aufgenommen, starb jedoch mit 36 an den gesundheitlichen Folgen der Haft, kurz nachdem ihm die Rückkehr nach Paris erlaubt worden war.

(Stand: Juli 09)

Jean Chapelain (* 4.12.1595 in Paris; † 22.2.1674 ebd.)

Er stammte aus einer kleinbürgerlichen Juristenfamilie, konnte aber gute Kenntnisse der klassischen Sprachen und des Italienischen und Spanischen erwerben. Seinen Unterhalt verdiente er zunächst als Hauslehrer. Dieser als Autor eher nur mittelmäßige Literat ist gleichwohl sehr bedeutsam geworden durch seine Lettre sur la règle des vingt-quatre heures (1630). Es ist ein poetologischer Traktat über die aristotelische Lehre von den drei Einheiten des Dramas, wonach die Handlung eines Stücks zielstrebig und einlinig sein soll (Einheit der Handlung), möglichst nur an einem Ort spielen darf (Einheit des Ortes) und innerhalb von 24 Stunden abgeschlossen sein muss (Einheit der Zeit). Chapelain orientierte sich hierbei an italienischen Dramatikern und Theoretikern, vor allem Giulio Cesare Scaligero. Er reagierte damit gegen das seines Erachtens regellose Theater des fruchtbarsten Dramatikers der ersten Jahrzehnte des 17. Jh., Alexandre Hardy (ca. 1570–1632, angeblich über 600 Stücke!, s.o.).

Nach dem Erfolg seines Traktats und dank dem Umstand, dass er 1634 zu den Gründungsmitgliedern der Académie Française (s.u.) gehörte, war Chapelain fast 40 Jahre lang einer der Platzhirsche des Pariser Literaturbetriebs. Mehr nebenher betätigte er sich als Gelegenheitsdichter im Dienste hochstehender Personen, als Chefkritiker der Académie (die laut Gründungsauftrag über den guten Geschmack in Sprache und Literatur wachen sollte) sowie als Epiker. Denn die Gattung Versepos florierte, was heute kaum mehr bekannt ist, sehr im 17. Jh.. Das epische Hauptwerk von Chapelain, La Pucelle d'Orléans (1656), war allerdings nur deshalb kurz erfolgreich, weil er die potenziellen Leser lange Zeit hindurch neugierig zu machen und hinzuhalten verstanden hatte.

Ab 1661 führte Chapelain im Auftrag des neuen allmächtigen Ministers Colbert eine königliche Pensions-Liste, auf die solche Autoren gesetzt wurden, die dem Minister und seinem jungen König Louis XIV genehm waren und damit als einer jährlichen Gratifikation würdig erschienen.

(Stand: Dez. 10)

Vincent Voiture (* 1597 in Amiens; † 26.5.1648 in Paris)

Voiture verkörperte perfekt den im deutschen Sprachraum der Zeit kaum bekannten Typ des Fürstendieners, Lebemannes, Gesellschaftsmenschen und Literaten in einer Person. Er war zugleich Produkt und Akteur der Pariser Salonkultur vor und um 1650, die ihn formte und die er maßgeblich mitgeformt hat. Viele Autoren neben und nach ihm hat er beeinflusst.

Er wuchs auf als Sohn eines vermögenden Weinhändlers, der sein Geschäft von Amiens nach Paris verlegt hatte und hier den Hof belieferte. Er genoss eine gute Bildung und kam über einen adeligen Schulfreund früh mit hochgestellten Personen in Berührung, insbes. dem jüngeren Bruder von König Louis XIII, Gaston d'Orléans, bei dem er sich als Sechzehnjähriger mit einem geistreichen Gedicht einführte. Früh auch pflegte er einen quasi adeligen Lebensstil mit Mätresse, Spiel und Duellen.

Um seinem gesellschaftlichen Ehrgeiz eine solidere Basis zu geben, kaufte er 1626 das Amt eines Königlichen Rates (conseiller du Roi), das seinen Inhaber nach Ablauf einer bestimmten Frist in den Adelstand erhob. Im selben Jahr erhielt er Zugang zum „preziösen“ schöngeistigen Salon der Marquise de Rambouillet, dessen hohe Zeit die gut zwanzig Jahre wurden, während derer er dort mit seiner Konversation, seinen unterhaltsamen Einfällen sowie seinen Versen und Briefen tonangebend war.

Ebenfalls 1626 wurde er von Gaston d’Orléans als „gentilhomme ordinaire“ in sein Personal aufgenommen und bald mit der protokollarischen Aufgabe betraut, ihm die Botschafter ausländischer Fürsten zu präsentieren. Denn Gaston war aufgrund der langen, bis 1638 währenden Kinderlosigkeit von Louis XIII viele Jahre hindurch potenzieller Thronfolger und wurde als solcher nicht nur häufig in Adelskomplotte gegen den allmächtigen Minister Kardinal de Richelieu hineingezogen, sondern auch von auswärtigen Fürsten umworben, die mit oder gegen Frankreich am Dreißigjährigen Krieg (1618-48) beteiligt waren.

Als 1628 Gaston ein erstes Mal vom König mit Verbannung bestraft wurde, folgte Voiture ihm ins Exil nach Lothringen, das noch zum Deutschen Reich gehörte; 1631 folgte er ihm ins damals spanische (d.h. feindliche) Brüssel. 1633 reiste er für ihn, denn offenbar besaß er Spanischkenntnisse, in diplomatischer Mission nach Madrid, wobei er einen Abstecher ins nordafrikanische Ceuta machte und über Lissabon und England zurückkehrte. Die Briefe und Versepisteln, die er jeweils aus der Ferne an Freunde vom Hôtel de Rambouillet schickte, waren dort stets ein Ereignis und wahrten ihm in Abwesenheit seinen Platz als zentrale Figur.

Über das Hôtel de Rambouillet und die dort verkehrenden Autoren hatte Voiture naturgemäß Anschluss an Pariser Literatenzirkel gefunden. Insbes. gehörte er zu dem um Valentin Conrart (s.u.) vereinten Kreis und zählte so, als dieser 1634 von Richelieu zum Gründungskern der Académie Française erhoben wurde, zu deren ersten Mitgliedern.

Spätestens hierdurch trat er, trotz seiner Nähe zu Gaston d’Orléans, in ein näheres Verhältnis auch zu Richelieu, dem er sich 1636 durch ein Gedicht über die Rückeroberung der pikardischen Stadt Corbie empfahl, die zuvor von spanischen Truppen eingenommen worden war.

1638 reiste Voiture, der auch über Italienischkenntnisse verfügte, in diplomatischer Mission, nunmehr des Königs, zum Großherzog von Toscana. Bei einem Abstecher nach Rom kümmerte er sich dort um einen Prozess der aus Italien stammenden Marquise de Rambouillet, traf Literaten und wurde in eine „Akademie der Humoristen“ aufgenommen.

Zurück in Paris erreichte er den Höhepunkt seiner Höflingskarriere, als er 1639 von Louis XIII zum Königlichen Hofmeister (maître d’hôtel du Roi) ernannt wurde, eine Beinahe-Sinekure mit erfreulichem Gehalt, das vermehrt wurde durch eine jährliche Zahlung (pension) von 1000 Talern (écus), die ihm die Königin aus ihrer Schatulle gewährte. Als ihn 1642 sein alter Schulfreund, der in der Steuererhebung tätig war, zu einer Art Bürochef mit 4000 Talern Einkommen machte, war er mehr als nur wohlhabend.

Nach dem Tod von Richelieu (1642) und Louis XIII (1643) schaffte es Voiture, die Gunst auch des neuen mächtigen Mannes, des Kardinals Mazarin, zu erlangen.

Nach wie vor verkehrte er im Hôtel de Rambouillet. So war er dort 1645 Protagonist eines literarischen Duells in Sonetten, zu dem ihn ein gewisser Claude de Malleville herausforderte und das lange Diskussionen auslöste. Und noch nach seinem Tod, sorgte er für Gesprächsstoff, als 1650 der vor allem als Dramatiker aktive Isaac de Benserade ein Sonett von ihm mit einem themengleichen Gedicht zu übertreffen versuchte.

Da er als Autor letztlich nur dilettierte, beschränkte Voiture sich hierbei auf kürzere Versgattungen, d.h. Sonette, Balladen, Rondeaus, Episteln u.ä., sowie Briefe. Das Markenzeichen dieser Texte sind Gefälligkeit, Esprit und Leichtigkeit bei formaler Perfektion. So sind seine Verse in Metrik und Sprache sowie in ihrer Metaphorik und Gedanklichkeit durchaus kunstvoll, wirken aber selten angestrengt oder gar gekünstelt. Gemäß dem in der Salonliteratur geltenden Ideal eines „mittleren“ Stils, vermeiden sie Pathos und Emphase ebenso wie Gelehrsamkeit, Derbheit oder Schlüpfrigkeit. Ihr Gegenstand ist zum einen meist das Thema Frauenschönheit und Liebe, das, sichtlich in Anlehnung an Clément Marot (s.o.), spielerisch-galant behandelt wird, sowie zum anderen Fürstenlob in verschiedenster Form, das aber unaufdringlich-launig zu sein versucht. Die Briefe sind, ohne ihren Charakter als ausgefeilte Kunstwerke zu leugnen, nicht für ein anonymes Publikum oder gar die Nachwelt verfasst, sondern stets an konkrete Empfänger gerichtet. Mit ihrer Orientierung an der kultivierten gesprochenen Sprache der Salons, ihrem Humor und ihren diskreten privaten Anspielungen sollten sie spontan und vor allem persönlich wirken, obwohl sie sichtlich dazu bestimmt waren, auch von Dritten, vor allem gemeinsamen Bekannten, gelesen und goutiert zu werden.

Da ihm der Beifall seines engeren Hörer- und Leserkreises genügte, bemühte Voiture sich nicht um die Verbreitung seiner Texte per Druck. So wurde er einem größeren Publikum erst postum bekannt dank einer einbändigen Sammelausgabe seiner Gedichte und Briefe, die kurz nach seinem Tod ein Neffe besorgte. Sie wurde bis 1745 häufig neu aufgelegt und hat viele spätere Autoren beeinflusst, z.B. Jean de La Fontaine, Nicolas Boileau oder Mme de Sévigné.

(Stand: Jan. 09)

Charles Sorel (*1599 in Paris; † 7.3.1674 ebd.).

Er ist im deutschen Sprachraum kaum bekannt geworden, gilt in der franz. Literaturgeschichte aber durchaus als bedeutsamer Autor.

Sorel stammte aus einer Pariser Juristenfamilie und erhielt eine passable Bildung. 1623 betrat er als ganz junger Mann höchst erfolgreich die literarische Bühne mit La vraie histoire comique de Francion, dem ersten französischen Picaro-Roman nach spanischen Vorbildern (wie z.B. dem Lazarillo de Tormes von 1554). Es ist die Geschichte eines jungen Provinzadeligen, der zunächst ein Liebesabenteuer mit einer verheirateten Frau hat, dann aber eine ideale Geliebte wiederzufinden versucht, die nach Italien entschwunden ist und die er schließlich auch bekommt. Eingefügt in diese Haupthandlung, die zunächst bei und in Paris, dann in und bei Rom spielt, sind längere Einschübe, in denen verschiedene der Figuren, darunter der Titelheld Francion selbst, als Ich-Erzähler rückblickend aus ihrem mehr oder weniger bewegten Leben berichten. Hierbei gibt Sorel in einer für die Zeit sehr realistischen Weise Einblick in die Lebensverhältnisse fast aller Schichten der damaligen franz. Gesellschaft, die im Rahmen spannender Handlungssequenzen nicht ohne Witz und Satire dargestellt werden. Der Francion wurde das ganze 17. Jh. hindurch ständig nachgedruckt und vielfach imitiert.

1627/28 publizierte Sorel einen weiteren, aber deutlich weniger erfolgreichen Roman, Le Berger extravagant. Es ist die quasi mit pädagogischen Intentionen erzählte Geschichte eines jungen Pariser Bourgeois, der nach allzu ausgiebiger Lektüre von Schäferromanen als Hirte mit dem romanesken Namen Lysis zu leben versucht, dank dem Spott seiner Freunde schließlich aber von seiner Torheit geheilt wird. In diesem teilweise reichlich lehrhaften "Anti-Roman" (so der Titel der überarbeiteten Version von 1633/34) persiflierte Sorel die von Honoré d'Urfé (s.o.) mit seinem Schäferroman L'Astrée ausgelöste Mode der Schäfergedichte, Schäferstücke, Schäferromane und schäferlichen Gesellschaftsspiele aller Art.

1635 kaufte Sorel von einem Onkel das Amt eines Historiographe [Chronisten] de France, das zwar nur mäßig dotiert war, aber eine Beinahe-Sinekure darstellte, die es einem Literaten erlaubte, einigermaßen unabhängig von Mäzenen und von der Gunst des Publikums zu schriftstellern. Dies tat er denn auch mit Fleiß noch viele Jahre, wobei er neben zwei weiteren Romanen vorwiegend ernsthaftere „livres d'histoire, de morale et politique“ verfasste (z.B. eine Histoire de Louis XIII, 1646). Er konnte jedoch nicht mehr anknüpfen an den großen Erfolg des Francion und den immerhin passablen des Berger, die die Entwicklung der franz. Literatur beeinflusst haben und ihrem Autor bis heute eine gewisse Bekanntheit sichern.

Von Interesse ist Sorel übrigens auch als Chronist der Literatur seiner Zeit mit den Büchern La Bibliothèque française (1664) und De la connaissance des bons livres (1671), wobei er der erste in Frankreich war, der sich an solchen Überblicken versuchte.

(Stand: Febr. 08)

René Descartes (* 31.3.1596 in La Haye/Touraine; † 11.2.1650 in Stockholm)

Er gilt den Franzosen als einer ihrer wichtigsten Denker und hat, so das verbreitete Klischee, den franz. Nationalcharakter im Sinne von Logik, Ordnung und Rationalität geprägt: des nach ihm benannten esprit cartésien.

Er wurde geboren als viertes Kind einer kleinadeligen Familie der Touraine; sein Vater war Gerichtsrat (conseiller) am Parlement von Rennes, dem Obersten Gerichtshof der Bretagne. Da seine Mutter gut ein Jahr nach seiner Geburt starb und der Vater sich rasch wieder verheiratete, verlebte Descartes seine Kindheit bei einer Amme und einer Großmutter. Mit 8 kam er als Internatsschüler auf das Jesuitenkolleg von La Flèche, das er 1614 mit einer soliden klassischen, aber auch mathematischen Bildung verließ sowie mit überwiegend positiven Erinnerungen an seine Lehrer und Mitschüler, von denen einer, der spätere Pariser Privatgelehrte und Naturforscher Marin Mersenne (1588-1648) eine enge Bezugsperson für ihn blieb.

Bis 1616 studierte Descartes Jura in Poitiers und legte ein juristisches Examen ab, so als wolle er in die Fußstapfen seines Vaters treten. Anschließend absolvierte er jedoch an einer Pariser „Académie“ für junge Adelige einen Lehrgang in Fechten, Reiten, Tanzen und gutem Benehmen und verdingte sich (ebenfalls noch 1616) bei dem berühmten Feldherrn Moritz von Nassau im holländischen Breda, so als wolle er die andere Option eines jungen Adeligen ausüben, nämlich eine Offizierskarriere. In Breda lernte er den 6 Jahre älteren Arzt und Naturforscher Isaac Beeckmann kennen, der ihn für die Physik begeisterte und dem er, dankbar für diese Initiation, sein erstes naturwissenschaftliches Werk widmete, das mathematisch-physikalisch orientierte Musicae compendium (1618).

1619, nach Reisen durch Dänemark und Deutschland, verdingte sich Descartes nochmals als Soldat, nunmehr bei Herzog Maximilian von Bayern, unter dem er auf kaiserlich-katholischer Seite an der Eroberung Prags teilnahm, d.h. den ersten Kämpfen des Dreißigjährigen Krieges (1618-48).

Im November 1619, kurz nachdem er in Prag die Arbeitsstätte der Astronomen Tycho Brahe (1546-1601) und Johannes Kepler (1571-1630) besichtigt hatte, bekam er in einer Art Vision die Idee, dass es „eine universale Methode zur Erforschung der Wahrheit“ geben müsse und dass er berufen sei, sie zu finden, wobei er keine Erkenntnis akzeptieren dürfe außer der, die er in sich selbst oder dem „großen Buch der Welt“ endeckt und auf ihre Plausibilität und Logik hin überprüft habe.

1620 hängte er also den Soldatenrock an den Nagel, machte die Pilgerfahrt, die er der Jungfrau Maria zum Dank für die Vision gelobt hatte, und ging einige Jahre lang auf jeweils vielmonatige Reisen durch Deutschland, Holland, die Schweiz und Italien. Sein Anliegen war, Einblicke jeglicher Art zu gewinnen und sich im Gespräch mit den verschiedensten Leuten, vor allem Gelehrten, zu bilden.

1625, nachdem er sein Erbe liquidiert und so angelegt hatte, dass es ihm ein bescheiden auskömmliches Leben erlaubte, ließ er sich nieder in Paris. Hier verkehrte er mit Intellektuellen und in der guten Gesellschaft (bestand auch siegreich ein Duell), las, schrieb (z.B. den kleinen Traktat Regulae ad directionem ingenii =Regeln zur Leitung des Intellekts, 1628) und machte sich einen Namen als scharfsinniger Kopf. Insbesondere beeindruckte er auf einer Abendgesellschaft den Kardinal Pierre de Bérulle so sehr, dass dieser ihn zu einer Privataudienz einlud und ihn danach aufforderte, seine Theorien ausführlicher darzustellen und damit die Philosophie zu reformieren.

Descartes zog deshalb 1629 aus Paris nach Holland, wohin ihn vielleicht die noch bestehende (aber bald in die Brüche gehende) Freundschaft mit Beeckmann zog sowie zweifellos das anregende und tolerantere geistige Klima, das in diesem multireligiösen und wirtschaftlich potenten Land mit großer Schul- und Hochschuldichte sowie vielen Buchdruckern herrschte. Hier verbrachte er, zwar im Austausch mit Intellektuellen unterschiedlichster Herkunft und Ausrichtung, aber dennoch relativ zurückgezogen, die nächsten 18 Jahre, wobei er seltsam unstet die Städte und Wohnungen wechselte (mit einer Dienstmagd aber auch ein Kind, ein Mädchen, zeugte, deren Tod ihn erschütterte, als sie fünfjährig starb). Vor allem jedoch schrieb er fleißig, darunter zahlreiche Briefe, die er über seinen Pariser Freund Mersenne, der allein seine jeweilige Adresse wusste, mit Gelehrten aus ganz Europa sowie auch einigen geistig interessierten hochstehenden Damen wechselte.

Die ersten Monate in Holland arbeitete Descartes an einem Traktat zur Metaphysik, in welchem er einen klaren und definitiven Gottesbeweis zu führen hoffte. Er legte ihn jedoch beiseite, um an einem großangelegten naturwissenschaftlichen Werk zu arbeiten, das er in der sich langsam profilierenden Wissenschaftssprache Französisch verfasste und nicht mehr, wie seine bisherigen Texte, in dem bis dahin dominierenden Latein. Diesen Traité du Monde (=Abhandlung über die Welt), wie er heißen sollte, ließ er jedoch unvollendet, als er vom Schicksal Galileo Galileis erfuhr, der soeben (1633) von der Inquisition zum Widerruf seiner Erkenntnisse gezwungen worden war, die das heliozentrische Weltbild von Kopernikus und Kepler bestätigten.

1637 publizierte er im holländischen Leiden den Discours sur la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, plus la Dioptrique, les Météores et la Géométrie qui sont des essais de cette méthode (=Rede/Vortrag über die Methode, seine Vernunft gut zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen, dazu die Lichtbrechung, die Meteore und die Geometrie als Versuchsanwendungen dieser Methode). Der als populärwissenschaftliches Werk auf hohem Niveau angelegte Discours sur la méthode (den auch Damen lesen können sollten) wurde Descartes' langfristig wirksamstes Buch, das nach Meinung vieler Franzosen ihr Denken im Sinne einer auf Logik und Systematik bedachten analytischen Intellektualität geformt hat. Fixpunkte des Discours sind eine Erkenntnistheorie, die nur das als richtig akzeptiert, was durch die eigene schrittweise Analyse und logische Reflexion als plausibel verifiziert ist; eine Ethik, gemäß der das Individuum sich im Sinne bewährter gesellschaftlicher Konventionen pflichtbewusst und moralisch zu verhalten hat; eine Metaphysik, die zwar (durch logischen Beweis) die Existenz eines vollkommenen Schöpfer-Gottes annimmt, aber kirchenartigen Institutionen wenig Raum lässt; eine Physik, die die Natur als durch allgemein gültige Gesetze geregelt betrachtet (göttliche und sonstige Wunder also ausschließt) und dem Menschen ihre rationale Erklärung und damit ihre Beherrschung zur Aufgabe macht.

Langfristig weniger wirksam, aber in Fachkreisen zunächst offenbar anstößiger waren die nächsten Werke von Descartes: die 1641 gedruckten Méditations sur la philosophie première, dans laquelle sont démontrées l'existence de Dieu et l'immortalité de l'âme (so der Titel einer franz. Übersetzung von 1647) und die Principia philosophiae (=Grundlagen der Philosophie, 1644). Die letzteren veranlassten Utrechter und Leidener calvinistische Theologen zu einer derart agressiven Polemik, dass Descartes 1645 an einen Umzug nach England dachte und in den Folgejahren mehrmals fluchtartig aus Holland nach Frankreich verreiste.

Sicher ließ ihn diese Situation nachdenken über die Beweggründe menschlichen Verhaltens, und sie ist vielleicht nicht unbeteiligt an dem Traktat Les passions de l'âme (=die Leidenschaften der Seele, 1649), den er für seine eifrigste, kritischste und kompetenteste Briefpartnerin, Elisabeth von Böhmen, verfasste. Hierin interpretiert er nicht nur die direkten Reflexe, z.B. die Angst, sondern auch die spontanen Gefühlsregungen, z.B. Liebe oder Hass, als nur zu natürliche Ausflüsse der kreatürlichen Körperlichkeit des Menschen, verpflichtet jedoch diesen, als ein zugleich mit einer Seele begabtes Wesen, zu ihrer Kontrolle durch den Willen und zu ihrer Überwindung durch vernunftgelenkte Regungen wie z.B. selbstlosen Verzicht oder großmütige Vergebung. Mit diesem Ethos der Pflicht und der Selbstüberwindung hat Descartes die Literatur der franz. Klassik des 17. Jahrhunderts, insbes. den Dramatiker Pierre Corneille (s.u.), stark beeinflusst.

Um 1645 hatte er einen BriefwechseI begonnen mit der hochgebildeten jungen Königin Christina von Schweden (1626-89), die durch den franz. Botschafter auf ihn aufmerksam gemacht worden war. Im Spätsommer 1649 folgte er ihrem Wunsch, er möge sie persönlich in seine Philosophie einführen, und reiste nach Stockholm. Hier wohnte er bei dem Botschafter, musste aber wochenlang auf die zunächst abwesende Königin warten, ehe es Ende Januar zu einigen wenigen Audienzen kam (übrigens jeweils morgens um fünf). Anfang Februar 1650 erkrankte Descartes und starb zehn Tage später. Hatte man bisher der Annahme den Vorzug gegeben, er sei an einer Lungenentzündung gestorben, so konnte kürzlich Theodor Ebert (Der rätselhafte Tod des René Descartes, 2009) durch akribische Recherchen die schon unter Zeitgenossen kursierende Vermutung bestätigen, dass er vergiftet wurde. Der Täter war dann vermutlich ein franz. Augustinermönch, der ebenfalls im Haus des Botschafters wohnte, viel mit Descartes diskutiert hatte, ihn sichtlich nicht für einen rechtgläubigen Katholiken hielt und offenbar verhindern wollte, dass er die Königin durch seine rationalistischen Lehren von dem Gedanken abbringen könnte, katholisch zu werden (was sie wohl schon damals überlegte und wenig später, 1654, tat).

Descartes’ Schriften wurden 1663 vom Vatikan auf den Index gesetzt.

Die berühmte Maxime „cogito, ergo sum“ (=ich denke, also bin ich existent), die der Erkenntnistheorie Descartes’ zugrunde liegt, ist gebildeten Europäern bis heute geläufig. Als seine dauerhafteste Leistung sollte sich allerdings sein Beitrag zur Mathematik erweisen: die Entwicklung der analytischen Geometrie.

(Stand: Nov. 09)

Tristan L’Hermite (eigentlich François L’Hermite, seigneur du Solier; * 1601 auf Schloss Solier/Marche; † 11.9.1655 in Paris)

Dieser als Lyriker und Dramatiker von den Zeitgenossen sehr geschätzte Autor stammte aus einer alten, aber verarmten Adelsfamilie. Schon als 5-Jähriger wurde er Page bei einem legitimierten Bastard von König Henri IV, wobei er, teils als Spielgefährten, viele hochadelige Personen kennenlernte. Mit 13 verletzte er in einem Duell einen königlichen Gardisten tödlich und musste fliehen. Nach einem unsteten Wanderleben vor allem in England und Schottland kam er 1619 nach Frankreich zurück, trat in die Dienste eines höherrangigen Adeligen und wurde vom jungen König Louis XIII begnadigt. 1621 avancierte er sogar zum gentilhomme ordinaire (einer Art Edeldomestik) bei Gaston d'Orléans, dem jüngeren Bruder des Königs, dem er bis 1634 diente und mehrfach bei dessen Verbannungen vom Hof ins Exil folgte.

Nachdem er sich schon seit etwa 1624 unter dem Pseudonym „Tristan“ literarisch betätigt hatte, versuchte er ab 1634 als Autor zu leben, d.h. von den Zuwendungen verschiedener Mäzene, aber auch von der Vermarktung seiner Werke, insbes. seiner Theaterstücke – was nicht ausschloss, dass er von Zeit zu Zeit wieder hochstehenden Personen zu Diensten war, z.B. Gaston oder dem duc de Guise.

1633 war das Gedichtbändchen Les Plaintes d'Acante sein Durchbruch, 1638 gab er seine Lyrik gesammelt heraus als Les amours de Tristan. 1636 verfasste er das erste und erfolgreichste seiner rd. 10 Stücke, die Tragödie La Marianne, die den Herodes-Mariamne-Stoff aus der jüdischen Geschichte behandelt. 1642 stellte er Le Page disgrâcié fertig, einen autobiografischen Roman im Stil der Picaro-Romane, der den jungen Tristan als Spielball eines launischen Schicksals darstellt und als einer der ersten franz. autobiografischen Romane von Bedeutung gilt.

1648 wurde er in die Académie Française (s.u.) aufgenommen. Bald nach seinem Tod jedoch geriet er in den Schatten der Generation der Klassiker, die nach ihm die literarische Bühne betrat und so gut wie alle Autoren davor als zweitrangig erscheinen ließ.

(Stand: Juli 05)

Georges de Scudéry (* 22. 8. 1601 in Le Havre; † 14. 5. 1667 in Paris)

Er ist heute praktisch nur noch bekannt als Bruder der Autorin Madeleine de Scudéry (s.u.), die einen Großteil ihres Romanschaffens unter seinem Namen veröffentlichte, in der Literaturgeschichte aber ungleich größere Geltung genießt.

Scudéry stammte aus einer ursprünglich südfranzösischen adeligen Familie. Sein Vater war jedoch Marineoffizier geworden und befehligte später den befestigten Hafen Le Havre. Mit 12 Jahren wurde er Waise und kam zusammen mit seiner sechs Jahre jüngeren Schwester zu einem Onkel bei Rouen, der ihnen eine gute Bildung angedeihen ließ. Um die 20 Jahre alt hielt er sich offenbar längere Zeit in Rom auf. Mit 22 wurde er Offizier und nahm an einigen der Feldzüge teil, mit denen die Krone die Macht der eigentlich gleichberechtigten, aber als widerspenstig und aufsässig geltenden Protestanten zu brechen versuchte. 1630 quittierte er den Dienst, um sich ganz der Literatur zu widmen.

Er ließ sich, zusammen mit seiner Schwester, die unverheiratet blieb, in Paris nieder, wo er das Image eines adeligen Militärs und Haudegens kultivierte, der nur nebenher und eher widerwillig schrieb.

Er debütierte 1631 mit einem Band Gedichte im Stil von Théophile de Viau (s.o.), doch betätigte er sich anschließend vor allem als Dramatiker mit einer Serie von insgesamt 16 passabel erfolgreichen Theaterstücken, überwiegend Tragikomödien. Er fand Zugang zu Pariser Salons (wo er auch seine Schwester einführte), erlangte aber auch die Protektion des allmächtigen Ministers Kardinal Richelieu, der das Theater für seine politischen Zwecke einzuspannen bemüht war.

In der Querelle du Cid, dem Literatenstreit um Pierre Corneilles erfolgreiche Tragikomödie Le Cid (Auff. Ende 1636, s.u.), agierte er, zunächst mit Rückendeckung Richelieus, als einer der aktivsten Kritiker seines jüngeren Konkurrenten. Seine gehässigen Observations sur „Le Cid“ (1637) trugen ihm jedoch auf lange Sicht nur den Ruf eines pedantischen Beckmessers ein. Die aus den Observations entwickelte Apologie du théâtre (1639), mit der er sich als Dramentheoretiker zu profilieren gedachte, fand nur geringes Echo.

Gegen 1640 versuchte er sich als Romancier und verfasste gemeinsam mit Schwester Madeleine den Roman Ibrahim, Ou l'Illustre Bassa (4 Bde., 1641).

Nach dem Tod Richelieus (1642) verhielt er sich neutral gegenüber dessen unbeliebten Nachfolger Kardinal Mazarin. Er wurde belohnt mit dem Posten eines Befehlshabers des Forts Notre-Dame-de-la-Garde, das den Hafen von Marseille beschützte. Hier blieb er mit Madeleine, die ihm gefolgt war, bis 1647, wonach er sich offenbar vertreten lassen konnte und nach Paris zurückging.

Während des Fronde-Aufstands (1648-52) ergriff Scudéry gegen Mazarin Partei und schloss sich dem Fürsten Condé an. Zweifellos dank dessen Protektion wurde er 1650 als Nachfolger von Claude Favre de Vaugelas (s.o.) zum Mitglied der Académie française gewählt. Nach dem Sieg Mazarins wurde er seines Marseiller Postens enthoben und in die Normandie verbannt. Er ließ sich in Rouen nieder, wo er das lange Versepos Alaric, Ou Rome vaincue. Poème héroïque (1654) vollendete und sich vorteilhaft verheiratete.

Als er 1660 nach Paris zurückkehren durfte, hatte sich dort der literarische Geschmack so stark verändert, dass ihm kein Come back gelang.

(Stand: Okt. 09)

Valentin Conrart (* 1603 in Paris; † 23.9.1675 ebd.).

Er ist weniger als Autor im engeren Sinn bedeutsam, denn als wichtige Figur im Pariser Literaturbetrieb seiner Zeit.

Er war Sohn eines wohlhabenden Pariser Kaufmanns aus der protestantischen Minderheit Frankreichs und absolvierte zunächst eine kaufmännische Ausbildung. 1627 erwarb er das Amt eines Königlichen Rates und Sekretärs, das seinem Inhaber wenig Mühe abverlangte, aber einen adelsartigen Status verschaffte. Hiernach widmete er sich überwiegend seinen literarischen und gesellschaftlichen Interessen.

Allgemein anerkannt dank seiner verbindlichen und integrativen Persönlichkeit, war er regelmäßiger Gast in den Salons der Marquise de Rambouillet, Madame de Sablés und später Mlle de Scudérys (s.u.), von der er in ihrem Roman Le Grand Cyrus unter dem Namen „Théodame“ porträtiert wurde. Er selbst versammelte in seinem Haus einen eigenen Literatenkreis, zu dem u.a. Jean Chapelain (s.o.), Vincent Voiture (s.o.) oder Claude Favre de Vaugelas (s.o) zählten.

Aus diesem Kreis ging 1634 durch eine Initiative des allmächtigen Ministers Kardinal de Richelieu die Académie Française hervor, deren erster ständiger Sekretär Conrart wurde und bis zu seinem Tod blieb.

So spielte er in der Anfangsphase der Académie eine wichtige Rolle bei der Erarbeitung ihrer Statuten und bei den Verhandlungen zum einen mit Richelieu über deren Genehmigung und zum anderen mit dem König wegen ihrer Bestätigung. Auch gewann er den Justizminister (chancelier) Pierre Séguier als Mitglied und Schutzherrn, bei dem hinfort die Sitzungen stattfanden, und er kümmerte sich um die Registrierung des königlichen Bestätigungserlasses durch das Parlement von Paris. Später führte er die Protokolle und die Akten der Académie, vertrat diese mit Geschick und Würde nach außen und trug viel dazu bei, dass sie rasch zu einer geachteten Einrichtung wurde.

Geschrieben hat Conrart nur wenig, publiziert noch weniger, daher der oft angeführte Vers von Nicolas Boileau (s.u.): « J'imite de Conrart le silence prudent ». Außer einigen Gedichten liegt von ihm nur eine postum (1681) gedruckte Briefsammlung und ein Bericht über die Fronde-Unruhen vor (Mémoires sur l'histoire de son temps, abgedruckt erst 1825 in den Mémoires pour servir à l'histoire de France von Louis Jean Nicolas Monmerqué). Die Pariser Bibliothèque de l'Arsenal besitzt weitere als Manuskript nachgelassene Schriften.

(Stand: Jan. 07)

1635 Bestätigung der Gründungsakte der Académie Française durch Louis XIII

Es ist ein wichtiges, fast jedem gebildeten Franzosen geläufiges Datum, denn die Académie Française ist nicht nur eine der ältesten Institutionen im geistigen Leben Frankreichs, sondern auch die prestigereichste.

Das 16. und 17. Jh. waren in Mittel- und Westeuropa die hohe Zeit der Akademien. Diese waren mehr oder weniger locker organisierte Diskussionszirkel von Literaten, Künstlern und Gelehrten sowie auch geistig interessierten Adeligen, die sich zunächst meist um einen arrivierten Kollegen und/oder einen (i.d.R. fürstlichen) Mäzen herum konstituierten. Schon 1570 wurde in Paris eine erste Académie Française ins Leben gerufen, die jedoch bald wieder einschlief. Die jetzige Académie Française ist hervorgegangen aus einem Pariser Literatenkreis, der sich seit 1629 bei dem heute praktisch unbekannten Autor Valentin Conrart (s.o.) traf. 1634 wurde der zunächst 9, dann 12 Köpfe zählende Kreis durch den regierenden Minister Kardinal de Richelieu auf 34 Mitglieder aufgestockt und zu einer staatlichen Institution erhoben, die 1635 von Louis XIII mit Brief und Siegel ausgestattet wurde. 1637 wurden die Statuten vom höchsten Pariser Gericht, dem Parlement, registriert und damit rechtskräftig. 1639 wurde die Mitgliederzahl nochmals erhöht, und zwar auf 40, wo sie seitdem blieb.

Während der Revolutionszeit wurde die Académie 1793 zusammen mit ihren Schwesterinstitutionen, der Académie des Sciences und der Académie des Inscriptions et Belles Lettres, verboten. Zur Zeit des Directoire 1795 wurden alle drei wiederbelebt und in Form von „Klassen“ zusammengefasst zum Institut de France. Erst 1816 wurde die Académie Française in ungefähr der alten Form und unter dem alten Namen wieder selbständig.

Die Académie verfügte lange Zeit über keine feste eigene Bleibe, sondern versammelte sich zunächst bei Mitgliedern, z.B. Conrart oder, später, dem Kanzler (Justizminister) Ségier. Ab 1662 tagte man im Louvre. Seit 1805 residiert die Académie im Collège des Quatre Nations gegenüber dem Louvre; dort hat auch der auf Lebenszeit gewählte und wohlbeamtete „Secrétaire perpétuel“ seine Dienstwohnung. Ebenfalls seit 1805 tragen die Mitglieder bei ihren offiziellen Zusammenkünften oder Auftritten das habit vert (grüne Jacke und Kniebundhose, grüner zweispitziger Hut sowie Degen).

Die Mitgliedschaft in der Académie gilt auf Lebenszeit; Ausschlüsse sind möglich, aber äußerst selten; die ebenfalls höchst seltenen Austritte werden ignoriert. Gern werden die Académiciens (ein Begriff, der nur sie bezeichnet, und nicht studierte Leute allgemein) auch „les 40 Immortels“ (= die 40 Unsterblichen) genannt unter Bezugnahme auf das Motto À l'immortalité! (= auf zur Unsterblichkeit!), das das Académie-Siegel trägt. Heute wird diese Benennung (bei allem Respekt) allerdings meist ironisch verwendet, auch im Hinblick auf die hohe Sterblichkeitsrate der überwiegend ja betagten Herrschaften.

Nach dem Tod eines Mitglieds wird von den anderen durch Wahl ein Nachfolger kooptiert, der früher vom König bestätigt werden musste und hierdurch (wenn er nicht schon adelig war) eine Quasi-Erhebung in den Adelsstand erfuhr. Nach seiner feierlichen Aufnahme muss das neue Mitglied eine Laudatio auf seinen Vorgänger halten, was nicht immer als angenehme Aufgabe wahrgenommen wird. Im Laufe ihres Bestehens haben mehr als 700 Personen der Académie angehört. Erstes weibliches Mitglied wurde 1980 gegen damals immer noch große Widerstände die Schriftstellerin Marguerite Yourcenar.

Da mit einem Fauteuil (Sessel) in der Académie ein hohes Prestige verbunden ist, gerät die Neubesetzung eines vakant gewordenen Sitzes stets zu einem Pariser gesellschaftlichen Ereignis von größtem Interesse, das von Spekulationen, Intrigen und Pressionen begleitet wird. Naturgemäß macht nicht immer der rückblickend bessere Kandidat das Rennen, sondern meist der angepasstere. Viele bahnbrechende Autoren (z.B. Diderot, Rousseau, Balzac, Flaubert, Baudelaire, Zola, Sartre oder Camus) sind nicht aufgenommen worden oder haben eine Mitgliedschaft gar nicht erst angestrebt.

Spätestens seit der Querelle des Anciens et des Modernes von 1687 war die Académie immer wieder Schauplatz von Machtkämpfen zwischen Traditionalisten und Neuerern. Während im 18. Jh. überwiegend die Neuerer das Heft in der Hand hatten, dominieren seit dem späten 19. Jh. die Traditionalisten. Deshalb werfen franz. Intellektuelle der Académie häufig Erstarrung und eitle Selbstbeschau vor.

Die offizielle Aufgabe der Académie war und ist laut Satzung die Vereinheitlichung und Pflege der franz. Sprache, insbes. durch die Erarbeitung eines Wörterbuchs sowie anderer Referenzwerke (Grammatik, Rhetorik, Poetik). In diesem Sinne werden als Mitglieder in aller Regel Leute gewählt, die sich einen Namen als Schreibende gemacht haben, auch wenn sie im Hauptberuf häufig keine Literaten sind, sondern z.B. Professoren, Politiker, kirchliche Würdenträger oder hochrangige Militärs.

Die erste Ausgabe des Académie-Wörterbuchs erschien ab 1694. Die im 19. und 20. Jh. unternommenen Neubearbeitungen setzten die normative Tendenz schon der ersten Ausgabe fort und bildeten, indem sie die Umgangsprache und die Fachsprachen weitgehend ignorierten, den franz. Sprachgebrauch immer unvollkommener ab. Entsprechend gab es schon um 1685 ein konkurrierendes Projekt: das Dictionnaire universel von Antoine Furetière (s.u.), das allerdings erst 1690 postum und illegal in den Niederlanden gedruckt wurde.

Die Académie verwaltet ein beachtliches Vermögen aus privaten Stiftungen. Aus den Erträgen finanziert sie u.a. diverse Literatur-Preise, die sie jedes Jahr verleiht. Seit 1986 zählt hierzu der Grand prix de la Francophonie, der das Interesse der Académie an der Verbreitung der französischen Sprache in der Welt bezeugt.

(Stand: Juni 12)

Jean Mairet (* 4.1.1604 in Besançon; † 31.1.1686 ebd.)

Er ist vor allem bekannt als Verfasser von drei Tragödien (in fürstlichen Kreisen spielender, tragisch endender Stücke mit historischem Stoff) sowie von etwa sieben Tragikomödien (in höheren Kreisen spielender Stücke mit nicht-tragischem Ausgang) und gilt als der bedeutendste franz.sprachige Dramatiker der Zeit zwischen 1625 und 1637, d.h. vor dem Aufstieg des ältesten Klassikers, Pierre Corneille (s.u.).

Mairet war eigentlich zum Studium aus der heimatlichen Franche-Comté (die damals der spanischen Krone gehörte) nach Paris gekommen, verlegte sich aber rasch aufs Stückeschreiben. Mit etwa 20 bekam er ein erstes Stück von einem Theater abgenommen. 1626 schaffte er den Durchbruch mit der „tragicomédie pastorale“ La Sylvie, einem Stück nach Honoré d’Urfés (s.o.) Roman L’Astrée. 1631 plädierte er im Vorwort zu seiner Tragödie Silvanire für die Einhaltung der drei Einheiten im Sinne des soeben erschienenen Traktates von Jean Chapelain (s.o.) und trug damit entscheidend zur Verbreitung der neuen Doktrin bei, nach der die Handlung eines Stücks 1) nicht länger als 24 Stunden dauern, 2) an ein und demselben Schauplatz spielen und 3) einlinig, d.h. ohne Nebenhandlungen, sein sollte (Forderungen, die La Sylvie allesamt noch nicht erfüllt hatte) .

Mairets größter Erfolg war 1634 die auf einer italienischen Vorlage beruhende Tragödie La Sophonisbe, in deren Zentrum eine von den Römern besiegte numidische Königin steht, die Selbstmord begeht, um sich nicht als Schauobjekt in einem Triumphzug durch Rom geführt zu sehen. Das Stück wurde bis weit ins 18. Jahrhundert hinein häufig gespielt. Vor allem aber ist es die erste gelungene franz. Tragödie nach Chapelains Regelwerk.

1637 war Mairet einer der Wortführer in der sog. Querelle du Cid und verfasste mehrere Pamphlete gegen Corneille, der in seiner sehr erfolgreichen Tragikomödie Le Cid' (1636) die drei Einheiten nicht respektiert hatte und dafür auch von der neuen Académie Française gerügt wurde. Corneille antwortete u.a. mit einem Avertissement au Besançonnois Mairet, dessen Titel sichtlich auf die Tatsache anspielt, dass sein Gegner quasi ein feindlicher Ausländer war, denn Frankreich führte gerade u.a. in der Franche-Comté Krieg gegen Spanien (1636-44). Die beiden Autoren beendeten den Streit schließlich auf Order von Kardinal-Minister Richelieu, und Mairet musste sein mutmaßliches Hauptziel aufgeben, nämlich Corneille als Konkurrenten auszubremsen. Seine eigene Karriere beschloss er 1643 mit der Tragikomödie La Sidonie.

Er blieb aber weiterhin in Paris und wurde dort 1648 zu einer Art Botschafter seiner Heimatprovinz ernannt, die nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges und dem Abschluss des Westfälischen Friedens zunehmend von Frankreich vereinnahmt wurde. 1653 wurde er wegen angeblicher königsfeindlicher Reden während des Fronde-Aufstands (1648-52) aus Paris ausgewiesen, durfte aber bald zurückkehren. Als 1668 Louis XIV die Franche-Comté handstreichartig annektierte und damit den Botschafterposten überflüssig machte, ging Mairet nach Besançon zurück, das, nachdem es von 1307 bis 1664 Freie deutsche Reichsstadt gewesen war, 1679 endgültig an Frankreich fiel.

(Stand: Mai 09)

Madeleine de Scudéry (* 1607 in Le Havre; † 1701 in Paris).

Mlle de Scudéry (wie sie in der Literaturgeschichte heißt) zählt zu den größten franz. Autorinnen und wurde als erste von ihnen auch außerhalb Frankreichs viel gelesen.

Sie wurde geboren als Tochter eines kleinadeligen Kaperschiff-Kapitäns und dann Befehlshabers des befestigten Hafens von Le Havre. Nach ihrer frühen Verwaisung wurden sie und ihr 6 Jahre älteren Bruder Georges (s.o.) von einem Onkel bei Rouen aufgenommen, der ihnen eine gute Bildung angedeihen ließ. Als Georges 1630 eine siebenjährige Zeit als Offizier beendet hatte und mit der Absicht Literat zu werden nach Paris ging, folgte sie ihm und blieb auch, da sie offenbar nicht zu heiraten gedachte und/oder nicht die nötige Mitgift hatte, in den nächsten 20 Jahren mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt zusammen. Hierbei folgte sie ihm sogar nach Marseille, wo er 1642-47 einen militärischen Posten am Hafen bekleidete.

Über Georges kam sie, zunächst als seine Juniorpartnerin, zum Schreiben: Gemeinsam (wenn wohl auch mit zunehmend geringerem Anteil von ihm, der sich mehr als Dramatiker sah) verfassten sie den Roman Ibrahim, ou l'Illustre Bassa (1641, 4 Bde). Über Georges auch erhielt sie Zugang zu Pariser Literatenkreisen, insbes. zum Salon der Marquise de Rambouillet, der Leitfigur der préciosité, sowie später zum Kreis um den großen Mäzen der 50er Jahre, Finanzminister Nicolas Fouquet.

Ihr Durchbruch – immer noch unter dem Namen des Bruders – wurden die pseudohistorischen Romane Artamène ou le Grand Cyrus (1649-53) und Clélie, histoire romaine (1654-60), die heute als Höhepunkte des „heroisch-galanten“ Romans gelten. Es sind zwei jeweils zehnbändige Werke, in deren locker strukturierter Haupthandlung und vielen Einschüben es zentral nur um drei Dinge geht: die allen Schicksalsschlägen trotzende heroisch-tugendhafte Liebe hochstehender Damen, die Kriegs- und Heldentaten der sie verehrenden Herren und geistreich-galante Konversationen der Damen und Herren über das Thema Liebe. Sprichwörtlich geworden ist die „carte de Tendre“ aus Clélie, eine allegorische Landkarte des Reiches der Liebe, in dem die Leidenschaft gezügelt und in eine Sympathie der Seelen überführt ist. Le Grand Cyrus und Clélie wurden in ganz Europa vor allem von einem adeligen Publikum gelesen, aber durchaus auch im Bürgertum. Für die Pariser Leser waren sie darüber hinaus als Schlüsselromane von Interesse: Viele der dargestellten Ereignisse und vor allem ein Großteil der auftretenden Personen hatten wiedererkennbare Vorbilder im zeitgenössischen Frankreich, z.B. den hochadeligen Heerführer Fürst Condé (Cyrus), sowie im engeren Umfeld der Autorin, z.B. die befreundeten Literaten Paul Pellisson (s.u.) oder Mme de Sévigné (s.u.).

Nachdem Mlle de Scudéry sich aus dem Schatten ihres Bruders herausgearbeitet hatte und dieser überdies 1652 als „Frondeur“ in die Normandie verbannt worden war, hatte sie begonnen sich ihren eigenen Salon zu schaffen. Hier ließ sie sich als „neue Sappho“ umschwärmen, empfing fast alle wichtigen Autoren der Zeit und auch Besucher aus den höheren Ständen und trat ein wenig die Nachfolge der Marquise de Rambouillet an, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die in hundert Jahren Krieg verrohten adeligen Männer zu galant flirtenden und gepflegt parlierenden sowie bei Bedarf auch lyrisch dilettierenden Kavalieren zu erziehen.

Die weiteren Romane, die Mlle de Scudéry verfasste (z.B. 1661 Célinte oder 1667 Histoire de Mathilde d'Aguilar), waren der neuen Mode folgend deutlich kürzer und realistischer, aber auch weniger erfolgreich.

Um 1670 war sie für einen Sitz in der Académie Française im Gespräch (die so vielleicht schon damals ihren Charakter als bloßer Männerclub verloren hätte), doch erhielt sie dann 1671 nur den ersten von der Académie vergebenen „prix d'éloquence“ (=Beredsamkeitspreis). Nochmals erfreulichen Ruhm erlangte sie mit den mehrbändigen Conversations morales (1680-92).

Sie erreichte das für damals sehr hohe Alter von 94 Jahren.

P.S.: Andere bedeutendere Autoren der um 1650 florierenden Gattung „heroisch-galanter Roman“ (roman héroïco-galant) sind Marin Le Roy de Gomberville (1600–1674) mit Polexandre (5 Bde, 1629-37) und Gautier de Costes de La Calprenède (1610–1660, s.u.) mit Cassandre (10 Bde, 1642-45), Cléopâtre (12 Bde, 1647-56) und Faramond (12 Bde, 1661-70).

(Stand: Jan. 09)

Pierre Corneille (* 6.6.1606 in Rouen; † 1.10.1684 in Paris).

Er ist der älteste und einer der bedeutendsten der Autoren des „klassischen“ Zeitalters der franz. Literatur. Im Verein mit den 15 bzw. 23 Jahren jüngeren Kollegen Molière (s.u.) und Jean Racine (s.u.) bildet er in den Augen der Franzosen das Dreigestirn ihrer größten Dramatiker.

Corneille wuchs auf als erstes von sechs Kindern eines wohlhabenden königlichen Jagd- und Fischereiaufsehers in Rouen. Hier auch besuchte er das Jesuitenkolleg, wo er eine gediegene Bildung erhielt, insbes. in klassisch-lateinischer Literatur. Anschließend studierte er Jura, ebenfalls in Rouen, und wurde mit 18 als Anwalt im Praktikantenstatus am dortigen Parlement zugelassen, dem höchsten Gericht der Normandie. Mit 22 (1628) bekam er von seinem Vater je ein kleineres Richteramt am Parlement sowie in der Fischerei- und Jagdgerichtsbarkeit gekauft, die er bis 1650 ausübte. Soziologisch gesehen zählte er hiermit zum sog. Amtsadel (noblesse de robe), einer Schicht zwischen Erwerbsbürgertum und Adel, deren meist käufliche und vererbbare Ämter, wenn sie hochrangig waren, ihren Inhabern den erblichen Adel verschafften, wenn sie niedriger waren, zumindest bestimmte Privilegien gewährten.  

Der eigentliche Ehrgeiz Corneilles galt jedoch schon seit der Schulzeit dem Schreiben von Gedichten (auch in lateinischer Sprache) und von Stücken. Als 1629 der bekannte Schauspieler und Theaterdirektor Mondory mit seiner Wandertruppe in Rouen gastierte, bot Corneille ihm seine spätestens im Vorjahr, vielleicht sogar schon 1625 verfasste Komödie Mélite an. Dieses Verwirrspiel um sechs junge Leute, die sich schließlich zu drei Paaren finden, kam im Winter 1629/30 sehr erfolgreich in Paris auf die Bühne und half Mondory, sich dort mit einem neuen Theater fest zu etablieren, dem Théâtre du Marais.

In den folgenden Jahren schrieb Corneille für das Marais eine Serie weiterer Stücke. Das erste war die wenig erfolgreiche Tragikomödie Clitandre, Ou l’innocence persécutée (=C, oder die verfolgte Unschuld, 1630/31), ein unendlich kompliziertes Stück um Liebe, Eifersucht, Hass, Mordversuche, Verwechselungen und den Zorn eines Fürsten, der den Titelhelden, einen Höfling, als vermeintlichen Verräter verurteilt, aber dann begnadigt. Mit Clitandre bezieht sich Corneille zum ersten Mal, wenngleich nur vage, auf aktuelle Zeitereignisse, nämlich den Prozess gegen den Anti-Richelieu-Verschwörer Marillac. Es war auch das erste Stück, das er drucken ließ, wobei er unter dem Titel Mélanges poétiques eine Auswahl seiner bis dahin verfassten Gedichte anhängte. Es folgten die Komödien La Galerie du Palais (=der große Saal des Justiz-Palastes, 1632), La Veuve  (1633), La Suivante (=die Gesellschafterin, 1634) und La Place Royale (=der Königsplatz [sc. die heutige Place des Vosges], 1634). Die letztere scheint in der extremen Bindungsscheu des Protagonisten Alidor ein persönliches Problem Corneilles zu gestalten: die Furcht sich zu binden (die vielleicht durch seine enttäuschte Jugendliebe zu einer gewissen Catherine Hue verstärkt worden war).

Alle diese frühen Stücke gelten heute als zwar weniger bedeutende Jugendwerke, wirkten damals aber neuartig, denn trotz ihrer konventionellen Aufmachung schienen sie in Sprache und Geist die zeitgenössische Gesellschaft zu spiegeln und spielten auch meist, z.T. schon am Titel erkennbar, in Paris. Zudem hatten sie passablen bis guten, Mélite und La Galerie sogar sehr guten Erfolg und verschafften Corneille früh den Status eines anerkannten Autors.

Als solcher erhielt er bei seinen häufigen Paris-Besuchen auch bald Kontakt zu Literatenkreisen und Salons, u.a. dem der Marquise de Rambouillet. Als geistreicher Unterhalter galt er dort nicht; auch effektvoll aus aus seinen Stücken vorzulesen lag ihm wenig. Immerhin schätzte man die Gelegenheitsdichte, die er bei diesem oder jenem geselligen Anlass beitrug.

1633 betätigte sich Corneille erstmals als Panegyriker, ein heute wenig bekannter Aspekt seines Schaffens. Er verfasste im Auftrag des Bischofs von Rouen ein Lobgedicht, mit dem dieser König Louis XIII und dessen allmächtigen Kardinal-Minister Richelieu bei einem Besuch begrüßen ließ.

1634, nach dem großen Erfolg der Tragödie Sophonisbe von Jean Mairet (s.o.), versuchte sich auch Corneille, vorerst wenig überzeugend, in dieser Gattung und verfasste Médée (Auff. 1635), sein erstes einen antiken Stoff verarbeitendes Stück.

1635 wurde er, u.a. zusammen mit dem etwas jüngeren Jean Rotrou (s.u.), Mitglied einer Gruppe von fünf Autoren im Dienst Richelieus, der das Theater zu einem Ort der Propaganda für seine Politik der Stärkung der absoluten Monarchie zu machen versuchte. Nach zwei im Team verfassten Stücken stellte Corneille seine Mitarbeit zwar ein, erhielt jedoch die ihm gewährte Jahresgage (pension) von 1500 Francs (etwa dem, was eine bescheidene Person samt einem Domestiken brauchte) bis zu Richelieus Tod 1642.

Ebenfalls ab 1635 befasste er sich offenbar mit spanischer Literatur. Ein Grund war sicher, dass sein Kollege Rotrou kurz zuvor begonnen hatte, spanische Stücke für das französische Theater umzuschreiben. Ein anderes Motiv war vielleicht, dass Spanien auch politisch aktuell war, denn Frankreich hatte sich soeben in den Dreißigjährigen Krieg eingeschaltet und war, zunächst wenig glücklich, mit spanischen Truppen konfrontiert, die von den Spanischen Niederlanden, dem jetzigen Belgien, her eindrangen.

Im Winter 35/36 brachte Corneille L’Illusion comique heraus, ein sehr erfolgreiches Stück, in dem er das beliebte barocke Motiv des Theaters im Theater verarbeitet und zugleich, ganz im Sinne seines Dienstherrn Richelieu, für eine Aufwertung des Schauspielerberufes wirbt. Innerhalb einer eher märchenhaften Rahmenhandlung spielen in L’Illusion weitere, erst am Ende als bloßes Theater erkennbare Handlungen (worin u.a. der prahlerische, aber feige spanische Haudegen Matamoro die von ihm umworbene Frau an einen Clindor verliert, der sich en passant als Franzose erweist). L’Illusion ist das letzte Stück, in dem Corneille die Lehre von den „drei Einheiten“ (des Ortes, der Zeit und der Handlung) ignoriert, die in Pariser Literatenkreisen gerade lebhaft diskutiert wurde und sich durchzusetzen begann.

Nachdem im Sommer 1636 die Spanier die Grenz- und Festungsstadt Corbie erobert, aber nach langem Ringen wieder verloren hatten, stellte Corneille im Spätherbst eine Tragikomödie fertig, die Bezüge auf diesen Kampf zu enthalten scheint: Le Cid. Die Aufführung dieses Stücks gegen Ende des Jahres war sein eigentlicher Durchbruch und gilt zugleich als der Beginn der hohen Zeit des Theaters der Klassik. Die Handlung spielt im 11. Jh. in Spanien und beruht auf der des Stücks Las Mocedades del Cid (=die jugendlichen Heldentaten des Cid [d.h. des mittelalterlichen spanischen Nationalhelden]) von Guillén de Castro (1618). Sie zeigt die Konflikte des verlobten adeligen Paares Rodrigue und Chimène: Rodrigue muss, den Geboten der Familienehre gehorchend, den Vater seiner Verlobten zum Duell fordern, weil der seinen eigenen schon ältlichen Vater beleidigt hat; Chimène dagegen muss, nachdem Rodrigue ihren Vater in dem Duell tödlich verletzt hat, beim König die Todesstrafe gegen ihn fordern. Rodrigue wird jedoch nach einigem Hin und Her vom König begnadigt und aufs Neue mit Chimène verlobt, weil er sich inzwischen um das Vaterland verdient gemacht hat, indem er als Feldherr das Heer der Mauren vor Sevilla geschlagen hat. Die im Sinne der Staatsräson getroffene Entscheidung des Königs wird allerdings auch als menschlich richtig bestätigt, dadurch dass Chimène sich zu ihrer Liebe bekennt, als sie einen Augenblick lang irrtümlich annimmt, ein von ihr akzeptierter Fürkämpfer, der Rodrigue seinerseits zum Duell gefordert hatte, habe ihn besiegt und getötet.

Le Cid  war (ähnlich wie Molières Tartuffe, Beaumarchais’ Figaro oder Hugos Hernani) eines der großen Ereignisse der franz. Theatergeschichte. Der Erfolg war so spektakulär, dass König Louis XIII den Vater Corneilles in den Adelstand erhob, womit der Autor als schon adelig geboren galt. Mehrere Nachahmer beeilten sich, die Handlung mit eigenen Stücken fortzusetzen (z.B. Le Mariage du Cid oder La Mort du Cid); doch traten rasch auch Neider und Mäkler auf den Plan, darunter die Dramatiker-Rivalen Georges Scudéry (s.u.) und Jean Mairet (s.o.), die Corneille vordergründig mit den Argumenten attackierten, er habe die Regeln der bienséance (Anstand, Sittsamkeit) verletzt, seine spanische Vorlage schamlos plagiiert und zudem die drei Einheiten nicht korrekt beachtet, die inzwischen als obligatorisch galten. Als Corneille Anfang 1637 hierauf selbstbewusst mit einer kleinen Schrift, der ironischen Excuse à Ariste, reagierte, löste er eine heftige Kontroverse aus, die „querelle du Cid“, in die sich weitere Literaten pro und contra mit Pamphleten einmischten (von denen ca. 35 erhalten sind). Der monatelange Streit endete mit dem Eingreifen Richelieus, den zwar die positive Darstellung des wiederholt von ihm verbotenen Duells unter Adeligen verärgert hatte, dem jedoch das Lob der Staatsräson gefallen musste. Er beauftragte die junge Académie Française (s.u.), ein offizielles Urteil abzugeben, das, überwiegend von Jean Chapelain (s.o.) verfasst, zwar negativ, aber versöhnlich ausfiel.

Während das Publikum weiter den Cid beklatschte, der auch auf die Dauer das meistgespielte Stück Corneilles blieb, zog dieser sich verunsichert nach Rouen zurück (wo er 1638 vergeblich eine Doppelbesetzung seiner Ämter und damit eine Halbierung von deren Einkünften und ihres Wiederverkaufswerts zu verhindern versuchte).

Erst 1640, inmitten aufstandsähnlicher Wirren in Rouen, die von kriegsbedingten Steuererhöhungen ausgelöst worden waren und schließlich von Truppen blutig niedergeschlagen wurden, schrieb er ein nächstes Stück: Horace. Die im frühen Rom spielende Tragödie zeigt, dass zwar zwischenmenschliche, insbesondere familiäre Bindungen einen hohen Wert darstellen, dass jedoch der Nutzen und der Ruhm des Vaterlandes Vorrang haben und somit der König einen Gesetzesbrecher, hier den Mörder im Affekt seiner Schwester, amnestieren darf, wenn der sich um den Staat verdient gemacht hat und auch weiterhin verdient machen wird. Corneille beachtete diesmal (wie auch in Zukunft) die drei Einheiten peinlich genau und widmete die Druckfassung des Werkes Richelieu, der es nach einer Privataufführung für gut befunden hatte.

Anfang 1641 schloss er Cinna, ou la clémence d’Auguste ab. Gegenstand ist die Verschwörung republikanischer römischer Patrizier gegen Kaiser Augustus und dessen exemplarisch großmütige, aber auch politisch kluge Vergebung, als er das Komplott entdeckt. In diesem spiegeln sich sichtlich die zeitgenössischen Intrigen hochstehender Adeliger, insbes. der Duchesse de Chevreuse, gegen Richelieu und dessen Politik des antifeudalistischen Absolutismus.

Horace und Cinna waren zwar sehr erfolgreich gewesen (das letztere Stück wurde nach dem Cid das meistgespielte des Autors), doch stockte danach dessen Produktion. 1641 heiratete er mit 35, d.h. für damalige Verhältnisse sehr spät, die elf Jahre jüngere Richterstochter Marie de Lampérière, mit der er vier Söhne und zwei Töchter haben sollte. 1642 übernahm er beim Tod seines Vaters dessen Haus und die Vormundschaft für zwei noch unmündige Geschwister, darunter den 19 Jahre jüngeren Bruder Thomas (1625-1709), den späteren Dramatiker.

Erst Anfang 1643 brachte er ein neues Stück heraus, Polyeucte martyr, eine um 250 in Armenien spielende „christliche Tragödie“. Sie wurde ein Erfolg beim Publikum, vor allem dank einer eingebauten Liebesgeschichte, der Klerus allerdings kritisierte die Profanierung eines religiösen Stoffs auf der Bühne.

Ebenfalls 1643 schaffte es Corneille mit einem Lobgedicht, sich die Gunst des Nachfolgers von Richelieu, Kardinal-Ministers Mazarin, zu sichern und von ihm eine Pension von immerhin 1000 Francs gewährt zu bekommen.

Nach dem Polyeucte verfasste Corneille eine ganze Serie von Stücken, in denen er den mit dem Cid eingeschlagenen Weg weiterverfolgte und sich ein bestimmtes Image erwarb. Denn die Handlungen beruhen sämtlich auf historischen, meist antiken, überwiegend römischen Stoffen, weisen aber in der Regel einen verdeckten Bezug zur aktuellen politischen Realität auf und kreisen um hochgestellte Personen, die den Konflikt zwischen Neigung oder Leidenschaft und Pflicht zugunsten der Letzteren lösen, insbes. im Sinne der Staatsräson, aber auch allgemein der Ethik von René Descartes (s.o.). Die wichtigsten Titel bis 1648 sind La Mort de Pompée (1643), Rodogune, princesse des Parthes (1644) und Héraclius (1647). Die einzigen Komödien in der Serie sind Le Menteur (=der Lügner, 1643) und La Suite [Fortsetzung] du Menteur (1644). Der sehr erfolgreiche Menteur gilt als die erste Charakter-Komödie vor Molière und wichtiges Vorbild für diesen. Die Tragödie Andromède, die Corneille 1647 auf Bestellung Mazarins verfasste, die jedoch wegen widriger Umstände erst 1650 zur Aufführung kam, war sein erstes Stück mit Gesangseinlagen und dem Einsatz von Maschinen. 

1647 wurde Corneille in die Académie Française aufgenommen. Schon 1644 hatte er einen ersten Sammelband seiner Stücke veröffentlicht; 1648 brachte er einen zweiten heraus. Er schien nun bestens etabliert.

Hiernach jedoch wurde auch er erfasst von den Wirren der Aufstände der sog. Fronde (1648-52) gegen Königinmutter Anne d’Autriche, die für den noch unmündigen Louis XIV die Regentschaft ausübte, und vor allem gegen ihren Minister Mazarin, der die absolutistische Politik Richelieus fortsetzte. So geriet 1649 das vom Publikum zunächst gut aufgenommene Stück Dom Sanche d’Aragon letztlich zum Misserfolg, weil der Fürst Condé, der ranghöchste der Frondeure, die gerade Paris beherrschten, eine Huldigung an Mazarin darin sah und den Daumen senkte.

Im Gegenzug wurde Corneille Anfang 1650 von Mazarin nach dessen vorläufigem Sieg belohnt, indem er am Parlement von Rouen das hochrangige Amt des Anwaltes der (allerdings kaum mehr tagenden) Ständeversammlung der Normandie erhielt, das durch Absetzung des Inhabers, eines Frondeurs, frei geworden war. Dies erlaubte ihm, seine beiden bisherigen kleineren Ämter verkaufen.

Dennoch scheint er sich innerlich bald von Mazarin gelöst zu haben, denn sichtlich huldigte er noch 1650 mit Nicomède dem Fürsten Condé, der gefangen genommen worden und zu einer Art antiabsolutistischen Lichtgestalt mutiert war. Er musste jedoch erleben, dass Condé nach seiner Freilassung 1651 endgültig unterlag und dass daraufhin Pertharite, roi des Lombards, ein Stück um einen von einem vom Thron verdrängten König, in Paris durchfiel, weil das Thema obsolet geworden war nach der siegreichen Rückkehr des jungen Louis XIV und seiner Mutter Anne in die Hauptstadt.

Corneille, der überdies sein neues Amt an seinen inzwischen amnestierten und wieder eingesetzten Vorgänger hatte zurückgeben müssen, zog sich enttäuscht ins Private zurück. In dieser Zeit der Frustration arbeitete er zunächst vor allem an einer Versübertragung der Imitatio Christi des Thomas a Kempis. Sie erschien von 1652-54 in drei Bänden unter dem Titel L’Imitation de Jesu-Christ, brachte ihm sehr viel Anerkennung und wurde mehrfach neu aufgelegt. Auch dieser Aspekt, dass Corneille sich des öfteren als religiöser Autor betätigte, findet in den Literaturgeschichten kaum Beachtung.

Erst 1658 beendete er seine innere Emigration. Ein Faktor war zweifellos, dass im Sommerhalbjahr die Wandertruppe von Molière längere Zeit in Rouen gastierte und dort einige Stücke auch Corneilles spielte. Hierdurch kam dieser mit der Truppe in Kontakt und verliebte sich in die junge Schauspielerin Marquise du Parc. Als die Truppe im Herbst nach Paris weiterzog, zog es ihn wieder häufiger dorthin. Ein weiterer Grund war allerdings, dass sein Bruder Thomas 1656 mit dem Erfolgsstück Timocrate dort eine eigene Karriere gestartet hatte und dass ihn auch der neue Groß-Mäzen, Finanzminister Nicolas Fouquet, lockte, der ihm eine Pension von 2000 Francs aussetzte. In Paris bewegte er sich nun, von dem gesellschaftlich geschickteren Thomas lanciert und flankiert, in dem Kreis um Fouquet sowie in anderen Salons. Schon bald beschränkte er sich nicht mehr auf eine Rolle als anerkannter Literat und galanter Gelegenheitslyriker, sondern er versuchte sich auch wieder als Dramatiker, indem er auf einen Vorschlag Fouquets die Tragödie Œdipe verfasste. Die Aufführung Anfang 1659 durch die Truppe Molières und mit der Du Parc als Jocaste wurde zwar ein mondänes Ereignis, doch schien es manchen Kennern, als habe Corneille nachgelassen.

Das nächste Stück folgte 1660: die Tragödie La Toison d’or (=das Goldene Vlies), die im Auftrag eines reichen normannischen Adeligen entstand und mit aufwendigen Maschinen im Sommer auf dessen Schloss und im Winter in Paris im Marais aufgeführt wurde.

Im selben Jahr brachte Corneille eine neue Geamtausgabe seiner Stücke heraus, nun in schon drei Bänden, wobei er jeden Band mit einem Discours [=Abhandlung] sur la poésie dramatique eröffnete. Auch ließ er die beflissen-pompösen Widmungsadressen an hochgestellte Persönlichkeiten fort, die er den früheren Einzelausgaben der Stücke vorangestellt hatte und die ihm jetzt wohl unter seiner Würde schienen. In der Tat war er als „le grand Corneille“ zu einer Art Platzhirsch des Pariser Theaterlebens avanciert.

Den Sturz Fouquets, der 1661 verhaftet und wegen Bereicherung im Amt verurteilt wurde, überstand er unbeschadet. Er fand rasch einen neuen Gönner in Duc Henri de Guise, von dem er selbst und Thomas (der eine Schwester seiner Frau geheiratet hatte) samt ihren Familien im herzoglichen Stadtpalast aufgenommen wurden. Nach dem Umzug von Rouen nach Paris lebten die Brüder Corneille übrigens für immer hier, meistens, wie schon in der Heimatstadt, im selben Haus.

Als 1663 der neue Minister Colbert eine Liste von Autoren zusammenstellte, die von ihm und seinem jungen König als einer Pension würdig erachtetet wurden und von denen man im Gegenzug staatstragende und panegyrische Texte erwartete, kam auch Corneille darauf mit erfreulichen 2000 Francs. Er entsprach den in ihn gesetzten Erwartungen sogleich mit einem Remerciement présenté au Roi en 1663 und tat es auch in der Folgezeit recht häufig. Hierbei ergaben sich zusätzliche konkrete Motive daraus, dass er den König schon 1664 mit einem Sonett um die Neuausstellung seines Adelsbriefes bitten musste, der zusammen mit Hunderten anderer durch einen Erlass Colberts kassiert worden war, und dass er ihn später bei der Etablierung seiner älteren Söhne (zweier Offiziere und eines Geistlichen) um Unterstützung anging.

Mit dem passabel erfolgreichen Œdipe und dem vielbestaunten La Toison d’or hatte Corneille seine Arbeit als Dramatiker voll wieder aufgenommen. Wie vorher schrieb er vor allem Tragödien mit Stoffen aus der älteren, meist römischen Geschichte (Sertorius, 1661/62; Spohonisbe, 1662; Othon, 1664; Agésilas, 1665/66; Attila, 1666/67). Hierbei bevorzugte er nun, seinen inzwischen sehr erfolgreichen Bruder Thomas imitierend, eher romaneske Handlungen. Denn sichtlich hatte sich der Publikumsgeschmack stark verändert aufgrund der innenpolitischen Windstille, die nach dem Sieg des Absolutismus unter Mazarin herrschte, aber auch dank der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung, die sich nach dem Friedensschluss mit Spanien (1659) und dem Beginn der Alleinherrschaft des jungen Louis XIV (1661) verbreitete. Die neuen Stücke von Corneille wurden sämtlich aufgeführt (z.T. von der Truppe Molières) und sie hatten stets auch passablen Erfolg, doch trafen sie nicht mehr recht den Nerv der Zeit. Sichtlich gelang es Corneille nicht, jenen Bezug zur aktuellen Realität herzustellen, der die Stücke ausgezeichnet hatte, die in den bewegten Zeiten vor und während der Fronde entstanden waren.

1667 betätigte er sich erneut als Panegyriker, indem er den im August siegreich aus dem Devolutionskrieg heimkehrenden Louis XIV mit dem Lobgedicht Au Roi sur son retour de Flandre begrüßte und ihm etwas später mit dem epischen Gedicht Les victoires du Roi en1667 huldigte.

Als im November 1667 Racine mit seinem erfolgreichen dritten Stück, der Tragödie Andromaque, eine neue Ära einzuleiten schien, war Corneille so geschockt, dass er an völligen Rückzug vom Theater dachte. In dieser Situation schrieb er 1669 wiederum ein langes frommes Werk, das Office de la Vierge traduit en français, tant en vers qu’en prose, par P. Corneille, avec les sept psaumes pénitentiaux, les vêpres et complies du dimanche et tous les hymnes du breviaire romain. Es erschien Anfang 70, mit einer Widmung an Königin Marie-Thérèse. Anders als die Imitation von 1652-54 fand das Office jedoch kaum Beachtung und erlebte auch keine Neuauflage.

Ende 1670 versuchte Corneille, gedrängt von alten Freunden und Bewunderern, ein neuerliches Come back als Dramatiker mit der „comédie héroïque“ Tite et Bérénice. Allerdings brachte der inzwischen selbstbewusste Racine zur selben Zeit das themengleiche Stück Bérénice heraus, das vom Publikum als das deutlich bessere bewertet wurde.

Corneille schrieb dennoch drei weitere Stücke, die aber, ohne völlig erfolglos zu sein, keinen größeren Anklang mehr fanden: Psyché (1670/71), Pulchérie (1671/72) und Suréna, général des Parthes (1674). Eine Sonderstellung nimmt hierbei die „Ballett-Tragödie“ Psyché ein, deren Plan und erster Akt von Molière stammten, während die letzten drei Viertel von Corneille verfasst wurden. Als bestes Werk seiner gesamten Spätzeit gilt heute das letzte, die Tragödie Suréna

Seinen hohen Status in der Literatenszene und in der Pariser Gesellschaft konnte Corneille bis zum Ende seines Lebens halten, u.a. dank dem Geschick und dem Einfluss seines sehr loyalen Bruders Thomas sowie dank der Treue einiger befreundeter Kollegen, z.B. Jean Donneau de Visé, der in seiner 1672 gegründeten Zeitschrift Le Mercure galant zuverlässig hinter ihm stand. Auch erhielt er oft demonstratives Lob von Feinden und Neidern Racines, die diesen so zu kränken gedachten.

In Pariser Adelskreisen und am Hof behielt er ebenfalls seine Bewunderer, und gewogen blieb ihm König Louis, dem er 1672 das lange Lobgedicht Les victoires du Roi sur les États de Hollande en l'année 1672 widmete. 1675 und 76 hatte er die Genugtuung, dass Louis am Hof vier bzw. sechs ältere Stücke von ihm aufführen ließ.

Die gelegentlich zu findende Angabe, Corneille sei im Alter verarmt, ist nicht richtig.

Nach seinem Tod wurde sein Platz in der Académie Française (deren Sitzungen er stets gewissenhaft besucht hatte) an seinen Bruder Thomas vergeben. Hierbei hielt Ex-Rivale Racine die Begrüßungsrede, die zugleich eine Laudatio auf den Verstorbenen war.

Was die Wirkung und Nachwirkung Corneilles betrifft, so hat er nicht nur alle Dramatiker neben und nach ihm beeinflusst, darunter Racine und später Voltaire (s.u.), sondern er gilt bis heute mit seinen rd. 35 Stücken als einer der großen franz. Klassiker und als bedeutendster Tragöde neben Racine (der trotz seines deutlich schmaleren Œuvres gern als der etwas Größere erachtet wird). Aufgrund seines Erfolges in Frankreich selbst wurde er schon zu seinen Lebzeiten in Übertragungen auch von deutschen Theatertruppen gespielt. Bruder Thomas, der zeitweise sogar erfolgreicher war als er, ist dagegen seit langem in der literarhistorischen Versenkung verschwunden.

(Stand: Juli 12)

Jean Rotrou (* 21.8.1609 in Dreux; † 28.6.1650 ebd.)

Obwohl zu Lebzeiten sehr erfolgreich und auch von großem Einfluss auf die Dramatiker neben und kurz nach ihm, verschwand Rotrou nach seinem frühen Tod rasch im Schatten des großen Dreigestirns der „Klassiker“ Corneille, Molière und Racine. Erst in jüngerer Zeit hat die Literaturgeschichte ihm seinen Platz als eines der fruchtbarsten und sicher auch fähigsten Dramatiker des 17. Jh. zurückzugeben versucht.

Über das Leben Rotrous ist nur wenig bekannt. Er stammte aus einer Richterfamilie in Dreux (ca. 90 km westlich von Paris) und muss auch selber, überwiegend wohl in Paris, Jura studiert haben. In seiner Eigenschaft als Jurist erhielt er die Zulassung als Anwalt am Pariser Hohen Gericht, dem Parlement, und kaufte er später (1639) ein Richteramt in seiner Heimatstadt, das er bis zu seinem Tod auch ausübte.

Allerdings trat er früh (1626?) in Kontakt mit der Truppe der „Comédiens du Roi“, die im Hôtel de Bourgogne spielte, und begann Stücke zu schreiben. Zugleich suchte er und fand Anschluss im Pariser Literatenmilieu. Sein erstes bekanntes Stück verfasste er mit 18: die Tragikomödie L’Hypocondriaque Ou la Mort amoureuse (=der Hypochonder oder der verliebte Tod, Auff. 1628). In den Folgejahren lieferte er seiner Truppe zahlreiche weitere Stücke, die überwiegend wohl nur Bearbeitungen vorhandener in- und ausländischer Stücke waren und auch nie im Druck erschienen. (Dies geschah allerdings auch deshalb nicht, weil damals die Truppen die von ihnen uraufgeführten Stücke als ihr Eigentum betrachteten, wogegen ein gedrucktes Stück Allgemeingut wurde und damit auch von anderen Truppen gespielt werden durfte.)

Immerhin schien der Hypocondriaque seinem jungen Autor offenbar zu wichtig, um ungedruckt zu bleiben. Er schaffte es ihn 1631 mit einer Widmung an den Grafen von xxx zu publizieren, wobei er unter dem Titel Œuvres poétiques eine Sammlung eigener Gedichte aus verschiedenen Gattungen anhängte. Unsicher ist, ob er hiermit Pierre Corneille (s.o.) imitierte, der im selben Jahr 1631 an sein erstes gedrucktes Stück, Clitandre, ebenfalls eine Gedichtsammlung anhängte, oder aber ob er umgekehrt ihm zum Vorbild wurde.

Rotrous nächstes gedrucktes Stück, La Bague de l’oubli (1635), war gewissermaßen epochemachend. Es ist eine Bearbeitung des gleichnamigen Stücks von Lope de Vega, La sortija del olvido, und leitet die Hinwendung Rotrous, Corneilles und anderer franz. Autoren zur spanischen Literatur ein, deren „Goldenes Zeitalter“ gerade am Ausklingen war.

 

Une édition critique de L’Hypo. a été donnée par J.-Cl. Vuillemin (Droz, 1999).

Biographie

Comme lui, Corneille incline dans la même direction. Le travail brillant montre les marques d’une adhérence au modèle espagnol. En 1634, a la publication de Cléagénor et Doristée (jouée en 1630), il affirme déjà être l’auteur de trente pièces, mais ceci comprend probablement des adaptations. Diane (jouée en 1630 ; publiée en 1633), Les Occasions perdues (jouée en 1631 ; publiées en 1635), qui lui font obtenir les faveurs de Richelieu et L’Heureuse constance (jouée en 1631 ; publiée en 1635), louée par Anne d'Autriche, sont produites en succession rapide et étaient toutes dans la manière espagnole. En 1631, il imite Plaute dans Les Ménechmes et, en 1634, Sénèque dans son Hercule mourant. Suivent des comédies et des tragi-comédies. Des documents établissent la vente, en 1636, de quatre pièces à l’éditeur parisien Antoine de Sommaville pour 750 livres tournois et, l’année suivante, la vente de dix nouvelles pièces au même libraire.

Il passe alors beaucoup de temps au Mans chez le sieur de Belin, son protecteur, qui était l’un des adversaires de Pierre Corneille dans la querelle du Cid. On a généralement supposé, en partie en raison d’une lettre fabriquée, longtemps admise comme étant de Corneille, que Rotrou avait généreusement défendu son prétendu ami dans cette affaire. Il est plus vraisemblable que Rotrou ait adopté une neutralité de bon aloi dans un différend où il avait des intérêts dans les deux camps. Toutefois, à cause d'une lettre intitulée L’Inconnu et véritable amy de Monsieur de Scudéry et Corneille (1637), qui lui fut un temps accordée, Rotrou a pourtant été crédité d’une tentative de réconciliation entre les parties.

À la mort du comte de Belin en 1637, Rotrou achète en 1639 la charge de lieutenant particulier au bailliage de Dreux. L’année suivante, il épouse Marguerite Camus et s'installe dans une vie de magistrat et de père de famille. Parmi les pièces écrites avant son mariage, on compte une traduction de l’Amphitryon de Plaute, sous le titre Les Deux Sosies (1636), d’Antigone (1638) et de Laure persécutée (jouée en 1637 ; publiée en 1639), dans un style opposé à celui de ses pièces classiques.

En 1646, Rotrou produit le premier de ses quatre chefs-d’œuvre, Le Véritable Saint Genest (jouée en 1646 ; publiée en 1648) d’après Lo Fingido verdadero de Lope de Vega, Dom Bernard de Cabrère (1647) est une tragi-comédie de mérite ; Venceslas d’après No ay ser padre siendo rey de Rojas Zorrilla (1647 ; publiée en 1648) est considérée comme son chef-d'œuvre et a eu plusieurs reprises à l'époque moderne ; Cosroès (1649) a un arrangement oriental et est considéré comme la seule pièce absolument originale de Rotrou.

Resté à son poste à Dreux lors de l’épidémie de peste de 1650, Rotrou la contracte et en meurt en quelques heures. Sa grande fécondité littéraire (il a laissé trente-cinq pièces rassemblées sans compter celles perdues, égarées ou non réunies) et sans doute l’incertitude du plan dramatique que démontre son éternelle hésitation entre les styles classique et baroque ont cependant nui à la réception équitable de son œuvre. Les situations qu'il peint, souvent pathétiques et nobles, comme la brillance, la force et la simplicité de ses vers l'ont hissé, à juste titre, presque à l’égal de Corneille et de Racine. Ainsi que l'affirme J.-Cl. Vuillemin, Rotrou peut être considéré comme "le plus éminent des moins éminents dramaturges du Grand Siècle". Longtemps demeuré occulte, Rotrou ne l'est plus!

Une rue qui flanque le théâtre de l'Odéon, à Paris, porte son nom. Dans son ouvrage "Baroquisme et théâtralité", J.-Cl. Vuillemin a créé "rotrouesque" en tant qu'adjectif dérivé.

Alors que Rotrou, qui a été nommé par Voltaire "le fondateur du théâtre", est un des auteurs dramatiques les plus importants de son époque (avec Corneille), la tradition de l'histoire littéraire en France a malheureusement laissé ses oeuvres de côté et a participé à sa méconnaissance par le grand public en voulant ramener le Grand Siècle français aux classiques comme Corneille, Molière et Racine.1

Paul Scarron (* 4. (?) 7.1610 in Paris; † 7.10.1660 ebd.)

Er war zu seiner Zeit recht erfolgreich und wird heute gern als Realist avant la lettre betrachtet.

Er stammte aus einer Juristen-Familie der bonne bourgeoisie parlementaire parisienne, erhielt eine gute Bildung und ließ sich 1634 die Niederen Weihen erteilen. Dies erlaubte ihm, 1636 eine einträglichen Domherrenpfründe in Le Mans zu besetzen, nachdem eine Rom-Reise 1635 seine Bildung vervollständigt hatte.

Als 1638 eine fortschreitende Muskellähmung sein Leben zu erschweren begann, verkaufte Scarron 1640 seine Pfründe und kehrte nach Paris zurück, wo er Anschluss an die Literatenkreise fand.

Er debütierte mit humoristischen Texten: 1643 publizierte er den Sammelband Recueil de quelques vers burlesques, der viel nachgeahmt wurde. Von 1648 bis 1652 arbeitete er an Le Virgile travesti [=der verkleidete Vergil], einer Parodie von Vergils Epos Æneis, das im Lateinunterricht der Zeit obligatorisch war.

Fast von Anbeginn an war er auch als Komödienautor aktiv und blieb es u.a. mit Jodelet ou le Maître valet [=J. oder der Herr als Diener] (1645), Don Japhet d'Arménie (1653), L'Écolier de Salamanque [=der Student aus Salamanca] (1654), Le Marquis ridicule ou la comtesse faite à la hâte'' (=der lächerliche Marquis oder die eilig kreierte Comtesse (1655), La fausse apparence (=der trügerische Schein) (1657), Le Prince corsaire [=der Piratenfürst] (1658). Mit seinen Komödien schwamm Scarron auf der Welle der zeitgenössischen Degen und Mantel-Stücke im spanischen Stil.

Sein größter und dauerhaftester Erfolg wurde Le Roman comique (2 Bde, 1651 und 1657, unvollendet). Es ist ein immer noch gut lesbarer burlesker Roman, dessen Rahmen- und Haupthandlung mit derber Komik den heroisch-galanten Roman à la Scudéry (s.o.) und La Calprenède (s.u.) parodiert und persifliert und dessen eingelegte Novellen und Binnenerzählungen im galant-sentimentalen Ton spanischer Vorbilder gehalten sind.

1652 mehrte eine ganz andere Aktion den Bekanntheitsgrad Scarrons: Er ließ sich in den weltlichen Stand zurückversetzen und heiratete, obwohl inzwischen weitgehend gelähmt und nicht eben reich, eine 16jährige mittellose adelige Waise, die ihm durch kluge und wohlgesetzte Briefe aufgefallen war: Françoise d'Aubignée, eine Enkelin von Agrippa d’Aubigné (s.o.), die später als Mme de Maintenon Gattin „linker Hand“ von Louis XIV wurde. Dank dem Witz und Galgenhumor Scarrons, aber auch dank dem Charme und Esprit seiner jungen Frau wurde ihr Haus zum Treffpunkt von Literaten und geistig interessierten Aristokraten, was ihnen wiederum half, die Zuwendungen diverser Mäzene zu erlangen, in den 1640er Jahren insbes. des Kardinals de Retz (s.u.) und in den 1650ern des Finanzministers Fouquet.

Vielleicht zu Unrecht war Scarron 1651, während des bewaffneten Aufstands anti-absolutistischer Kräfte, der „Fronde“, verdächtigt worden, eine gegen den Minister Kardinal Mazarin gerichtete Polit-Satire geschrieben zu haben, La Mazarinade. Dies brachte ihn 1653, nach dem Sieg Mazarins, kurz in Schwierigkeiten und veranlasste ihn, für mehrere Monate aus Paris zu verschwinden.

Das Schaffen Scarrons fällt zeitlich zusammen mit dem Höhepunkt des Einflusses der spanischen Literatur des „goldenen Zeitalters“ um 1600, des „Siglo de oro“, auf die französischen Autoren. Dieser Einfluss war zweifellos mitbedingt durch das Interesse, das Spanien als Kriegsgegner Frankreichs während des Dreißigjährigen Krieges und danach noch bis zum Pyrenäenfrieden von 1659 genoss.

(Stand: Juli 12)

La Calprenède (Gautier de Costes, sieur de la Calprenède, * um 1610 in Sarlat/Dép. Dordogne; † 15.10.1663 in Les Andelys)

La Calprenède (wie er in der Literaturgeschichte heißt) war um die Mitte des 17. Jh. ein in ganz West- und Mittel-Europa vielgelesener Romanautor.

Er stammte aus einer Familie des mittleren Amtsadels und ging nach Abschluss seiner Schul- und Studienzeit in Cahors und Toulouse 1632 nach Paris, wo er eine Offizierskarriere in der königlichen Garde begann. Dank seinem Talent als fantasievoller Erzähler gelang es ihm, der Königin aufzufallen, und er erhielt das mehr Ehre als Dienst bedeutende Amt eines gentilhomme du roi.

Früh begann er zu schreiben, und zwar, neben ersten Romanen, Tragödien und Tragikomödien um Figuren aus der antiken und der englischen Geschichte. Neun seiner Stücke gelangten zwischen 1632 und 1641 auch zur Aufführung, blieben jedoch ohne größere Resonanz.

Um 1640 schwenkte er um auf vielbändige historische Romane im Stil des zeitgenössischen "heroisch-galanten" Romans und wurde mit ihnen erfolgreich.

Die einzelnen Titel sind: Cassandre (10 Bde., 1642-45), Cléopâtre (12 Bde., 1647-56) und Faramond ou l'Histoire de France (12 Bde, 1661-1670). Der Letztere wurde von einem Fortsetzer beendet, nachdem La Calprenède an den Folgen eines Reitunfalls gestorben war.

Wie im heroisch-galanten Roman üblich, sind die zentralen Figuren hochstehende, teils aus der Geschichte bekannte, teils fiktive Personen. Die Hauptthemen sind Liebe, Leidenschaft und heroische Taten. Die Haupthandlung versucht die drei Einheiten einzuhalten, wird aber ständig durch zeitlich zurückliegende Nebenhandlungen und durch Reden der Figuren verlangsamt.

(Stand: Jan. 09)

François de La Rochefoucauld (* 15.9.1613 in Paris; † 17.3.1680 ebd.)

Er entstammte einer alten adeligen Familie, die 1622 vom Grafen- in den Herzogsstand erhoben worden war. Ehe er nach dem Tod seines Vaters 1650 den Herzogstitel erbte, trug er den eines "prince [=Fürst] de Marcillac". Bereits mit knapp 15 wurde er standesgemäß verheiratet. Zwar hatte er nie ein engeres Verhältnis zu seiner Frau, bekam aber mehrere Kinder mit ihr.

Als der Adelige, der er war, nahm La Rochefoucauld in den 1630er Jahren als Offizier an Feldzügen in Italien und Flandern teil, ohne sich jedoch durch mehr als die vom ihm erwartbare Bravour auszuzeichnen.

Ebenfalls in den 30er Jahren beteiligte er sich unter dem Einfluss der Duchesse de Chevreuse an den erfolglosen Intrigen der Königin Anne d'Autriche und des Hochadels gegen Kardinal Richelieu, was ihm 1637 eine Woche Haft in der Bastille und die Verbannung aus Paris eintrug. Nach dem Tod Richelieus (1642) und von Louis XIII (1643) erhoffte er sich einen einflussreichen Posten von Anne d'Autriche, die für den kleinen Louis XIV die Regentschaft ausübte. Er musste jedoch erleben, wie Anne Kardinal Mazarin begünstigte, der bald die absolutistische Politik Richelieus fortsetzte.

1648 beteiligte sich La Rochfoucauld unter dem Einfluss der aus einer Seitenlinie des Königshauses stammenden Duchesse de Longueville (mit der er 1649 einen außerehelichen Sohn bekam) an der "Fronde", einem bewaffneten Aufstand der Hohen Richter der Parlements, des Volkes von Paris und des Hochadels gegen Mazarin und die Krone. Hier spielte er mehrfach eine Rolle bei Verhandlungen der Parteien, erlitt in den Bürgerkriegswirren aber auch große Vermögensverluste. 1652 wurde er, auf der Seite des Prince de Condé gegen Mazarin kämpfend, im Gesicht verwundet und zog sich auf eines seiner Landgüter zurück. Da er zu stolz war, nach dem Sieg Mazarins um seine Begnadigung zu bitten, wurde er für rechtlos erklärt und floh ins österreichische Luxemburg.

1653 machte er dann doch seinen Frieden mit Mazarin und dem jungen Louis XIV, dem er jedoch immer suspekt blieb. Er kam zurück nach Paris und versuchte, seine prekären Vermögensverhältnisse zu ordnen. Um seine Enttäuschung nach dem Sieg Mazarins zu verarbeiten, verfasste er in diesen Jahren die von 1624 bis 1652 reichenden Memoires (die 1662 gegen seinen Willen als Raubdruck in Amsterdam erschienen und ihm schadeten, da sich darin viele noch lebende Personen unvorteilhaft dargestellt fanden).

In Paris verkehrte La Rochfoucauld am Hof und in adeligen Kreisen, mehr aber in Salons, z. B. dem der Marquise de Sablé, sowie in jansenistisch inspirierten Zirkeln, wo man angesichts der Frage, warum der eine Mensch offenbar von Gott erwählt ist und der andere nicht, ein neuartiges Interesse für das Individuum, seine Psychologie und sein Verhalten entwickelte.

1658 begann er mit der Abfassung kürzerer aphoristischer Betrachtungen über die Natur des Menschen allgemein und die Verhaltensweisen der Angehörigen der adeligen Gesellschaft  im Besonderen. 1664 gab er unter dem Titel Réflexions ou sentences et maximes morales eine Sammlung dieser pointierten, meist pessimistischen, oft sarkastischen Texte zum Druck.

Da sich das Buch trotz der negativen Weltsicht seines Autors gut verkaufte, ließ er 1666, 1671, 1675 und 1678 Neuauflagen folgen, in denen die Zahl der "Sentenzen und Maximen" von zunächst rd. 300 auf rd. 500 anwuchs. Die in der Literaturgeschichte meist unter dem schlichten Titel Maximes laufende Sammlung wurde so zu seinem Hauptwerk. Ein Sammelband von Texten mit dem Titel Réflexions diverses kam postum hinzu.

1671 übermachte er seinen Herzogstitel seinem ältesten, eher ungeliebten Sohn, der als Kammerherr des Königs fungierte, d.h. als Edeldomestik, der rund um die Uhr bereit zu stehen hatte (und so jahrzehntlang praktisch nie aus Versailles heraus kam). La Rochefoucaulds letzte Jahre wurden von einem starken Gichtleiden sowie dem Verlust seiner beiden Lieblingssöhne im Krieg (1672) überschattet. Einen gewissen Trost verschaffte ihm in dieser Zeit seine enge Freundschaft mit der Romanautorin Madame de La Fayette (s.u.).

Er ist der erste und einer der bedeutendsten jener über den Menschen und die Gesellschaft reflektierenden Autoren des 17./18. Jh., die in der franz. Literaturgeschichte unter dem Namen "les Moralistes" zusammenfasst werden (und für die es in der deutschen Literaturgeschichte kein Pendant gibt).

(Stand: Jan. 09)

Gilles Ménage (* 15.8.1613 in Angers; † 23.7. Juli 1692 in Paris)

Ménage ist heute als Autor zwar völlig vergessen, war jedoch eine interessante Figur in der Pariser literarischen Szene um die Mitte des 17. Jh.

Er stammte aus einer Juristenfamilie und studierte Jura, um Anwalt zu werden wie sein Vater und sein Großvater (der sich auch als juristischer Autor betätigt hatte). Er erhielt zwar noch die Zulassung am Parlement von Paris, doch gab er hiernach, vielleicht aus gesundheitlichen Gründen, die Juristerei auf. Er ließ sich statt dessen die Niederen Weihen erteilen und kumulierte kleinere kirchliche Pfründen, die ihm ein gewisses Einkommen sicherten, aber keine Präsenz vor Ort verlangten. So konnte er als l’Abbé Ménage, wie er nun hieß, in Paris seinen literarischen und philologischen Interessen nachgehen und sich in intellektuell interessierten Kreisen bewegen.

Insbesondere verkehrte er in den 40er Jahren im „preziösen“ Salon der Marquise de Rambouillet, wo er z.B. eine gelehrige Schülerin und langjährige spätere Freundin fand in der jugendlichen Marie-Madeleine Pioche de la Vergne, der späteren Romanautorin Madame de La Fayette (s.u.). Wohl ab 1643 zählte er zum Umfeld von Paul de Gondi alias de Retz, dem ehrgeizigen Stellvertreter und designierten Nachfolger des Pariser Erzbischofs sowie, ab 1651, Kardinal (s.u., Cardinal de Retz).

Nach der Niederlage des Aufstandes der „Fronde“ 1652 und der Verhaftung von Retz als Rädelsführer, schloss Ménage sich locker der Partei der Sieger unter Mazarin an. Etwa ab derselben Zeit verkehrte er im Salon der Romanautorin Madeleine de Scudéry (s.o), wo er sich mit der jungen Marquise de Sévigné (s.u.) befreundete. Wenig später trat er auch in Verbindung mit dem Kreis um den neuen Pariser Groß-Mäzen, den (1661 verhafteten) Finanzminister Nicolas Fouquet.

Inzwischen lebte er im Domherrenstift von Notre-Dame de Paris. Hier unterhielt er selber einen Zirkel bürgerlicher Literaten, deren Treffen er nach dem Mittwochstermin „Mercuriales“ (lat. „dies Mercurii“) nannte.

Als Autor von Versen, die er vor allem zum Vortrag in den von ihm besuchten Salons verfasste, dichtete Ménage nicht nur französisch, sondern auch italienisch und lateinisch. Zentrales Thema seiner Madrigale, Eklogen, Episteln, Epigramme usw. war die galante Verehrung der Damen. Seine Gedichte erschienen 1656 gesammelt als Poemata latina, gallica, graeca, et italica. Auf sein Wirken soll die Verbreitung der „bouts-rimés“ zurückgehen, einer Modegattung in den Salons der Preziosität.

Vor allem aber war Ménage Philologe und solcher u.a. Mitglied der Gelehrten- und Literatenvereinigung der Florentiner Accademia della Crusca. Seine Abhandlung Origines de la langue française (1650; später ausgebaut und neu herausgegeben als Dictionnaire étymologique) und die Origini della lingua italiana (1669) zählen zu den ältesten Beiträgen der seriösen etymologischen Forschung in Frankreich.

Daneben war er ein streitbarer Charakter und gefürchteter Polemiker. So wechselte er Ende der 50er Jahre erbitterte Pamphlete mit dem Literatenkreis um Jean Chapelain (s.o.). Scharf auch ging er z.B. mit den erfolgreichen Remarques sur la langue française, utiles à ceux qui veulent bien parler et écrire von Claude Favre de Vaugelas (1647, s.o.) ins Gericht, denen er seine Observations sur la langue française (1672) entgegenstellte.

Molière (s.u.) konnte sichtlich mit einem gewissen Bekanntheitsgrad seiner Figur rechnen, als er ihn 1672 in der Rolle des pedantisch-preziösen Gelehrten Vadius in den Femmes savantes auftreten ließ. Schon vorher hatte ihn Nicolas Boileau (s.u.) satirisch verspottet.

Ein interessantes Dokument für Literarhistoriker sind die Erinnerungen, Betrachtungen und Bonmots von Ménage, die 1693 postum gesammelt unter dem Titel Menagiana erschienen.

(Stand: Nov. 08)

Le cardinal de Retz (= Jean-François Paul de Gondi alias de Retz, * 20.9.1613 in Montmirail/Marne; † 24.8.1679 in Paris)

Dieser auch aufgrund seiner turbulenten Biografie interessante Autor gilt den Franzosen als einer ihrer Klassiker der Gattung Memoiren.

Retz (wie er i. d. R. schlicht genannt wird) war Enkel eines italienischstämmigen Lyoneser Bankiers, der dank der Protektion von Catherine de Médicis (ab 1533 Gattin und später lange Zeit mächtige Witwe von König Henri II) zu hohen Ämtern und dem Titel eines Herzogs der kleinen Landschaft Retz in der Bretagne gelangt war und seinem Sohn, Retz’ Vater, zu einer hochadeligen Partie und einem Generalsposten verholfen hatte. Da Retz nur zweitgeborener Sohn war und ein jüngerer Bruder seines Großvaters es zum Bischof gebracht hatte, wurde er mit 10 tonsuriert. Als er 13 war, starb seine Mutter und sein frommer Vater zog sich als Mönch in ein Kloster zurück. Er selbst kam ins Internat des von Jesuiten geführten Pariser Collège de Clermont, wo er einem Klassenkameraden, dem späteren Literaten Tallemant de Réaux, als streitsüchtig und geltungsbedürftig in Erinnerung blieb, aber ein begabter Schüler war, der z.B. sechs Fremdsprachen lernte (darunter, für einen damaligen Franzosen ungewöhnlich, auch Deutsch). Nach Beendigung des Kollegs nahm er lustlos sein Theologiestudium auf, das ihn nicht hinderte, sich zugleich im adeligen Milieu als Schürzenjäger zu betätigen oder 1638 eine Erzählung um den Genueser Grafen Fiesco zu verfassen, dessen Rolle als Kopf einer Verschwörung gegen den Dogen Andrea Doria (1547) ihn offenbar faszinierte.

1638 schloss er das Studium dennoch mit Glanz ab, wurde zum Priester geweiht und entwickelte sich in den Folgejahren zu einem erfolgreichen mondänen Prediger. Komplett ausgearbeitete Texte seiner Predigten sind nicht erhalten, wohl auch deshalb, weil er offenbar weitgehend improvisierte.

Als der Hochadelige und Ehrgeizige, der er war, beschäftigte Retz sich aber nicht nur mit seinen kirchlichen Aufgaben und seinen Liebschaften, sondern vor allem mit der Politik, d.h. den Machtkämpfen vor und hinter den Kulissen am Hof. So beteiligte er sich 1638 und 1641 an den erfolglosen Intrigen der Königin Anne d’Autriche und des Hochadels gegen den allmächtigen Kardinal de Richelieu.

Nach dem Tod von Richelieu (1642) und König Louis XIII (1643) gelang es Retz, zum Stellvertreter und designierten Nachfolger seines Großonkels ernannt zu werden, der inzwischen zum Erzbischof von Paris avanciert war. Anfang 1644 wurde er in seinem Stellvertreteramt zum Titularbischof von Korinth geweiht, einer nur auf dem Papier existierenden Diözese. Er war nun ein einflussreicher Mann in Paris, als der er auch Literaten und Künstler protegierte.

Die Beförderung Mazarins zum Kardinal und Minister durch die Königinmutter und nunmehr Regentin Anne d’Autriche spornte seinen Ehrgeiz an, eine ähnliche Karriere zu versuchen. So beteiligte er sich als Akteur, aber auch als gefürchteter Pamphletist am Aufstand (1648–52) des Pariser Parlements und dann des Hochadels gegen Anne und Mazarin, der sog. Fronde. Hierbei wechselte er, zunächst glücklich, mehrfach die Seiten und zog sich 1651 mit Hilfe Annes einen Kardinalshut an Land. 1652 geriet er jedoch zwischen die Stühle und wurde im November, bald nach der Rückkehr des jungen Königs Louis XIV nach Paris, als Rädelsführer verhaftet und in die Festung Vincennes gebracht.

1654 starb sein Onkel, der Erzbischof, und Retz gedachte die ihm eigentlich zustehende Nachfolge anzutreten. Doch der inzwischen für volljährig erklärte Louis war nicht gewillt, dies zuzulassen, sondern versuchte ihn zum Verzicht zu zwingen. Als Retz ablehnte, wurde er nach Nantes geschafft, in die ferne Provinz.

Dort konnte er auf abenteuerliche Weise aus der Gefangenschaft fliehen und verließ Frankreich, nicht ohne einen fulminanten Protestbrief an die franz. Bischöfe zu richten. Seine Klagen verhallten jedoch wirkungslos und er blieb im Exil, das er unstet in Spanien, Italien, England, der Schweiz sowie (er war ja Kardinal) in Rom verlebte. 1662, nachdem er endlich doch auf die Nachfolge seines Onkels verzichtet hatte, wurde er von Louis begnadigt. Er erhielt als Entschädigung die reiche lothringische Abtei Commercy zugewiesen, blieb jedoch vom Hof (wo sich für einen Hochadeligen wie ihn alles Wesentliche abspielte) ausgeschlossen. Immerhin wurde er von Louis mehrfach (1662, 65, 68 und 70) in diplomatischen Missionen nach Rom geschickt bzw. bei Papstwahlen beauftragt, im Sinne Frankreichs zu agieren.

Ab 1670 zog er sich völlig zurück nach Commercy. Hier diktierte er schließlich (1671-75?) seine Memoiren, die er einer anonymen adeligen Dame widmete, vermutlich Mme de Sévigné (s.u.), deren Ehevertrag er 1644 mit abgezeichnet hatte und die 1664 einige Zeit in Commercy zu Gast gewesen war. Das Manuskript ist erhalten, allerdings nicht lückenlos.

1675 wurde Retz fromm, was ihm etliche Zeitgenossen nicht abnehmen wollten. Er starb bei dem Besuch einer Nichte in Paris und wurde in der Basilika Saint-Denis beigesetzt, auf Befehl des Königs ohne Namen auf seiner Grabplatte.

Im Zentrum der Mémoires stehen die Jahre vor und während der Fronde, d.h. Retz’ hohe Zeit als Drahtzieher und Intrigant. Sie gelten als ein Meisterwerk der Gattung aufgrund der psychologischen Intuition, mit der Retz beobachtet, der Präzision und Pointiertheit, mit der er formuliert, aber auch dem Geschick, mit dem er sich und seine Positionen in Szene setzt. Die Mémoires waren, als sie postum 1717 in der Umbruchstimmung nach König Louis’ XIV Tod erschienen, ein großer Publikumserfolg und wurden bis ins 19. Jh. hinein als eine Art Lehrbuch der politischen Intrige und des Machtpokerns gelesen.

(Stand: Dez. 08)

Antoine Furetière (1619–1688). Ein als belletristischer Autor nur der zweiten Reihe angehörender Literat. Er stammte aus kleinbürgerlichen Pariser Verhältnissen, konnte sich aber eine gute Bildung verschaffen, sogar ein Jurastudium anschließen und ein kleineres Amt kaufen. Zusätzlich ließ er sich die Niederen Weihen erteilen, um – mit Erfolg – an Pfründen zu kommen, die ihm ein auskömmliches Leben sicherten. Ansonsten verkehrte er in Pariser Literatenkreisen, betätigte sich in verschiedenen Gattungen (z.B. schrieb er, ähnlich wie Scarron, 1649 eine burleske Æneis) und war ein gefürchteter Satiriker und Kritiker. 1662 wurde er Mitglied der Académie française. 1666 erschien sein Roman bourgeois, eine Abrechnung mit dem heroisch-galanten Roman, dem Furetière ein in bürgerlichen Kreisen spielendes realistisches Pendant gegenüberzustellen versucht (das streckenweise aber langweilig ist und bei den Zeitgenossen auf deutlich weniger Interesse stieß als bei heutigen Literarhistorikern). Furetière sollte vor allem als Gelehrter bedeutsam werden: Da ihn die Mitarbeit am Wörterbuch der Académie passionierte, dieses ihm aber zu langsam vorankam, erstellte er ein eigenes Dictionnaire universel contenant généralement tous les termes de toutes les sciences et des arts. Als das Werk 1684 fertig war, durfte es aber wegen Protests der Académie, die Furetière geistigen Diebstahl vorwarf und ihn sogar aus ihren Reihen ausschloss, nicht erscheinen und wurde erst 1690 postum von dem bedeutenden Frühaufklärer Pierre Bayle in Holland gedruckt. Der Furetière gilt heute, weil er (anders als das 1694 erstmals erschienene, puristisch und normativ angelegte Académie-Wörterbuch) auch umgangssprachliche und fachsprachliche Bedeutungen von Wörtern verzeichnet, als wichtige Quelle für die franz. Sprache des 17. Jh. Er wurde zum Vorbild vieler späterer Wörterbücher.

(Stand: Mai 09)

Hercule Savinien Cyrano de Bergerac  (* 6.3.1619 in Paris, † 28.7.1655 in Sannois bei Paris)

Er ist heute vor allem als romaneske Dramen- oder Filmfigur bekannt. Die eigentliche Bedeutung dieses Autors, der sich in vielen Genres betätigte, liegt jedoch darin, dass er als einer der Erfinder des Science fiction-Romans und als ein Vorläufer der Aufklärer des 18. Jahrhunderts gelten kann.

Cyrano – wie er in den Literaturgeschichten meistens schlicht heißt – stammte aus einer ursprünglich bürgerlichen Familie, doch hatte sein Großvater, der Pariser Seefisch-Händler Savinien Cyrano, 1571 das adelnde Amt eines Königlichen Notars und Sekretärs gekauft und später, 1582, zwei Landgüter unweit der Hauptstadt erworben, darunter eines, das einer aus dem Südwesten zugewanderten adeligen Familie de Bergerac gehört hatte. Cyranos Vater, Abel de Cyrano, besaß ein höheres Amt am Obersten Pariser Gericht, dem Parlement, und firmierte bei seiner Heirat unter dem adeligen Titel „écuyer“ (eigentlich „Schildknappe“). Cyrano selbst betrachtete sich uneingeschränkt als adelig und zeichnete meist „(de) Bergerac“.

Seine Kindheit als vierter Sohn seiner Eltern verbrachte er, offenbar weitgehend getrennt von ihnen, zum Teil auf einem der Güter, zum Teil bei einem Dorfpfarrer, der ihm Unterricht erteilte. Später besuchte er das jansenistisch orientierte Collège de Beauvais in Paris. Ein gelehriger und braver Schüler war er anscheinend nicht. Den Direktor des Kollegs, einen allseits geachteten Gelehrten, karikierte er später in einer Komödie.

Nach Beendigung der Schulzeit 1638 führte er zunächst ein Dandy-Leben. Offenbar jedoch verschlechterte sich die finanzielle Lage der Familie um dieselbe Zeit, denn schon 1636 hatte sein Vater die Güter verkauft. Cyrano verdingte sich deshalb in einem Garde-Regiment, das hauptsächlich aus gasconischen Kadetten bestand, so dass auch er selbst – zu Unrecht – oft als Gascone betrachtet wurde. Bei seinen Kameraden machte er sich einen Namen als Haudegen und Duellist, doch kannte man ihn auch als Verfasser von Versen.

1639 und 40 nahm er mit seinem Regiment am französisch-spanischen Krieg teil, der sich zu dieser Zeit im Nordwesten Frankreichs abspielte. Er wurde zweimal verwundet, hängte danach den Soldatenrock an den Nagel und kehrte nach Paris zurück.

Hier hörte er ab 1641 die Vorlesungen des Naturphilosophen und –forschers Pierre Gassendi. Über ihn lernte er die Theorien der antiken Naturphilosophen kennen, aber auch das heliozentrische Weltbild nach Kopernikus, Johannes Kepler und Galileo Galilei, das vom katholischen Klerus nach wie vor als ketzerisch verdammt wurde, sich aber langsam durchzusetzen begann. Darüber hinaus befasste er sich mit den Schriften des Philosophen René Descartes (s.o.) sowie religionskritischer freidenkerischer Autoren. Auch die Alchemie beschäftigte ihn.

Nebenher nahm er Tanz- und Fechtstunden und bewegte sich in Kreisen junger Adeliger, wo man eine gewisse Freigeisterei kultivierte. Zunehmend fand er auch Anschluss an Literaten, darunter die relativ bekannten Autoren Paul Scarron (s.o.) und Tristan l’Hermite (s.o.) sowie den weniger bekannten Charles d’Assoucy, mit dem er vermutlich durch ein homosexuelles Verhältnis verbunden war.

Seine finanzielle Lage war prekär in diesen Jahren, denn sein Vater konnte oder wollte ihn nicht unterstützen. Auch gesundheitlich ging es ihm offenbar nicht gut, vermutlich aufgrund einer Syphilis-Infektion. Das kleine Erbe, das ihm 1648 beim Tod des Vaters zufiel, gab er rasch aus.

Während der politisch wirren Zeit der Fronde (1648-52) war Cyrano zunächst auf Seiten des aufständischen Volkes von Paris und des Pariser Parlements, d. h. der Gegner der regierenden Königinmutter Anne d’Autriche und ihres unbeliebten Ministers, Kardinal Mazarin. Gegen diesen verfasste er das satirische Gedicht Le Ministre d’État flambé, sowie wohl auch anonym einige sog. Mazarinaden, d.h. Anti-Mazarin-Pamphlete (die sich, nach dem Muster der Mazarinade von Scarron, zu einer eigenen Gattung entwickelt hatten).

1651 jedoch, nachdem sich die Fronde zu einer Revolte des Hochadels entwickelt hatte, wechselte Cyrano die Seite, brach mit seinen bisherigen Freunden, insbes. Scarron und d’Assoucy, und verfasste eine Lettre contre les Frondeurs, worin er Mazarins absolutische Politik verteidigt.

Spätestens 1650 begann er den zweiteiligen Roman, der sein Hauptwerk werden sollte, L’autre monde. Hierin berichtet ein Ich-Erzähler von seiner angeblichen Fahrt zum Mond und zur Sonne und von seinen Gesprächen und Erlebnissen mit deren Bewohnern (z. B. den humoristisch verfremdeten biblischen Figuren des Propheten Elias und des Patriarchen Enoch, die er auf dem Mond antrifft). Hierbei legt Cyrano den Mond- und Sonnenbewohnerrn philosophische, naturkundliche, religiöse und gesellschaftspolitische Gedanken in den Mund, die man in Frankreich zu dieser Zeit nicht äußern durfte.

1652 trat er als eine Art Edeldomestik in den Dienst des Herzogs (duc) und hohen Militärs d’Arpajon. Ihm widmete er seine 1654 gedruckte Tragödie La Mort d’Agrippine (Der Tod des Agrippina), ein historisches Stück im Stile Corneilles (s.o.), in das er religionskritische Tiraden einbaute, die bei der Aufführung Ende 1653 großen Anstoß erregten.

1654 ließ er eine Sammelausgabe bis dahin verfasster kleinerer Werke erscheinen, insbes. die in Prosa geschriebene Komödie Le Pédant joué (=der übertölpelte Pedant), aus dem Molière (s.u.) für sein vorletztes Stück, Les fourberies de Scapin, geschöpft hat, und die Lettres sur divers sujets, literarische, überwiegend satirische Briefe zu verschiedenen Themen, in denen er sich u.a. eine erstaunlich offene Bibel- und Kirchenkritik erlaubt.

Im selben Jahr 1654 – sein Roman von der Mondfahrt war fertiggestellt, der der Sonnenfahrt noch in Arbeit – ereilte ihn ein tragischer Unfall, der allerdings von manchen auch als Mordanschlag gedeutet wurde: unter ungeklärten Umständen fiel ihm im Stadtpalast seines Protektors ein Balken auf den Kopf. Er wurde zunächst in Paris von seiner Schwester Catherine, einer Nonne, gepflegt und später von einem Cousin in Sannois aufgenommen. Dort starb er ein gutes Jahr nach dem Unfall (ob an dessen Folgen oder an einer Krankheit, ist nicht bekannt) im Alter von erst 36 Jahren. Er erhielt ein kirchliches Begräbnis, hatte sich also vor seinem Tod mit der Kirche arrangiert.

Sein letztes Werk (dessen Zuschreibung allerdings nicht völlig sicher ist), ein Traité de physique, kam über das Anfangsstadium nicht hinaus.

Die beiden utopischen Romane wurden 1657 bzw. 1662 postum unter  dem  Titel Les États et Empires de la Lune und Les États et Empires du Soleil von Henri Lebret, einem Jugendfreund, publiziert. Dieser tilgte hierbei diverse anstößige Passagen, die sich aus den erhaltenen Manuskripten jedoch restituieren lassen. Dem Vorwort Lebrets entstammen die meisten der Informationen, die zur Person von Cyrano bekannt sind.

(Stand: Juli 09)

Molière (=Jean-Baptiste Poquelin, *14.(?) 1.1622 Paris; †17.2.1673 ebd.).

Dieser Schauspieler, Theaterdirektor und Dramatiker gilt den Franzosen als einer ihrer großen Klassiker und vielen sogar als ihr größter Autor überhaupt. Seine bahnbrechende Leistung bestand darin, die Komödie zu einer der Tragödie potenziell gleichwertigen Gattung zu erheben und das Theater zumindestens für einige Jahre zum Diskussionsforum für „richtiges“ und „falsches“ Verhalten in der Gesellschaft seiner Zeit zu machen, d.h. vorzugsweise ihrer oberen Schichten.

Poquelin alias Molière war ältester Sohn eines wohlhabenden Pariser Händlers für Heimtextilien (tapissier), der 1631 das Amt eines Tapissier du Roi kaufte, d.h. eines königlichen Raumausstatters und Dekorateurs. Mit 10 verlor er seine Mutter, mit knapp 15 auch seine Stiefmutter, beide gestorben im Kindbett, was ihn sicher traumatisierte. Seine Schulzeit absolvierte er auf dem von Jesuiten geführten Collège de Clermont, wo er eine solide klassische Bildung erhielt und einige später für ihn wichtige Mitschüler hatte. Von seinem Großvater mütterlicherseits, einem Theaternarren, wurde er häufig zu Aufführungen mitgenommen, sowohl in das seriöse Hôtel de Bourgogne, als auch zum volkstümlichen Jahrmarkttheater (théâtre de la foire), und erhielt so erste Einblicke in diese ihn offenbar früh faszinierende Welt.

Mit knapp 16 legte er jedoch brav den Amtseid als künftiger Amtsnachfolger seines Vaters ab und studierte wenig später Jura in Orléans. Ob er sich, 1641 zurück in Paris, als Anwalt versucht hat, ist unbekannt. Sicher ist, dass er um diese Zeit Vorlesungen des Naturforschers und Philosophen Pierre Gassendi frequentierte, was ihm eine gewisse Distanz zu der offiziellen aristotelischen Philosophie und den Dogmen der Kirche vermittelte. Eine Vers-Übertragung des Werkes De natura rerum des römischen Naturphilosophen Lukrez, die er damals offenbar begann, ist nicht erhalten.

1641 oder 42, also mit etwa 20, lernte er die Schauspielerfamilie Béjart und insbes. die zwei Jahre ältere Madeleine Béjart kennen, die ihn faszinierte und in seinem Drang zum Theater bestärkte – zweifellos gegen den Willen seines Vaters, von dem er 1642 beauftragt wurde, in Ausübung seines tapissier-Amtes König Louis XIII auf einer längeren Reise als Einrichter von dessen wechselnden Nachtquartieren zu begleiten.

1643 übertrug er das ungeliebte Amt auf einen jüngeren Bruder, ließ sich einen Vorschuss auf das Erbe seiner Mutter auszahlen und gründete zusammen mit Madeleine Béjart und ihren Geschwistern Joseph und Geneviève sowie sechs weiteren Schauspielern ein Theater: L'Illustre Théâtre. Spielort war ein umfunktionierter Ballspielsaal (jeu de paume).

Das Illustre Théâtre kam offenbar nie recht in Fahrt und ging 1645 pleite, wobei Molière, wie er sich wohl ab 1643, spätestens aber im Juni 44 nannte, als Chef der Truppe schon vorher vorübergehend in Schuldhaft genommen worden war.Danach schlossen er und die Béjarts sich einer Wandertruppe an, die hauptsächlich in West- und Südfrankreich umherzog und vom Duc (Herzog) d'Épernon protegiert wurde.

Relativ schnell arbeitete Molière sich in der Truppe hoch zum Direktor und gewann 1653 für einige Jahre (bis 1657) als Sponsor den Gouverneur der Provinz Languedoc, den ihm aus der Schulzeit bekannten Prince (Fürst) de Conti. Spezialität der Truppe waren, neben einem Repertoire aus Tragödien, Tragikomödien und Komödien zeitgenössischer Autoren, vor allem Farcen und lustige Sketche im Stil der Commedia dell'arte. Gegen 1655 begann Molière auch eigene Stücke zu verfassen und ins Programm aufzunehmen, z.B. die Verskomödie L'Étourdi (Der Tolpatsch), die um einen gewitzten und pfiffigen Diener und seinen nicht eben lebenstüchtigen jungen Herrn spielt.

1658, nach 13 Wanderjahren, in denen er Menschen aus allen Schichten begegnet war und von Grund auf sein Handwerk als Schauspieler, Theaterdirektor und schließlich auch Autor gelernt hatte, gastierte Molière in Rouen (wo er dem schon berühmten Dramatiker Pierre Corneille begegnete) und bekam Kontakt zu „Monsieur“, dem jüngeren Bruder Philippe von Louis XIV. Er wurde von ihm nach Paris eingeladen und spielte vor dem Hof, zuerst mit mäßigem Echo die Tragödie Nicomède von  Corneille (s.o.) und im Anschluss daran die eigene Farce Le Docteur volant  (Der fliegende Doktor). Diese gefiel dem eben 20-jährigen König Louis so sehr, dass er der Truppe erlaubte, im Saal des an den Louvre grenzenden, zum Abriss bestimmten Petit-Bourbon zu spielen, wo allerdings die „jours ordinaires“ Sonntag, Dienstag und Freitag schon von einer italienischen Truppe um den berühmten Komödianten Scaramouche belegt waren.

Den Durchbruch erzielte Molière im November 1659 mit seiner Prosa-Komödie Les précieuses ridicules (Die lächerlichen Preziösen). In diesem Stück, seinem ersten, das für ein vorwiegend Pariser Publikum konzipiert war, persifliert er am Beispiel der beiden Protagonistinnen, zwei naiver, etwas exaltierter Bürgermädchen, die manirierte Sprache und schönfärberische Denkweise der „Preziösen“, einer Art Emanzen-Bewegung adeliger und später auch bürgerlicher Pariserinnen. Das Stück verschaffte ihm erste Neider und auch Feinde, darunter den Chef der Verwaltung der königlichen Schlösser, der quasi über Nacht und just zu Beginn der Spielzeit 60/61 den Abriss des Petit-Bourbon verfügte. Molière blieb drei Monate ohne Spielstätte, bis er vom König den Saal des Palais-Royal zugewiesen bekam.

Ein weiterer Schlag war Anfang 61 der komplette Misserfolg der Tragikomödie Dom Garcie de Navarre, mit der Molière sich als Autor offenbar dem gehobenen Genus der Tragödie anzunähern gedachte. Zugleich scheint er mit dem Thema des Stücks, der Gefahr exzessiver Eifersucht, ein persönliches Problem zu bearbeiten, denn sichtlich ging er auf Freiersfüßen und warb um die offenbar kokette 18-jährige Armande Béjart, die jüngste Schwester Madeleines (oder vielleicht auch eine Tochter von ihr).

Spätestens Ende 1662 wurde Molière für den Misserfolg des Dom Garcie entschädigt durch den großen Erfolg von L'École des femmes (Die Schule der Frauen), einer Vers-Komödie, in der er, der soeben das Jawort Armandes erlangt hatte, für eine gemäßigte Emanzipation der jungen Frauen und ihr Recht auf eine Liebesheirat wirbt. Das Stück löste eine heftige Kontroverse aus, die er mit den Prosa-Stücken La Critique de l'École des femmes und L'Impromptu [das Stegreifstück] de Versailles weiter anheizte (beide 1663). Dem König scheint dies gefallen zu haben, denn er setzte Molière eine Pension von 1000 Livres jährlich aus. Im Januar 64 wurde er sogar Taufpate seines ersten (allerdings bald danach verstorbenen) Kindes Louis, was er wohl auch deshalb tat, um das Gerücht Lügen zu strafen, Armande sei ein Kind Madeleine Béjarts von Molière und dieser habe demnach seine eigene Tochter geheiratet.

Im Mai 1664 – inzwischen war er zum „maître de plaisir“ von Louis XIV avanciert – organisierte Molière ein dreitägiges Hoffest im neuangelegten Park von Versailles. Dort spielte er zunächst, mit Balletteinlagen, die sein jüngerer Freund Jean-Baptiste Lully (1632-87) komponiert und choreographiert hatte, seine unverfänglichen Stücke La Princesse d'Élide (Die Fürstin von Elis), Le Mariage forcé (Die Zwangsheirat) und Les fâcheux (Die Lästigen). Am dritten Tag inszenierte er seine neue Vers-Komödie Le Tartuffe, die rasch zum Politikum wurde.

Schon im Vorfeld der Aufführung hatten etliche Fromme am Hof gegen dieses Stück um einen scheinbar frommen, in Wahrheit aber herrschsüchtigen, raffgierigen und lüsternen Heuchler polemisiert und ein Verbot zu bewirken versucht. Nach der Aufführung brach Empörung bei der gesamten „vieille cour“ (=alter Hof) aus, einer Gruppierung meist älterer Höflinge, die sich um die fromme Königinmutter Anne d’Autriche scharten und der Zeit vor 1661 nachtrauerten, wo man unter ihr und ihrem Minister Kardinal Mazarin die Macht gehabt hatte. Der König, dem Molières Attacke auf die Frömmler und damit durchaus auch auf die ihm lästige „vieille cour“ zunächst sehr recht gewesen war, hielt es nun, unter dem Druck dieser Leute (die z.T. in einem bigotten Geheimbund, der Compagnie du Saint-Sacrement, organisiert waren), für opportun das Stück zu verbieten.

Die nächsten Jahre Molières waren bestimmt von seinem Kampf für den Tartuffe und gegen die Intrigen der „cabale des dévots“ (=Klüngel der Frommen), in der z.B. auch sein ehemaliger Gönner mitwirkte, der nach einer Syphilisinfektion fromm gewordene Conti. Immerhin sah sich Molière vom König insofern unterstützt, als er im Sommer 1665 seine Jahrespension von 1000 auf stolze 6000 Livres erhöht bekam und mit seiner Truppe den Namen Troupe du roi annehmen durfte, beides übrigens kurz nach der Geburt seiner Tochter Esprit-Madeleine, die als einziges Kind überlebte ( 1723).

1664 und 65 brachte Molière, der mit seiner Truppe stets auch andere Autoren spielte, die ersten Stücke von Jean Racine (s.u.) heraus, die Tragödie La Thébaïde und die Tragikomödie Alexandre le Grand. Er verlor ihn jedoch hiernach an das konkurrierende Theater des Hôtel de Bourgogne, das auf Tragödien spezialisiert war. Auch büßte er dabei eine seiner beliebtesten Schauspielerinnen ein, Mlle du Parc, die Racine zur Konkurrenz folgte und zudem dessen Geliebte wurde. Molière rächte sich, indem er in der Folgezeit häufig Stücke von Racines älteren Rivalen Corneille (s.o) wieder aufnahm oder neu inszenierte.

Im Sommer 1667 versuchte er, eine überarbeitete, um zwei auf fünf Akte verlängerte und in L’Imposteur (=der Schwindler) umbetitelte Version des Tartuffe in sein Programm aufzunehmen, wobei er den Protagonisten in „Panulphe“ umbenannte und nicht mehr priesterähnlich, sondern als Adeligen kostümierte. Doch der Premier Président des Pariser Parlements, der für den bei der Armee in Flandern weilenden König die Polizeigewalt ausübte, reagierte sofort mit einem Verbot. Der Erzbischof von Paris bedrohte Molière sogar mit Exkommunikation. Als dieser zwei Schauspieler mit einer Bittschrift zum König schickte, versprach der zwar eine wohlwollende Prüfung der Sache, tat zunächst aber nichts. Immerhin duldete er, dass sein Bruder Philippe und danach der Prince de Condé (der ältere Bruder Contis) 1668 das Stück privat in ihren Schlössern aufführen ließen.

Erst am 5. Februar 1669, nachdem die „vieille cour“ sich nach Anne d'Autriches Tod 1666 aufgelöst hatte und die Compagnie du Saint-Sacrement im selben Jahr sogar verboten worden war und vor allem Louis nach innen- und außenpolitischen Erfolgen fest im Sattel saß und keine Rücksicht mehr auf die frommen Gegner Molières nehmen musste, konnte dieser das Stück, nochmals überarbeitet und in Tartuffe, ou l’Imposteur umbenannt, frei aufführen. Der Erfolg war triumphal, die Aufführung gilt als eines der großen Ereignisse der französischen Theatergeschichte.

In der Zwischenzeit hatte Molière übrigens das Thema Heuchelei weiterverfolgt: Ende 1664, also bald nach dem ersten Verbot des Tartuffe, hatte er Dom Juan verfasst, ein Prosa-Stück um einen hochadeligen Heiratsschwindler und Freigeist, der, um sich den Nachstellungen empörter Geschädigter zu entziehen, eine Bekehrung zu christlicher Moral und Frömmigkeit vortäuscht, aber schließlich zur Hölle fährt. Auch dieses Stück wurde, vermutlich wegen der nicht eindeutig negativen Darstellung von Dom Juans Freidenkertum, nach wenigen Aufführungen verboten.

Im Juni 66 hatte Molière die Vers-Komödie Le Misanthrope (Der Menschenfeind) herausgebracht, eine Satire auf die geheuchelte Nettigkeit und unehrliche Schmeichelei in den Pariser Salons und am Hof. Im Hintergrund stehen aber noch zwei andere Motive, die dieses Stück zum wohl autobiografischsten des Autors machen: So spiegelt die Weigerung des (von ihm selbst gespielten) „Misanthropen“ Alceste, sich opportunistisch und diplomatisch zu verhalten, zweifellos die Unlust, aber auch das Unvermögen des letztlich bürgerlich gebliebenen königlichen Protégés Molière, sich in adeligen Kreisen, insbes. der Hofgesellschaft, geschmeidig und angepasst zu bewegen. Die Enttäuschung und die Eifersucht des älteren liebenden Alceste gegenüber der koketten jungen Célimène ähnelt sichtlich dem Groll von Molière selbst gegenüber seiner 21 Jahre jüngeren Frau Armande, die sich gerade (vorübergehend) von ihm getrennt hatte.

1668 (also nach dem Verbot auch der zweiten Tartuffe-Version) hatte Molière in der Vers-Komödie Amphitryon erstmals leise Kritik geübt an seinem wenig zuverlässigen Gönner Louis XIV, den er verschlüsselt darstellt in Gestalt des ganz ungeniert seinem sexuellen Lustgewinn nachgehenden Titelhelden Amphitryon alias Jupiter. In Georges Dandin (Prosa, ebenfalls 1668) hatte er bitter die Arroganz gebrandmarkt, mit der Adelige, selbst wenn sie verarmt waren, die gesellschaftlich nützliche Bourgeoisie verachten und ausbeuten zu dürfen meinten.

Insgesamt aber hatte er sich nach 1667 mehr und mehr auf nicht-kontroverse Themen zu verlegen begonnen und versuchte, mit gefälligen Stücken sein Theater zu füllen und den König bei Laune zu halten. So schrieb er neben anderen, heute weniger bekannten Stücken:

1668 L'Avare (Prosa), wo er den Typ des reich gewordenen, aber zwanghaft geizig gebliebenen Bürgers karikiert, der seine lebensfroheren und konsumfreudigeren Kinder fast erstickt;

1669 (nach dem endlichen Erfolg des Tartuffe) Monsieur de Pourceaugnac (Prosa), eine farcenartige Komödie, in der er einen dümmlichen Provinzler die quasi schon eingekaufte Braut an einen klügeren Rivalen verlieren läßt;

1670 Le Bourgeois gentilhomme (Der Bürger als Edelmann, Prosa, mit Gesang- und Balletteinlagen), wo er die naive Sucht der Bourgeoisie nach Adelstiteln verspottet;

1671 Les fourberies [Schelmenstreiche] de Scapin (Prosa), wo er in einer turbulenten Handlung um den pfiffigen Diener Scapin alle Register der Farce zieht;

1672 Les femmes savantes (Die gelehrten Frauen, Verse), wo er an drei Bürgerinnen, die er als nur pseudogebildet und pseudogelehrt darstellt, eine in seinen Augen unweibliche Sucht nach schöngeistiger Bildung und nach Gelehrsamkeit karikiert und ihnen eine junge Frau gegenüberstellt, die ihre Rolle als bürgerliche Haus- und Ehefrau bejaht;

1673 Le Malade imaginaire (Der eingebildete Kranke, Prosa), wo er ein altes und mehrfach auch schon von ihm selbst bearbeitetes Thema gestaltet, nämlich die naive Medizingläubigkeit reicher Kranker und vor allem die Inkompetenz der von keinerlei Selbstzweifeln geplagten Ärzte – eine Inkompetenz, die dem selbst häufig kranken Molière (Tuberkulose?) nur allzu geläufig war.

Insgesamt verdüsterte sich in diesen Jahren rasch sein Horizont: Die langen Querelen um den Tartuffe und vor allem der ständige berufliche Stress hatten seine Gesundheit ruiniert. Häufige Eheprobleme setzten ihm zu. 1671 kam es bei der Einstudierung der theatertechnisch sehr aufwendigen „Ballett-Tragödie“ Psyché (deren letzte zwei Drittel er von Corneille hatte verfassen lassen) zum Bruch mit Partner Lully. Ein drittes Kind starb bald nach der Geburt. Anfang 1772 erkrankte und verstarb auch seine langjährige Weggefährtin Madeleine Béjart. Molière musste erleben, wie der König den zum Rivalen gewordenen Lully zu favorisieren begann.

Le Malade imaginaire sollte sein letztes Stück bleiben und der Kranke seine letzte Rolle. Bei der vierten Aufführung am 17. Februar 1673 erlitt er einen Schwächeanfall und starb kurz danach in seiner nahen Wohnung. Nur mühsam gelang es seiner Frau Armande, den Widerstand des zuständigen Gemeindepfarrers zu brechen und über den König beim Erzbischof von Paris die Genehmigung für eine halbwegs ehrbare Bestattung auf dem Friedhof zu erwirken.

Die Truppe Molières blieb unter Armandes Leitung zunächst bestehen. Sie schloss sich aber, als Lully den Saal des Palais-Royal zugesprochen bekam, der Truppe des Théâtre du Marais an, wobei sich Armande mit einem von deren Schauspielern verheiratete. 1680 fusionierte die neue Truppe auf Anweisung von Louis XIV mit der des Hôtel de Bourgogne: die noch heute bestehende Comédie Française war geboren.

(Stand: Aug. 09)

Jean de La Fontaine (* 8.7.1621 in Château-Thierry/Champagne ; † 12.4.1695 in Paris).

La Fontaine wird von den Franzosen in die vorderste Reihe ihrer Klassiker gestellt und ist noch heute mit ein oder zwei Fabeln jedem Schulkind bekannt.

Er war Sohn eines bürgerlichen, aber mit seinen Chargen zum niederen Amtsadel zählenden Königlichen Rats (Conseiller du Roi) sowie Jagd- und Fischereiaufsehers (Maître des Eaux et Forêts) – ein Amt, das er später (1658) erbte, aber nie ordnungsgemäß ausübte und schließlich (1670) verkaufte.

1636 ging er nach Paris, um dort seine Schulausbildung abzuschließen. 1641 begann er als Novize im Predigerorden der Oratorianer ein Theologiestudium, brach es aber ab und verließ den Orden am Ende der Probezeit 1643. Nach zwei offenbar mehr zweckfrei, wenn auch wohl mit viel Lektüre, zu Hause verbrachten Jahren studierte er 1645–47 Jura in Paris. 1647 ließ er sich in Château-Thierry mit einer 14-Jährigen aus ebenfalls bürgerlich-amtsadeliger Familie verheiraten, mit der er 1653 zwar einen Sohn bekam, aber offenbar nie eine engere Beziehung pflegte. Wohnen tat das Paar zunächst meist in Paris, im Haus eines Onkels der Frau. Von einer juristischen Berufstätigkeit La Fontaines in dieser Zeit ist nichts bekannt, außer dass er 1659 als am Parlement zugelassener Anwalt erwähnt wird.

Doch auch als Autor scheint er nicht sehr aktiv gewesen zu sein, obwohl er in Literatenkreisen verkehrte. (Oder ist außer der 1654 verfassten Übertragung einer Komödie von Terenz nur nichts erhalten?) Erst von 1658 datiert ein erstes fertiges eigenes Werk, das Kleinepos Adonis, das er dem mächtigen Finanzminister und reichen Mäzen Nicolas Fouquet widmete, an den er 1657 über den Onkel seiner Frau Anschluss erhalten hatte. In den nächsten Jahren schrieb er Gelegenheitsgedichte im Auftrag Fouquets für dessen kleinen Hof, an dem er weitere Literaten kennen lernte, z.B. Mme de Sévigné (s.u.). Daneben arbeitete er an einem idyllischen Gedicht, Le Songe de Vaux, das Fouquets prächtiges neuerbautes Schloss in Vaux-le-Viconte verherrlichen sollte. Vermutlich datieren aus dieser Zeit auch schon die ersten der Fabeln, die ihn berühmt machen sollten.

1662 wurde La Fontaine in den Strudel hineingezogen, der um Fouquet entstand, als dieser plötzlich bei Louis XIV in Ungnade fiel und wegen angeblicher Bereicherung im Amt inhaftiert wurde. Nachdem er vergeblich eine Bitt-Ode für Fouquet an den König gerichtet hatte, verreiste er 1663 vorsichtshalber für ein paar Monate nach Limoges, zusammen mit dem sich ebenfalls gefährdet fühlenden Onkel seiner Frau. Dort vollendete er die Nouvelles tirées de Boccace et d'Arioste: heiter-galante, manchmal gewagt erotische Vers-Erzählungen nach Novellen von Boccaccio und Ariosto, die er 1664 in Druck gab (und die 1665 und 1666, mehrfach erweitert, als Contes et nouvelles en vers neu aufgelegt wurden).

Nach seiner Rückkehr aus Limoges machte er die Bekanntschaft Boileaus (s.u.) und Molières (s.o.). Den jungen Racine (s.u.), einen entfernten Verwandten seiner Frau, kannte er schon länger.

1664 fand er Anschluss an Herzogin Marguerite de Lorraine, Witwe des jüngeren Bruders von Louis XIII, Gaston d'Orléans. Er wurde von ihr zu einem ihrer gentilshommes ordinaires ernannt (womit er als geadelt galt) und wohnte bis zu ihrem Tod 1672 im Palais de Luxembourg – ohne seine Frau, die mitsamt dem Sohn nach Château-Thierry zurückgekehrt war.

In den vom Wirtschaftsaufschwung unter Minister Colbert und von der Offenheit des jungen Louis XIV geprägten optimistischen Jahren um 1665, die durch die 1667 beginnende, anfangs erfolgreiche Serie von Expansions-Kriegen gegen Spanien, Holland und das Deutsche Reich zunächst noch nicht verdüstert wurden, verfasste  La Fontaine in der Hauptsache Fabeln. Die Stoffe für sie, die zu seinem Hauptwerk werden sollten, bezog er aus den verschiedensten antiken und zeitgenössischen Quellen. Eine erste Ausgabe in zwei Bänden erschien 1668 als Fables choisies, mises en vers par M. de La Fontaine. Sie enthielt die meisten der heute aus Anthologien bekannten heiter-ironischen Stücke. 1669 brachte er den rokkokohaften kleinen Roman Les amours de Psyché et de Cupidon heraus.

1672 wurde er Dauergast im Haus der Bankierswitwe Mme de La Sablière, die einen der führenden schöngeistigen Salons von Paris unterhielt. 1674 schrieb er das Libretto zu der Oper Daphné, die Lulli vertonte. 1675 bekam er direkt zu spüren, dass der Wind in Frankreich sich zu drehen begann: eine gerade erschienene (die gewagten Stücke bevorzugende) Auswahl der Contes et nouvelles wurde verboten. Die 1677 und 1679 gedruckten Bände III und IV der Fabeln zeigen denn auch eine erheblich skeptischere Sicht La Fontaines von der Welt, insbesondere des Verhältnisses von oben und unten, Mächtigen und Subalternen.

1683 inszenierte die junge Comédie Française sein Stück Le Rendez-vous, das aber nur viermal aufgeführt wurde und nicht erhalten ist. Ebenfalls 1683 wurde La Fontaine in die Académie française gewählt, allerdings von Louis XIV, der inzwischen unter dem Einfluss der fromm gewordenen Mme de Maintenon stand, erst nach längerem Zögern als Mitglied bestätigt. Bei der 1687 in der Académie ausgelösten „Querelle des Anciens et des Modernes“ stand er auf der Seite der Anciens, d.h. der Anhänger der Vorstellung, dass die Kultur der griechisch-römischen Antike unübertrefflich sei und bleibe.

1691 versuchte er sich nochmals als Librettist für das Singspiel Astrée, das aber ein Misserfolg wurde. Ende 1692, bald nachdem er eine durchgesehene Gesamtausgabe der Fabeln herausgebracht hatte, erkrankte er schwer und wurde danach fromm. Als Mme de La Sablière, die schon vor ihm fromm geworden war, 1693 starb, zog La Fontaine in das Haus eines letzten Gönners, des Bankiers d’Hervarth. Hier starb er 1695, nicht ohne sich vorher öffentlich von seinen ganz unzeitgemäß gewordenen Contes distanziert zu haben.

(Stand: Dez. 08)

Blaise Pascal (* 19.6.1623 Clermont-Ferrand; † 19.8.1662 Paris).

Obwohl er vor allem Mathematiker und Naturwissenschaftler und eher nur nebenher Literat war, wird er in seiner Eigenschaft als exzellenter Stilist, Pamphletist und Satiriker doch zu den großen Autoren der franz. Klassik gerechnet. In Deutschland läuft er eher unter der Kategorie ‚Philosoph’.

Pascal stammte aus einer alten auvergnatischen, in zweiter Generation amtsadeligen Familie. Sein Vater hatte in Paris Jura studiert, dann in Clermont das Amt eines Steuereinnehmers („élu“) und etwas später das des zweiten Vorsitzenden Richters am Obersten Steuergerichtshof der Auvergne gekauft. Die Mutter, Antoinette Begon, kam aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die ebenfalls in den Amtsadel strebte. Pascal hatte zwei Schwestern, die drei Jahre ältere Gilberte (die später seine Nachlassverwalterin und erste Biographin wurde) sowie die zwei Jahre jüngere Jacqueline, von deren Geburt sich die Mutter nicht erholte, so dass Pascal mit drei Jahren Halbwaise wurde. Als er acht war, zog die Familie samt Gouvernante nach Paris, weil der Vater den Kindern, zumal dem offensichtlich hochbegabten Jungen, bessere Entfaltungsmöglichkeiten schaffen wollte. Sein Richteramt verkaufte er an einen Bruder und legte sein Vermögen in Staatsanleihen an.

Pascal war als Kind sehr kränklich (und blieb dies auch sein Leben lang), deshalb wurde er von seinem sehr gebildeten und naturkundlich interessierten Vater sowie von Hauslehrern privat unterrichtet. Spätestens mit zwölf erwies er sein hervorragendes mathematisches Talent und fand über seinen Vater, der in Pariser Gelehrten- und Literatenzirkeln verkehrte, Anschluss an den Kreis von Mathematikern und Naturforschern um den Père Mersenne. Hier beeindruckte er als 16-Jähriger mit einer Arbeit über die Berechnung von Kegelschnitten.

1638 wurde der Vater verdächtigt, Mitorganisator eines Protest von Betroffenen gegen Zinsmanipulationen des Staates zu sein. Er zog es vor, unterzutauchen und aus Paris zu flüchten. Ende 1639 wurde er jedoch dank der Fürsprache hochstehender Personen von Richelieu begnadigt und durfte diesem sogar seinen Sohn vorstellen. 1640 wurde er zum königlichen Kommissar und obersten Steuereinnehmer für die Normandie in Rouen ernannt. Hier erfand Pascal 1642 für ihn die „roue [=Rad] Pascale“ oder „Pascaline“, die erste bekannte Rechenmaschine. Sie ermöglichte zunächst nur Additionen, wurde im Lauf der nächsten zehn Jahre aber ständig verbessert, und konnte schließlich auch subtrahieren. Pascal erhielt ein Patent auf sie, doch der Reichtum, den er sich von der Erfindung und einer eigens gegründeten kleinen Firma erhofft hatte, blieb aus. Die einzeln handgefertigten Maschinen (mehrere von insgesamt wohl 50 sind erhalten) waren zu teuer, um größeren Absatz zu finden.

In Rouen, einer Stadt mit Universität, hohem Gericht (Parlement) und reicher Kaufmannschaft, zählte die Familie Pascal zur guten Gesellschaft, auch wenn der Vater sich durch eine harte Amtsführung unbeliebt gemacht hatte. Pascal sowie seine literarisch begabte jüngere Schwester Jacqueline, deren dichterische Versuche von dem Dramatiker Pierre Corneille (s.o.) gefördert wurden, bewegten sich elegant in diesem Milieu. Schwester Gilberte heiratete 1641 einen jungen Verwandten, Florin Périer, den sich Vater Pascal als Assistenten aus Clermont-Ferrand geholt hatte.

1646, während der Rekonvaleszenz des Vaters nach einem Unfall, kam die bis dahin nur lax religiöse Familie durch zwei Krankenpfleger in Kontakt mit den Lehren des holländischen Reformbischofs Jansenius, der einen dem Calvinismus ähnlichen katholischen Fundamentalismus vertrat. Vater und Kinder wurden fromm, Jacqueline beschloss sogar Nonne zu werden, und Pascal, der unter Lähmungserscheinungen an den Beinen und starken Schmerzen litt, interpretierte seine Krankheit als ein Zeichen Gottes und begann ein asketisches Leben zu führen.

Anfang 1647 demonstrierte er seinen neuen Glaubenseifer, als er den Erzbischof von Rouen eher gegen dessen Willen dazu nötigte, einen Priesterkandidaten zu maßregeln, der ihm und Freunden gegenüber eine Sicht der Religion vertreten hatte, die ihnen zu rationalistisch erschien.

Allerdings ließ er sich von seiner Frömmigkeit nicht hindern, weiterhin naturwissenschaftlich-mathematische Studien zu treiben. So wiederholte er noch 1646 erfolgreich die schon 1643 von Evangelista Torricelli angestellten Versuche zum Nachweis der Existenz des Vakuums, die er 1647 in einer Abhandlung beschrieb.

Ab Mai 1647 lebte er mit Jacqueline und wenig später auch dem Vater überwiegend wieder in Paris, wo er mit führenden Jansenisten in Kontakt trat, aber auch seine Forschungen weiterführte. Angesichts des Widerstandes vieler Theologen und Naturforscher, u.a. von René Descartes (s.o.), den er Ende Sept. 47 zweimal in Paris traf, diskutierte Pascal die Frage des Vakuums jedoch nur noch indirekt, insbes. in einer Abhandlung über den Luftdruck, dessen Abhängkeit von der Höhe des jeweiligen Ortes er 1648 durch entsprechende Versuche seines Schwagers Périer am Puy de Dôme nachgewiesen hatte. 1648 begründete er in einer weiteren Abhandlung das Gesetz der kommunizierenden Röhren.

Als im Frühling 1649 die im Vorjahr ausgebrochenen bürgerkriegsartigen Wirren des „Fronde“-Aufstands das Leben in Paris erschwerten, wichen die Pascals zu den Périers in die Auvergne aus und blieben dort bis Herbst 1650.

Im Herbst 51 starb Pascals Vater. Kurz danach ging Tochter Jacqueline gegen seinen und auch Pascals Wunsch ins Kloster, und zwar in das streng jansenistische Port-Royal in Paris.

Pascal war nun, mit 28, zum ersten Mal auf sich allein gestellt. Da er, wenn auch nicht reich, so doch wohlhabend und zudem adelig war, begann er als junger Mann von Welt in der guten Pariser Gesellschaft zu verkehren. Er befreundete sich mit einem philosophisch interessierten jungen Hochadeligen, dem Duc (Herzog) de Roannez. Von ihm wurde er 1652 zusammen mit einigen von dessen freidenkerischen Freunden, insbes. dem Chevalier de Méré, auf eine längere Reise mitgenommen, während der er in die neuere Philosophie eingeführt wurde, aber auch in die Kunst geselliger Konversation. Dank seines Verkehrs im schöngeistigen Salon von Mme de Sablé kam er auch mit der belletristischen Literatur der Zeit in nähere Berührung. Er dachte kurz sogar an den Kauf eines Amtes und ans Heiraten. Ein ihm lange zugeschriebener, weil gewissermaßen in diese mondäne Lebensphase passender anonymer Discours sur les passions de l'amour (Rede über die Leidenschaften der Liebe) stammt offensichtlich aber nicht von ihm.

Die Diskussionen, die er mit den neuen Bekannten, insbes. Méré, über die Gewinnchancen im Glückspiel führte, einem typisch adeligen Zeitvertreib, brachten Pascal 1653 dazu, sich der Wahrscheinlichkeitsrechnung zuzuwenden, die er 1654 im brieflichen Austausch mit dem Toulouser Richter und großen Mathematiker Pierre de Fermat vorantrieb. Ebenfalls 1654 schrieb er je eine Abhandlung über das sog. Pascalsche Dreieck (Traité du triangle arithmétique), über Zahlenordnungen (Traité des ordres numériques) und über Zahlenkombinationen (Combinaisons).

Im Herbst 1654 wurde Pascal offenbar von einer depressiven Verstimmung erfasst. Er näherte sich Jacqueline wieder an, die er häufig im Kloster besuchte, und er zog in ein anderes Stadtviertel, um sich seinem mondänen Freundeskreis zu entziehen. Am 23. Nov. (möglicherweise nach einem Unfall mit seiner Kutsche, der aber nicht verlässlich bezeugt ist) hatte er ein religiöses Erweckungserlebnis, das er noch nachts auf einem erhaltenen Blatt Papier, dem sog. Mémorial, aufzuzeichnen versuchte. Er zog sich aus der Pariser Gesellschaft zurück, um völlig seiner Frömmigkeit zu leben. Sein einziger Verkehr waren nunmehr die jansenistischen „Einsiedler“ (solitaires), d.h. Gelehrte und Theologen, die sich im Umkreis des Hauptklosters von Port-Royal, Port-Royal des Champs bei Versailles, niedergelassen hatten und die er häufig dort für kürzer oder länger besuchte. Wohl 1655 führte er hier das legendäre Gespräch mit seinem neuen Beichtvater A. Le Maître de Sacy (Conversation avec M. de Saci sur Épictète et Montaigne'), worin er zwischen den beiden Polen der montaigneschen Skepsis und der stoischen Ethik Epiktets schon eine Skizze der Anthropologie entwirft, die er später in den Pensées entwickelte.

Zugleich begann er, im gelehrten Dialog mit den „solitaires“, insbes. Antoine Arnauld oder Pierre Nicole, religiös und theologisch motivierte Schriften zu verfassen. Nebenher beschäftigte er sich, wie immer, auch mit praktischen Fragen, so 1655 mit der Didaktik des Erstlesens für die Schule, die die „solitaires“ betrieben.

Bei seiner Bekehrung war er in eine Situation eingetreten, in der die orthodox frommen und rigoros moralischen Jansenisten den laxeren und konzilianteren, aber auch machtbewussten Jesuiten ein Ärgernis geworden waren. Als es 1655 zum offenen Streit kam, weil Arnauld als Jansenist aus der Pariser theologischen Fakultät, der Sorbonne, ausgeschlossen wurde, mischte Pascal sich 1656 ein, und zwar mit einer Serie anonymer satirisch-polemischer Broschüren, die wie eine Bombe einschlugen und 1657 in Holland als Buch gedruckt wurden unter dem Titel Provinciales, ou Lettres de Louis de Montalte à un provincial de ses amis et aux R.R. PP. Jésuites sur la morale et la politique de ces pères („Provinzler[briefe], oder Briefe von L. de M. an einen befreundeten Provinzler sowie an die Jesuiten über die Moral und die Politik dieser Patres“). Es sind 18 Briefe eines fiktiven Paris-Reisenden namens Montalte, von denen die ersten zehn an einen fiktiven Freund in der heimatlichen Provinz gerichtet sind, die nächsten sechs an die Pariser Jesuitenpatres insgesamt und die letzten beiden speziell an den jesuitischen Beichtvater des Königs. In diesen Briefen beschreibt Montalte zunächst in der Rolle eines theologisch unbeschlagenen und naiven jungen Adeligen, wie Jesuiten ihm altklug und herablassend ihre Theologie erklären. Später, nachdem er quasi seine Lektion gelernt hat, beginnt er mit ihnen zu diskutieren und so scharfsinnig wie witzig ihre Lehren zu zerpflücken. Pascal persiflierte und attackierte so die zwar gewissermaßen verbraucherfreundliche, aber tendenziell opportunistische und oft spitzfindige Theologie – die berühmte Kasuistik – der Jesuiten und entlarvte ihren sehr weltlichen Machthunger. Die Lettres provinciales hatten, obwohl sie nach der Nr. 5 verboten, bei Erscheinen der Buchausgabe auf den Index gesetzt und 1660 sogar vom Henker verbrannt wurden, großen und langandauernden Erfolg und bedeuteten längerfristig den Anfang vom Ende der Allmacht der Jesuiten, zumindest in Frankreich. Wegen ihrer Klarheit und Präzision gelten sie als ein Meisterwerk der franz. Prosa, das ihrem Autor einen Platz unter den Klassikern der franz. Literatur verschaffte.

Weniger bekannt wurden die vier bissigen Streitschriften, mit denen sich Pascal 1658 (neben Arnauld und Nicole) in eine Fehde zwischen jansenistisch orientierten Pariser Pfarrern und den Jesuiten einschaltete.

Kurzfristig behielten allerdings die Jesuiten mit Hilfe von König und Papst die Oberhand, was die nächsten Jahre Pascals verdüsterte. Denn während viele seiner Gesinnungsfreunde unter dem Druck der obrigkeitlichen Schikanen einknickten oder taktierten, blieb er unbeugsam.

In dieser Situation begann er 1658, systematischer an einer großen Apologie der christlichen Religion aus jansenistischer Sicht zu arbeiten, für die er sich 1656 erste Notizen gemacht hatte und deren Grundlinien in den 1657 verfassten, aber unvollendeten Écrits sur la grâce („Schriften über die Gnade“) zu finden sind, wo er die von den Jansenisten vertretene Form der augustinischen Gnadenlehre als Mitte zwischen der fast fatalistischen calvinistischen Prädestinationslehre und der optimistischen jesuitischen Gnadenlehre darstellt und dem freien Willen des Menschen die Entscheidung über sein Heil zugesteht. Ziel des neuen Werkes sollte es sein, atheistischen Freidenkern und Skeptikern aller Art die Prekarität der menschlichen Existenz zu Bewusstsein zu bringen und sie von der Richtigkeit und den Vorzügen der christlichen Religion zu überzeugen.

Mit der ohnehin schlechten Gesundheit Pascals ging es in diesen Jahren immer rascher bergab, sicher auch aufgrund seiner äußerst asketischen, ihn zusätzlich schwächenden Lebensweise. 1659 war er lange Wochen arbeitsunfähig; 1660 verbrachte er mehrere Monate als Rekonvaleszent auf einem Schlösschen seiner älteren Schwester und seines Schwagers bei Clermont.

Neben seiner Arbeit an den Pensées betrieb er immer wieder auch praktische Dinge. So beschäftigte er sich 1658 mit der Berechnung von Zykloiden (wie sie z.B. eine Roulettekugel beschreibt) und veranstaltete für die Lösung dieser Aufgabe, nachdem er selbst sie gefunden hatte, ein Preisausschreiben, was ihm viele (unzureichende) Vorschläge und eine heftige Polemik mit einem Unzufriedenen eintrug. 1659 war er Mitglied eines Komittees, das eine neue Bibelübersetzung zu initiieren versuchte. Anfang 1662 gründete er zusammen mit seinem Freund Roannez ein Droschkenunternehmen („les carosses à cinq sous – Groschenkutschen“), das den Beginn des öffentlichen Nahverkehrs in Paris markierte.

Im Juni erkrankte er schwer, ließ seinen immer noch recht ansehnlichen Hausstand zugunsten mildtätiger Zwecke verkaufen und zog sich in das Pariser Haus der Périers zurück. Hier verbrachte er seine letzten Wochen in absoluter Frömmigkeit. Er starb mit eben 39, nachdem Schwester Jacqueline schon ein Jahr zuvor verstorben war.

 

Die Pensées

Bekanntlich konnte Pascal aufgrund seines frühen Todes die geplante große Apologie nicht fertigstellen. Er hinterließ nur Notizen und Fragmente, rd. 1000 Zettel in rd. 60 Bündeln, auf deren Grundlage 1670 von jansenistischen Freunden eine Ausgabe unter dem Titel Pensées de M. Pascal sur la religion et sur quelques autres sujets („Gedanken [...] über die Religion und einige andere Themen“) besorgt wurde. Diese Erstausgabe ist verdienstvoll, weil sie - ungewöhnlich für die Epoche - ein unfertiges Werk gleichwohl zu publizieren und zugänglich zu machen versuchte. Sie ist aber problematisch insofern, als sie sich nicht am Originaltext orientierte, obwohl er als Autograph, wenn auch nur in Zettelform, erhalten war, sondern eine der beiden Abschriften benutzte, die die Périers kurz nach Pascals Tod von den Zettelbündeln hatten anfertigen lassen. Sie ist noch problematischer dadurch, dass sie das erhaltene Textmaterial nach unterschiedlichen Kriterien kürzte und, anders als die benutzte Abschrift, die die Anordnung der Zettel und Bündel weitgehend beibehalten hatte, eine eigene, plausibler erscheinende Ordnung der Fragmente einführte. Die Herausgeber des 18. und frühen 19. Jh., z.B. Condorcet (1776) oder Voltaire (1778), folgten dieser Praxis, meist unter nochmaligen Kürzungen und/oder weiteren Umstellungen.

Die Geschichte der modernen Ausgaben beginnt 1842 damit, dass der Philosoph Victor Cousin in einem Bericht an die Académie française auf die Notwendigkeit einer neuen Edition der Pensées gemäß den inzwischen entwickelten philologischen Prinzipien hinwies. Tatsächlich versuchte schon 1844 Prosper Faugère eine komplette Edition nach den originalen Zetteln Pascals, die jedoch auch er weitgehend frei nach inhaltlichen Kriterien zu Abschnitten und Unterabschnitten neu ordnete. Dieses Prinzip wurde fortgesetzt und vermeintlich jeweils perfektioniert von weiteren Herausgebern, deren bekanntester Léon Brunschvicg mit seiner Ausgabe von 1897 (2. Aufl. 1904) wurde.

Nach 1930 trennte sich die Forschung von dem etablierten Vorurteil, dass Pascals Zettel letztlich nicht geordnet gewesen seien. Vielmehr erkannte man, dass zumindest 27 Bündel (d.h. rd. 40% der Zettel) ebensovielen von Pascal intendierten Kapiteln entsprachen und durchaus eine interne Ordnung aufwiesen. Auch andere Bündel stellten sich als homogener und geordneter heraus als bis dahin gedacht, so dass man (insbes. Z. Tourneur und L. Lafuma) zu Editionen überging, die im Text den Autographen entsprechen und in der Anordnung weitgehend den beiden Abschriften, bzw. der besseren von ihnen, folgen (denn 1710/11 hatte Pascals Neffe Louis Périer in bester Absicht alle Zettel umsortiert und auf große Bögen geklebt). Gleichwohl sind auch die neueren Editionen nur hypothetische Annäherungen. Die Frage, wie das Werk aussähe, wenn Pascal es hätte vollenden können (und ob er es je hätte fertigstellen können), bleibt notwendig offen.

Die Pensées sind ein für die franz., aber auch die gesamte europäische Geistesgeschichte zentraler Text geworden. Fast alle Philosophen und Theologen von Rang, aber auch viele bedeutende Literaten haben sich sowohl zustimmend als auch ablehnend mit ihm beschäftigt.

(Stand: Mai 06)

Paul Pellisson (* 30.10.1624 in Béziers; † 7.2.1693 in Paris)

Obwohl selbst als Autor nicht allzu bedeutend, war Pellisson in den 1650er Jahren eine wichtige Figur im Pariser Literaturbetrieb.

Er stammte aus einer wohlhabenden protestantischen Familie und wuchs auf in Castres, wo sein Vater Richter war. Nach Schulbesuch in Castres und Montauban, einem Zentrum des südfranzösischen Protestantismus, studierte er Recht in Toulouse. 1645 erhielt er die Zulassung als Anwalt und ging nach Paris, wo er Anschluss fand an den ebenfalls protestantischen Literaten Valentin Conrart (s.o.), Gründungsmitglied der jungen Académie Française und ihr Sekretär auf Lebenszeit. Über ihn erlangte er Zutritt zum schöngeistigen „preziösen“ Salon der Marquise de Rambouillet, wo er u.a. die Autoren Gilles Ménage (s.o) und Madeleine de Scudéry (s.o.) kennen lernte. Die turbulentesten Phasen der 1648 beginnenden Fronde-Unruhen verbrachte er im heimatlichen Castres.

Zurück in Paris, kaufte er 1652 das adelnde, aber nicht sehr absorbierende Amt eines Königlichen Sekretärs (secrétaire du roi) und hatte die Idee, sich zum Historiografen der Académie zu machen. So publizierte er 1653 die Histoire de l’Académie française depuis son établissement jusqu’en 1652, eine dank seinem engen Kontakt zu Conrart wohlinformierte und -dokumentierte Geschichte der Gründungsphase der Institution. Die dankbaren Académiciens reservierten ihm den nächsten frei werdenden Sessel (den er im Folgejahr bekam) und erteilten ihm das nie zuvor und niemals danach vergebene Recht, bis dahin schon an ihren Sitzungen teilzunehmen.

Auch seine mondänen Aktivitäten nahm Pellisson nach 1652 wieder auf. So zählte er zu den Getreuen des schöngeistigen Salons der Scudéry, der die Nachfolge des Hôtel de Rambouillet angetreten hatte. Zweifellos nur platonisch, umschwärmte er die fleißige Romanautorin, die ihn ihrerseits verschlüsselt auftreten ließ in Gestalt des „Acante“ in Artamène, ou le grand Cyrus (1649-1653) und des „Herminius“ in Clélie, histoire romaine (1654-1660).

Aus dieser Zeit, d.h. den 1650er Jahren, stammen eine Reihe verstreut gedruckter Gedichte Pellissons im galanten Stil der Salons und andere kleinere Schriften. Von besonderem Interesse ist heute sein längeres Nachwort zu einer Ausgabe der Gedichte des früh verstorbenen Jean-François Sarrasin von 1656, wo er eine Theorie der galanten Poesie entwirft als einer Dichtung in einem zugleich kultivierten und natürlichen „mittleren“ Stil, wie er den „honnêtes gens“ in den Salons gemäß sei.

1657 stieß Pellisson zum Literaten- und Künstlerkreis um den mächtigen Finanzminister und großen Mäzen Nicolas Fouquet und wurde dessen Vertrauter, als der er z.B. die Sponsorengelder verwaltete und u.a. das Talent von Jean de La Fontaine (s.u.) erkannte und förderte.

Nachdem er 1659 nicht hatte verhindern können, dass der Satiriker Gilles Boileau (ein ältererer Bruder von Nicolas Boileau, s.u.), der seine Freunde Ménage und Scudéry verhöhnt hatte, in die Académie gewählt wurde, blieb Pellisson deren Sitzungen fern und erschien erst wieder nach dem frühen Tod Boileaus 1669.

Ebenfalls 1659 (nach Verkauf des Sekretärsamtes und mit Hilfe Fouquets?) erwarb er ein höheres Amt in der Finanzverwaltung in Montpellier und 1660 das Amt eines „Staatsrates“ (Conseiller d’État).

Das Jahr 1661 brachte einen tiefen Einschnitt. Zusammen mit anderen Getreuen geriet auch Pellisson in den Strudel, der um Fouquet entstand, als dieser unter dem Vorwurf der Bereicherung im Amt verhaftet und eingekerkert wurde. Denn als er mutig versuchte, seinen Gönner zu rechtfertigen mittels der Schriften Discours au roi, par un de ses fidèles sujets sur le procès de M. de Fouquet und Seconde défense de M. Fouquet, landete er selbst in der Bastille, aus der er erst 1666 freikam.

Hiernach fand er sichtlich Personen, die sich unter Hinweis auf seine Fähigkeiten als Geschichtsschreiber für ihn einsetzten, denn 1668 wurde er zum Königlichen Chronisten (historiographe du Roi) ernannt.

Hiernach hielt er es 1670 für geraten, zum Katholizismus zu konvertieren und sich wenig später sogar die (niederen?) Weihen erteilen zu lassen, wonach ihm Louis XIV einige einträgliche kirchliche Pfründen ohne Präsenzpflicht zuweisen ließ.

Pellisson bedankte sich mit einem Lobgedicht auf den König (1671), das angeblich in mehrere Sprachen übertragen wurde. 1676 hielt er im Namen der Académie eine Lobrede auf ihn, der gerade einige Erfolge im Krieg gegen die Niederlande erzielt hatte.

Im selben Jahr übergab er sein Chronistenamt an Jean Racine (s.u.) und Nicolas Boileau.

In seinen letzten Lebensjahren beteiligte er sich mit mehreren Schriften an den religiösen bzw. konfessionellen Kontroversen seiner Zeit.

Von Voltaire stammt das Diktum, Pellisson sei ein « poète médiocre à la vérité, mais homme très savant et éloquent » gewesen (ein eigentlich mittelmäßiger Dichter, aber ein sehr gelehrter und beredter Mann).

(Stand: Jan. 09)

Mme de Sévigné (*5.2.1626 Paris; †16.4.1696 Grignan/Dép. Drôme).

Sie gilt den Franzosen als ihre Briefschreiberin par excellence und ist auch den weniger gebildeten als historische Figur ein Begriff. Als Autorin zählt sie zum Kreis der Klassiker.

Sie wurde geboren als Marie de Rabutin-Chantal und war einziges überlebendes von drei Kindern eines Offiziers aus altem, aber etwas verarmtem burgundischen Adel und einer Mutter, die der reichen neuadeligen Bankiersfamilie de Coulanges entstammte. Mit anderthalb Jahren verlor sie ihren Vater in einem der religiös bedingten Bürgerkriege der Zeit und mit sieben auch die Mutter. Sie blieb zunächst im weltoffenen Pariser Haus der Großeltern Coulanges, wo sie seit ihrer Geburt gelebt hatte. Nachdem sie aber mit acht ihre Großmutter und mit zehn auch den Großvater verloren hatte, versuchten ihr Onkel und ihre Tante väterlicherseits sie, die reiche Erbin, in die Bourgogne zu holen und für ein Leben als Nonne oder als Gattin eines der Söhne der Tante zu bestimmen. Ihre andere Großmutter, Jeanne Françoise de Chantal (die später heilig gesprochene Mitgründerin des Nonnenordens der Visitation), setzte jedoch durch, dass sie in Paris blieb als Ziehkind in der Familie des ältesten Onkels mütterlicherseits, Philippe de Coulanges, und seiner Gattin Marie d’Ormesson, die aus dem hohen Pariser Amtsadel kam. Hier erhielt sie die übliche adelige Mädchenausbildung in Konversation, Singen, Tanzen und Reiten, lernte aber auch Italienisch, etwas Latein und Spanisch und konnte sich vor allem eine gute literarische Bildung aneignen. Früh auch wurde sie eingeführt in den Kreis von Literaten und geistig interessierten Adeligen um die Marquise de Rambouillet, das Zentrum der „Preziösen“. Zu ihren eifrigsten Förderern zählte ein weiterer, jüngerer, Onkel, der Abbé Christophe de Coulanges, der ihr eng verbunden blieb.

Nach einer trotz der Todesfälle um sie herum eher glücklichen Kindheit und Jugend im Kreis der vielköpfigen Coulanges-Sippe, ließ sie sich 1644, 18jährig und versehen mit der stattlichen Mitgift von 300.000 Francs, verheiraten, und zwar mit dem 21jährigen, aus altem bretonischen Adel stammenden Marquis Henri de Sévigné, einem Gefolgsmann des mächtigen Familien-Clans der Gondis. Diese stellten denn auch mit dem Erzbischof von Paris sowie dessen Koadjutor und designierten Nachfolger Paul de Gondi alias de Retz (s.o.) zwei der Zeugen des Ehevertrags.

Das junge Paar blieb zunächst in Paris und lebte dort auf großem Fuß. 1646 bekam es sein erstes Kind, Françoise Marguerite. Wenig später ging es in die Bretagne, wo Henri dank der Mitgift seiner Frau das Amt eines Gouverneurs gekauft hatte. Auf dem Familienschloss der Sévignés, Les Rochers bei Vitré, kam 1648 Sohn Charles zur Welt.

Nach der Geburt des Stammhalters erklärte Mme de Sévigné ihre ehelichen Pflichten für erfüllt und überließ ihren Mann seinen wechselnden Geliebten. Sie selbst ließ sich, sicher nur platonisch, von diversen Provinzadeligen und Schöngeistern anhimmeln und verfasste in diesem Rahmen Briefe und offenbar auch Verse.

1651 wurde ihr Mann in Paris bei einem Duell (es ging um die Ehre einer Geliebten) tödlich verletzt. Bei ihrem nachfolgenden längeren Aufenthalt in der Hauptstadt fand die junge Witwe Aufnahme bei Retz, der, soeben zum Kardinal erhoben, zu den Chefs des kurzzeitig erfolgreichen Adelsaufstandes der „Fronde“ (1648-52) gegen den Minister Kardinal Mazarin gehörte. Ihre Nähe zu Retz wurde jedoch schon bald zur Belastung, denn als dieser nach dem Sieg Mazarins 1652 zum Rädelsführer erklärt und festgenommen wurde, zählte sie zur Partei der Verlierer, ähnlich wie eine junge neue Freundin, die spätere Madame de La Fayette (s.u.), die darunter zu leiden hatte, dass ihr Stiefvater René de Sévigné (ein Onkel Henris) mit Verbannung bestraft word war.

Sie verzog sich in die Bretagne, kehrte aber schon 1653 zurück nach Paris, nunmehr für ständig. An eine neue Ehe dachte sie nicht, vielmehr genoss sie ihre relative Freiheit als vermögende Witwe. Ansehnlich und geistreich, wie sie war, scharte sie rasch einen Kreis z.T. hochgestellter Verehrer um sich, hielt sie aber klug auf Distanz. Vor allem erlangte sie als anregende Konversationspartnerin Wertschätzung in Salons und geistig interessierten Kreisen, z.B. dem um den Finanzminister und großen Mäzen Nicolas Fouquet, der sie umwarb und bei dem sie u.a. den Fabel-Dichter La Fontaine (s.o.) kennenlernte. Auch andere Literaten schwärmten sie an, z.B. der hochgeachtete Gilles Ménage (s.o.), den sie schon vom Hôtel de Rambouillet her kannte, oder Madeleine de Scudéry (s.o), in deren Salon sie verkehrte und die sie in ihrem Erfolgsroman Clélie (1657) sehr schmeichelhaft porträtierte. Eine wichtige Bezugsperson in diesen Jahren war ein etwas älterer Cousin, der Militär, Höfling und Literat Roger Bussy-Rabutin (1618-1693). Er wäre gern wohl auch ihr Geliebter geworden, brach jedoch 1658 für einige Zeit mit ihr, als sie sich weigerte, ihm eine größere Geldsumme zu leihen. Unbekannt ist, ob sie gelegentlich auch am Hof auftrat, was aufgrund ihres gesellschaftlichen Ranges und ihrer hochgestellten Freunde ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Ihre Mutterpflichten scheint sie eher nebenher erfüllt zu haben. Die Verwaltung ihrer Finanzen überließ sie ihrem Onkel Christophe de Coulanges, der inzwischen zum Abt des Klosters Livry bei Paris avanciert war, wo sie ihn häufig mit ihren Kindern besuchte.

Schon in diesen Jahren korrespondierte sie mit zahlreichen Personen, und früh genoß sie einen gewissen Ruf als Verfasserin interessanter und unterhaltsamer Briefe, die oft herumgezeigt, ganz oder auszugsweise vorgelesen sowie häufig abgeschrieben wurden.

Ein ihrer Briefpartner war auch Fouquet, weshalb sie kurz neue Schwierigkeiten befürchtete, als er im Herbst 1661 wegen Bereicherung im Amt verhaftet und angeklagt wurde. In der Tat wurden ihre Briefe an ihn dem jungen König Louis XIV vorgelegt. Doch der war angetan von ihnen, und statt die Schreiberin als eine von Fouquets Getreuen zu ächten, öffnete er ihr 1662 den Hof. Ihre Tochter Françoise durfte sogar mehrfach in Ballettaufführungen mit ihm tanzen, und beide Damen gehörten im Mai 1664 zu den Gästen des prächtigen Festes, mit dem der Park von Versailles eingeweiht wurde. In der Folgezeit jedoch lockerte sich die Verbindung Mme de Sévignés zu Louis, zunächst vielleicht, weil sie dessen Annäherungsversuche an Françoise blockiert hatte. Später bewirkten sicher auch ihre Kontakte mit ehemaligen Frondeuren (wie dem Duc de la Rochefoucauld, s.o.) und anderen regimekritischen, z.B. jansenistisch orientierten Adelskreisen eine gewisse Distanz zu dem zunehmend autoritären Monarchen. Dies hieß nicht, dass sie sich ihm und dem Hof gänzlich entfremdete, und 1689 war sie geschmeichelt, als Louis sie, wie sie in einem Brief stolz berichtet, nach einer Theateraufführung ansprach und um ihre Meinung fragte.

Die Briefe von Mme de Sévigné aus den 40er bis 60er Jahren sind überwiegend verloren. Eine Ausnahme bildet insbes. eine Briefserie von Ende 1664, worin sie einen in die Provinz verbannten anderen Getreuen Fouquets über dessen Prozess auf dem Laufenden hielt mittels der Informationen, die sie von einem der Richter bekam, Olivier d’Ormesson, einem Bruder ihrer Ziehmutter, den sie vielleicht sogar im Sinne einer Abmilderung des zunächst anvisierten Todesurteils beeinflussen konnte.

Eine tiefgreifende Wende in ihrer Rolle als Briefschreiberin brachte schließlich der Umstand, dass Tochter Françoise, die 1669 den schon zweimal verwitweten Comte François de Grignan geheiratet hatte, Anfang 1671 mit ihm in die Provence entschwand, wo er die Amtsgeschäfte des Gouverneurs übernahm. Hiernach nämlich begann Mme de Sévigné, neben ihren gelegentlichen Schreiben an sonstige Adressaten, regelmäßig zwei oder drei Briefe pro Woche an Françoise zu verfassen (ausgenommen natürlich die Zeiten, in denen man sich gegenseitig besuchte, entweder in Aix oder auf Schloss Grignan bei Montélimar bzw. umgekehrt in Paris, wo Mme de Sévigné, um ein einladendes Ambiente bieten zu können, 1677 das Hôtel de Carnavalet gemietet hatte, das heutige Paris-Museum).

Es ist das Korpus dieser Briefe an die Tochter, das mit 764 Stück wohl fast komplett erhalten ist, das das Bild der Autorin letztlich bestimmt hat, nämlich als Prototyp der liebenden Mutter und treusorgenden Großmutter. In diesen als ganz private Mitteilungen gedachten Texten versichert sie die Tochter immer wieder ihrer fast abgöttischen Liebe und wirbt um die Gegenliebe der ihrerseits etwas Spröden. Eher als Zutat, um nicht gar zu sehr in sie zu dringen und sie bei Laune zu halten, schildert sie effektvoll und lebendig, ungeschminkt und manchmal auch drastisch, oft mit einem Körnchen Selbstironie sowie Witz und Humor sowohl ihre wechselnden Befindlichkeiten und Erlebnisse, aber auch das, was sich in Paris oder anderswo, z.B. auf Schloss Les Rochers, auf Reisen und bei Kuraufenthalten, um sie herum tat und was als Reflex der großen Politik oder auch als Klatsch aus dem gemeinsamen adeligen Bekanntenkreis und vom Hof an ihre Ohren gelangte.

Im Laufe der Jahre entwickelte Mme de Sévigné ihre Briefkunst zu einer literarischen Gattung sui generis, deren Stil sie im Sinne des Anscheins größtmöglicher Leichtigkeit, Natürlichkeit und Spontaneität kunstvoll variierte und, zumal beim Schreiben an andere Adressaten, gelegentlich auch reflektierte. Trotz des keineswegs unbeträchtlichen Aufwandes an Zeit und Überlegung, den sie in die Briefe investierte, dachte sie selbst anscheinend nie daran, eine von ihr besorgte oder auch nur lizensierte Sammlung drucken zu lassen, was sich auch daran zeigt, dass sie keine Kopien anfertigte.

Der erste Abdruck von Briefen von ihr erfolgte denn auch erst nach ihrem Tod, und zwar im Rahmen von ebenfalls postum publizierten Werken von Cousin Bussy-Rabutin, nämlich seinen Memoiren (1696) sowie seiner Korrespondenz mit ihr (1697). Hierbei hielten Bussy selbst bzw. die Herausgeber, sein Sohn und seine Tochter, es für angebracht, die insgesamt 115 Briefe Mme de Sévignés zu kürzen und im Sinne eines konventionelleren, literarischer wirkenden Stils zu bearbeiten.

Dieselbe Kürzung, Glättung und Dämpfung meinten auch die Herausgeber der ersten Einzelausgaben vornehmen zu müssen, die übrigens auf der Basis von Abschriften erschienen. Es waren 1725 ein nicht sehr umfangreiches Bändchen mit historisch interessanten Briefen bzw. Briefauszügen und 1726 ein zweibändiger Raubdruck mit 137 Briefen an die Tochter, die von einer Enkelin aus dem Nachlass ihrer Mutter ausgewählt und zwecks Publikation an Bussy junior geschickt worden, jedoch in fremde Hände gefallen waren, als jener plötzlich starb.

1734 gab deshalb dieselbe Enkelin eine quasi offizielle Publikation aller ihr vorliegenden Briefe ihrer Großmutter in Auftrag. Hierbei stimmte sie mit dem Herausgeber, Denis-Marius Perrin, darin überein, dass allzu privat erscheinende Passagen getilgt werden sollten (womit wohl ungefähr ein Drittel der Textmenge fortfiel) und dass die Texte moralisch zu reinigen und stilistisch zu glätten seien. Die Originale sowie auch die bis dahin noch erhaltenen Antwortbriefe ihrer Mutter vernichtete sie. Die sechsbändige Sammlung, deren letzte beiden Bände 1737 kurz nach ihrem Tod erschienen, umfasste 614 Briefe. 1754 brachte Perrin eine vermehrte Neuauflage mit 722 Briefen heraus.

Spätere Editionen wurden, wie schon die von 1754, dadurch erweitert, dass man, nachdem Mme de Sévigné berühmt geworden war, systematisch in adeligen Nachlässen und Familienarchiven recherchierte. Hierbei fand man nicht nur an die 250 bis dahin unbekannte Briefe (darunter die o.g. Serie von Ende 1664), sondern man stieß immer wieder auch auf Abschriften oder Teilabschriften, deren Text dem jeweiligen Originaltext offenkundig näher war als schon im Druck erschienene Versionen derselben Briefe. Insgesamt beläuft sich die Zahl der erhaltenen Briefe auf rd. 1120, wobei nur ca. 5% als Autographen vorliegen. Der allergrößte Teil der an andere Adressaten als die Tochter gerichteten Briefe muss als verloren gelten, darunter ca. 600 Briefe, von denen man durch indirekte Informationen weiß.

Insgesamt sind von 1725 bis heute mehrere hundert Ausgaben Sévignéscher Briefe erschienen. Neben den als kritisch intendierten Gesamtausgaben von 1862-67 und 1972-78 handelt es sich um Auswahl-Editionen, deren Texte nach unterschiedlichen Kriterien in dieser oder jener Hinsicht bearbeitet, d.h. für ein bestimmtes Publikum, z.B. Jugendliche, aufbereitet sind.

Für historisch interessierte Leser sind die Briefe eine unschätzbare Informationsquelle über Personen aus dem Umfeld der Autorin sowie über den Alltag und die Vorstellungswelt des franz. Hochadels unter Louis XIV.

(Stand: Febr. 09)

Jacques Bénigne Bossuet (*27.9.1627 Dijon; †12.4.1704 Paris).

In Deutschland auch als Name kaum bekannt, gilt er in Frankreich als der Größte unter den franz. Kanzelrednern und zählt in der Literaturgeschichte zum Kernbestand der Klassiker.

Bossuet wuchs auf in einer bürgerlichen Richter-Familie, ließ sich aber früh für die Priesterlaufbahn bestimmen und erhielt mit neun die Tonsur. Seine Schulbildung erwarb er zunächst im Jesuiten-Kolleg von Dijon, dann im Collège de Navarre in Paris. Als Theologiestudent in Paris verkehrte er in einigen mondänen Salons und glänzte dort mit seiner Beredsamkeit (z.B. in einer zu vorgerückter Stunde improvisierten Predigt). Nach der Priesterweihe und dem Doktorat 1652 erhielt er eine Pfründe als Domherr im 1633 von Frankreich annektierten Metz, wo sein Vater ein Richteramt am neu gegründeten Parlement erhalten hatte. Hier tat er sich als Protestanten-Bekehrer hervor und publizierte 1655 seine erste Schrift: die gegen einen protestantischen Pfarrer, P. Ferri, gerichtete Réfutation [Widerlegung] du catéchisme de Paul Ferri. Daneben hielt er sich häufig in Paris auf und war dort Schüler des großen Predigers Saint Vincent de Paul (1576-1660).

Ab 1660 lebte er ganz in Paris und machte sich rasch einen Namen als Kanzelredner und Panegyriker (=Lobredner). 1662 durfte er im Louvre die Fastenpredigt halten vor Louis XIV und dem Hof. Hiernach war er in Mode, obwohl er sich nicht scheute, gelegentlich den jungen König zu mehr Sittenstrenge zu ermahnen oder die Reichen an ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Armen zu erinnern. Immer öfter wurde er auch gebeten, bei der Totenmesse für hochstehende Verstorbene eine Trauerrede zu halten, z.B. 1667 für Anne d'Autriche, die fromme Königin-Mutter, oder 1670 für Henriette d'Angleterre, die jung verstorbene Schwägerin von Louis XIV.

1669 wurde er zum Bischof der kleinen Diözese Condom in SW-Frankreich ernannt, die er aber von einem Stellvertreter verwalten lassen konnte. 1671 wurde er Mitglied der Académie Française, vor allem in seiner Eigenschaft als brillanter Redner.

Kurz zuvor (1670) war er zum Hauslehrer (précepteur) des Kronprinzen (Dauphin) Louis berufen worden (der aber 1711 vor seinem Vater Louis XIV starb, d.h. nicht auf den Thron kam). Für seinen königlichen Zögling, der als nicht eben bildungshungrig galt, verfasste er im Lauf seiner insgesamt 10 Präzeptor-Jahre eine Reihe von Traktaten: eine Exposition de la doctrine catholique, dann La Politique tirée des propres paroles de l'Écriture Sainte, d.h. ein Lehrbuch der Praxis des Königseins gemäß den Hinweisen, die Bossuet aus der Bibel entnehmen zu sollen glaubte; weiter den philosophisch-theologischen Traité de la connaissance de Dieu et de soi-même und vor allem den Discours sur l'histoire universelle (1681), eine kurzgefasste Geschichte der Welt, in der er als lenkende Kraft nicht so sehr materielle Ursachen und Wirkungen erkennt, als vielmehr den Willen Gottes zur Ausbreitung des Christentums. Der Discours ist einer der letzten Versuche, die Geschichte im christlichen Sinne teleologisch, d.h. auf ein höheres Ziel hin ausgerichtet, zu erklären.

1681, nach der Heirat seines Zöglings, wurde Bossuet zum Bischof von Meaux nahe Paris befördert. Obwohl er sein Amt vor Ort sehr ernst nahm, war er weiterhin oft in Paris und Versailles, beschäftigt u.a. mit Predigten und Trauerreden, z.B. 1687 beim Tod des zum Königshaus gehörenden Prince de Condé. 1689, nachdem er seine Rolle als Redner (vielleicht auch aus stimmlichen Gründen) für beendet erklärt hatte, erschien erstmals eine Auswahl seiner Reden im Druck. Sie prägte sein Bild in der Literaturgeschichte.

Bossuet war aber auch, dank seiner langen Nähe zum König und seiner intimen Kenntnis der Machtverhältnisse am Hof, sehr aktiv in der Politik im engeren und weiteren Sinne, wobei er direkt handelnd sowie mittels zahlreicher Schriften indirekt einzuwirken versuchte. Als Mitglied des Grand conseil de l'Église de France wuchs er zunehmend in die Rolle eines Primus der franz. Bischöfe hinein und wurde bekannt als streitbarer „aigle de Meaux“. Als dieser half er 1682 die Rechte Roms in Frankreich im Sinne nationaler Interessen einzuschränken, weshalb er auch den Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes ablehnte. Zugleich bekämpfte er an allen Fronten den Protestantismus, z.B. mit einer Histoire des variations des Églises protestantes (1688), worin er die notorisch divergenten und wechselnden Lehrmeinungen der protestantischen Kirchen und Sekten zu entkräften und gegen einander auszuspielen versucht, um die Einheitlichkeit der katholischen Lehre herauszustellen. 1685 war er nicht unbeteiligt daran, dass Louis XIV das Toleranzedikt von Nantes aufhob, mit dem sein Großvater Henri IV 1598 den Protestanten Religionsfreiheit und Bürgerrechte zugestanden hatte. 1687 stellte Bossuet sich in der Querelle des Anciens et des Modernes, einem von Charles Perrault (s.u.) ausgelösten, auch kulturpolitisch motivierten Literatenstreit auf die Seite der Traditionalisten unter Boileau (s.u.). Daneben zog er gegen den Jansenismus zu Felde und bekämpfte vor allem den mystisch frommen Quietismus, der um 1690 von Mme Guyon in Mode gebracht wurde und der im kriegsgeschüttelten, verarmenden und entsprechend evasionsbedürftigen Frankreich rasch Verbreitung und aktive Sympathisanten fand. Unter dem Vorwurf, er stütze den Quietismus, attackierte er auch einen anderen Bischof, Kronprinzen-Präzeptor und Autor, den er sichtlich als Rivalen empfand: Fénelon (s.u.).

1694 rügte er mit seinen Maximes et réflexions sur la comédie das angeblich die Sitten und die Seelen korrumpierende Theater und trug damit sein Teil bei zur relativen Erstarrung des geistigen Lebens in Frankreich unter dem alternden Louis XIV.

In seinen letzten Jahren musste er allerdings erleben, dass zahlreiche der von ihm bekämpften Strömungen stärker waren als er und weiterbestanden oder gar sich durchzusetzen begannen.

(Stand: Okt. 09)

Charles Perrault (* 21.1.1628 Paris; † 16.5.1703 ebd.).

Dieser sehr vielseitige und fruchtbare Autor ist heute praktisch nur dank seiner Märchen bekannt.

Perrault wuchs auf als jüngster von vier Brüdern in einer wohlhabenden Pariser Familie von Juristen und hohen Beamten, wo man, wie so häufig in diesem Milieu, dem frommen und rigiden Jansenismus nahestand. Er trieb Jurastudien und wurde 1651 als Anwalt zugelassen. Schon vorher hatte er begonnen zu schreiben, und zwar im gerade modischen Genre der Burleske. So hatte er 1648 eine Parodie von Vergils Æneis (L'Énéide burlesque) verfasst und 1649 die ebenfalls parodistische Vers-Satire Les murs de Troie ou L'Origine du burlesque, in der er sich über das aufständische Pariser Volk mokiert, mit dessen Revolte der Fronde-Aufstand 1648 begann, aber auch den Kardinal-Minister Mazarin nicht schont, der zunächst unterlag und abtreten musste. Schon in diesen Texten zeigt sich eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber der Antike.

1653, der Aufstand war beendet und Mazarin war wieder an der Macht, trat Perrault in die Dienste seines ältesten Bruders, der einen hohen Posten in der Finanzverwaltung der Krone bekleidete. Von ihm wurde er am Hof eingeführt. Dort und vor allem in Pariser Salons brillierte er als guter Unterhalter und vielseitiger Literat.

Hierbei fiel er dem älteren Literatenkollegen Jean Chapelain (s.o.) positiv auf und wurde von ihm dem neuen Minister Colbert empfohlen, der seit dem Tod Mazarins (1657) und dem Sturz des Finanzministers Fouquet (1661) als rechte Hand des jungen Louis XIV fungierte. Dank Colbert wurde Perault 1662 zum Sekretär der sog. Petite Académie ernannt, einer Art Prüfinstanz für alle Kunst- und Literaturwerke, die dem König zum Kauf angeboten wurden oder ihm gewidmet werden sollten. Wenig später wurde er so etwas wie ein oberster Kulturbeamter. Als solcher wachte er z.B. über die künstlerische Qualität der königlichen Bauvorhaben und war damit maßgeblich an Umbauten des Louvre sowie an der Planung und Erbauung des Versailler Schlosses beteiligt. Gegen 1670 übernahm er von Chapelain die Führung der Liste von Literaten, die Colbert und König Louis genehm waren und einer „Pension“ (jährl. Gratifikation) aus der königlichen Schatulle würdig schienen. 1671 wurde er mit Nachhilfe Colberts in die Académie Française gewählt und kurz darauf zu deren Sekretär bestellt.

Wenig später (1672) heiratete er, wurde rasch vierfacher Vater, aber bald auch (1678) Witwer.

Mit dem Tod Colberts 1683 verlor er seine Funktionen im Staatsdienst und wendete sich wieder mehr der Schriftstellerei zu. So verfasste er ein christliches Vers-Epos (Saint Paulin, évêque de Nole, 1686).

1687 verlas er in der Académie seinen Vers-Traktat Le Siècle de Louis le Grand. Hierin postulierte er, nicht ohne auf den Beifall des Königs zu schielen, die Überlegenheit der eigenen Epoche über die klassische Antike, die bis dahin rundherum als vorbildhaft und als kaum zu übertreffen galt. Er löste hiermit unerwartet die heftige „Querelle des Anciens et des Modernes“ aus, den wohl berühmtesten Literatenstreit der an querelles so reichen franz. Literaturgeschichte. Interessanterweise waren fast alle großen Autoren seiner Generation (z.B. La Fontaine, Bossuet, Racine und vor allem Boileau) zunächst vehement gegen die These, dass die Neuzeit sich in den Künsten und der Wissenschaft mit der Antike nicht nur messen könne, sondern diese inzwischen überflügelt habe.

Perrault warb deshalb weiter für seine Position mittels der Dialogserie Parallèles des Anciens et des Modernes (4 Bde., 1688-97) sowie mit einer Serie von Porträts bedeutender Zeitgenossen (Les hommes illustres qui ont paru en France pendant ce siècle, 4 Bde. 1696-1700). Allerdings arbeitete auch die Zeit in seinem Sinne: gegen 1700 war die Vorstellung von der Gleichwertigkeit, wenn nicht Überlegenheit der Moderne praktisch Allgemeingut geworden. Schon 1694 war sie vorsichtig auch von Boileau akzeptiert worden, der sich demonstrativ mit Perrault versöhnte.

1694 veröffentlichte dieser die drei märchenartigen Vers-Erzählungen La Patience de Grisélidis, Peau d'Âne und Les souhaits ridicules, die gut einschlugen und die er 1695 mit einem längeren Vorwort neu auflegte. Nach diesem Erfolg publizierte er 1697 anonym, bzw. unter dem Namen seines 19jährigen dritten Sohnes Pierre, den er die vorangestellte Widmung an eine hochstehende Dame zeichnen ließ, die Märchensammlung Histoires ou contes du temps passé. Contes de ma mère l'oie (=Geschichten oder Erzählungen der Vergangenheit. Erzählungen meiner Mutter Gans). Es sind 8 Märchen teils volkstümlichen, teils literarischen Ursprungs, die Perrault in kunstvoll-schlichter, leicht archiisierender Prosa erzählt und jeweils am Schluss mit einer ironischen Moral (manchmal auch zwei divergierenden) in Versen witzig kommentiert. Seine immer wieder nachgedruckte Sammlung bedeutete den Durchbruch einer anschließend sehr erfolgreichen Gattung, der contes de fées, d.h. Märchen.

Vielleicht hatte Perrault die Märchen deshalb nicht mit eigenem Namen zeichnen wollen, weil er im selben Jahr 97 erneut ein religiöses Epos publizierte, Adam ou La Création de l'homme.

1701 begann er mit der Abfassung von Memoiren, die aber erst postum (1755) gedruckt wurden.

Sechs seiner Märchen figurieren übrigens (ohne ironisch-witzige Moral natürlich und auch sonst leicht oder stärker verändert) in den vermeintlich so typisch deutschen Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Es sind La Belle au bois dormant als Dornröschen, Le petit Chaperon rouge als Rotkäppchen, Le Chat botté als Der Gestiefelte Kater, Les fées als Frau Holle, Cendrillon als Aschenputtel und Le petit poucet als Der Kleine Däumling. Ein siebtes, La Barbe bleue, ist dank Ludwig Bechstein als König Blaubart in Deutschland bekannt; das achte, Riquet à la houppe (= R. mit dem Wuschelhaar), ist bei uns nicht heimisch geworden – vielleicht bezeichnenderweise, denn die Vorstellung, dass ein hässlicher junger Mann und eine unscheinbare junge Frau dennoch, dank ihrer Fähigkeit zum geistreichen Parlieren, Anerkennung finden können, wirkt hierzulande eher fremd.

(Stand: Nov. 09)

Marie-Madeleine, comtesse de La Fayette (* 18.3.1634 in Paris; † 26.5.1693 ebd.).

Diese in den Literaturgeschichten schlicht „Mme de La Fayette“ genannte Autorin ist Verfasserin des wohl besten franz. Romans des 17. Jh.

Ihr Vater, der aus dem Amtsadel stammende Marc Pioche, Seigneur de La Vergne, war Offizier und Ingenieur für Festungsbau gewesen, 1622 aber aufgrund seiner Bildung und seiner vielseitigen Interessen Erzieher eines Neffen von Père Joseph geworden, der rechten Hand von Kardinal Richelieu. 1630 war er von diesem selbst als Erzieher eines Neffen eingestellt worden. Er war schon kinderlos verwitwet, als er im Palais des Kardinals seine zweite Frau kennenlernte, die aus ähnlichen Verhältnissen wie er stammende Isabelle Péna, mit der er rasch drei Töchter bekam.

ObwohI ihr Vater in den 1640er Jahren erfolgreich seine Offizierskarriere weiterführte und häufig abwesend war, lernte Marie-Madeleine, die älteste, in seinem neuerbauten Pariser Haus früh zahlreiche Intellektuelle kennen. Über ihn auch gelangte sie schon als junges Mädchen in die schöngeistigen „preziösen“ Salons der Marquise de Rambouillet und, etwas später, der Romanautorin Mlle de Scudéry (s.o.). Hierbei blieb ihr wacher Intellekt und ihr Talent, Beziehungen zu knüpfen, nicht unbemerkt. Inbes. fiel sie dem älteren Literaten Gilles Ménage auf (s.o.), der sie umschwärmte und bedichtete, ihr Latein und ihr Italienisch verbesserte und sie mit den neuesten Büchern versorgte.

1649 starb ihr Vater. Ihre Mutter heiratete schon 1650 wieder, und zwar einen aus altem Adel stammenden Chevalier de Sévigné, den die sechzehnjährige Marie-Madeleine zunächst für ihren eigenen Zukünftigen gehalten hatte. Über ihn lernte sie seine 25jährige angeheiratete Nichte näher kennen, die Marquise de Sévigné (s.o.) -  eine Freundschaft, die stets von einer gewissen Rivalität geprägt blieb.

Während sie selbst dank ihrer hochadeligen Taufpatin, einer Nichte Richelieus, zur Ehrenjungfer (demoiselle d'honneur) der Königin befördert wurde und so gelegentlich am Hof auftrat, machte ihr Stiefvater, ein Parteigänger des Kardinals de Retz (s.o.) ihr elterliches Haus zu einem Treffpunkt der oppositionellen „Frondeure“, die seit 1648 einen z.T. bewaffneten Widerstand betrieben gegen die Versuche von Kardinal-Minister Mazarin, Frankreich weiter zu zentralisieren und den Adel weiter zu entmachten.

1652, nach der Niederlage der Fronde, wurde Sévigné ins Anjou verbannt. Dies war ein Schicksalsschlag für die 18jährige Marie-Madeleine, für die als Stieftochter eines Verbannten nun kaum eine gute Partie zu finden war. Drei Jahre später (1655) ließ sie sich deshalb von einer aus altem Adel stammenden Pariser Nonne, von der sie geschätzt wurde, an deren Bruder vermitteln, den 18 Jahre älteren, verwitweten und hochverschuldeten Comte de La Fayette. Ihre Heirat - immerhin in den Grafenstand – war nicht billig: die erforderliche Mitgift war nur dadurch aufzubringen, dass ihre energische Mutter die beiden jüngeren Schwestern für den kostengünstigeren Eintritt ins Kloster bestimmte.

Nach der Hochzeit folgte sie ihrem Mann auf seine Güter in der Provinz. Da dort eine erste Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt geendet hatte, reiste sie gegen Ende der nächsten nach Paris. Hier brachte sie 1658 ihr erstes Kind zur Welt, einen Sohn. Ihm folgte 1659 ein weiterer, ebenfalls in Paris, wo sie nun überwiegend wieder lebte, und zwar im elterlichen Haus, das sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter (1656) geerbt hatte.

Während ihr Mann die Güter der Familie profitabel zu bewirtschaften versuchte, hatte Mme de La Fayette gleich nach der Heirat den juristischen Kampf gegen seine Gläubiger übernommen, den sie mit Energie und zunehmender Kompetenz führte. Hierbei hatte sie zunächst ihren alten Verehrer Ménage als ihren Beauftragten eingesetzt, den sie brieflich instruierte. Ab 1658/59 kämpfte sie selber vor Ort in Paris, wo sie geschickt die ihr von früher verbliebenen Beziehungen reaktivierte und neue knüpfte. Insbes. pflegte sie ihre Bekanntschaft mit Henriette d'Angleterre, der im Kloster ihrer Schwägerin aufgewachsenen Tochter des 1649 geköpften englischen Königs Charles I, die den Bruder von Louis XIV heiratete. Über Mme de Sévigné versuchte sie auch den mächtigen Finanzminister Fouquet für ihre Sache zu interessieren.

Mehr nebenbei debütierte sie 1659 als Autorin mit einem Porträt Mme de Sévignés für einen Sammelband, den zwei etwas ältere Literaten, Pierre Daniel Huet und Jean Regnault de Segrais vorbereiteten. Vielleicht angeregt von ihnen, sicher aber mit der Unterstützung von Ménage schrieb sie 1661 eine historische Novelle, La Princesse de Montpensier, die sie 1662 anonym erscheinen ließ, denn eigentlich hielt sie das Schriftstellern für unter der Würde der Gräfin, die sie ja war. Wohl aus derselben Zeit stammt eine zweite historische Novelle, La Comtesse de Tende, die aber erst postum 1724 erschien. Beide behandeln das Thema der großen, aber problematischen und letztlich unglücklichen außerehelichen Liebe einer Frau, die in einer Konventionalehe verheiratetet ist – ein Thema, das Mme de La Fayette auch weiter interessieren sollte.

Hiernach ließ sie die Feder ruhen, schloss mit Erfolg ihre juristischen Demarchen ab (wonach sie, auf den Geschmack gekommen, gelegentlich Freunde bei deren Prozessen beriet) und genoss das prickelnde gesellschaftliche und geistige Leben, das Paris in den 1660er Jahren bot. Denn es war eine Zeit des Aufbruchs unter dem jungen Louis XIV und seinem neuen Minister Colbert, der Theatererfolge z.B. Molières und des jungen Racine, aber auch der heftigen ideologischen Querelen zwischen „Molinisten“ (Parteigängern der Jesuiten) und Jansenisten.

Von Henriette 1661 zu ihrer Ehrendame (dame d'honneur) ernannt und wohlgelitten auch beim König selbst, hatte Mme de La Fayette ab 1661 Zutritt zum Hof. Zugleich verkehrte jedoch sie in Kreisen der fundamental-oppositionellen, streng-religiösen Jansenisten. Hier lernte sie 1662 den 21 Jahre älteren schriftstellernden Duc de La Rochefoucauld kennen (s.o.), der ihre spontane Sympathie nur zögernd erwiderte, dann aber ihr engster Freund wurde – zweifellos ohne ihr Liebhaber zu sein.

1668/69 verfasste sie, unterstützt von Segrais, Huet und La Rochefoucauld, einen erneut um die Probleme der Liebe kreisenden, im Spanien des 9. Jh. angesiedelten Roman, Zaïde, dessen 2 Bde 1670/71 unter dem Namen von Segrais erschienen. Literarhistorisch bedeutsam wurde Zaïde auch dank eines Traité de l'origine des romans, den Huet als Vorspann beisteuerte und der als eine der ersten Theorien des Romans gilt.

1669 begann sie im Auftrag Henriettes eine Histoire de Madame, die allerdings, da Henriette 1670 mit 26 starb, unvollendet blieb und erst postum 1720 als Histoire d'Henriette d'Angleterre gedruckt wurde.

Ab 1672 schrieb Mme de Lafayette, wie gewohnt mit Unterstützung, diesmal von Segrais und La Rochefoucauld, an ihrem rückblickend wichtigsten Werk, dem eher kurzen historischen Roman La Princesse de Clèves (=die Fürstin von Kleve), der anonym 1678 erschien. Die Handlung spielt gegen 1560 am Hof von Henri II (dessen Beschreibung sich am Hof von Louis XIV orientiert) und sie dreht sich um die große Liebe der jungverheirateten Princesse zu dem Duc de Nemours, der sie ebenfalls liebt, den sie aber aus Sittenstrenge und aus Treue zu ihrem Gatten (der trotzdem eifersüchtig und todkrank wird, als sie ihm ihre Liebe beichtet) nicht erhört und den sie auch dann nicht heiratet, als sie dies nach ihrer Verwitwung eigentlich könnte, wobei sie ihm als Grund nennt, dass sie ihn liebe und nicht durch seine mutmaßliche spätere Untreue enttäuscht werden möchte, dass sie vor allem aber ihren inzwischen gefundenen Seelenfrieden nicht gefährden wolle.

Der psychologisch einfühlsame und (bis auf Anfang und Ende) spannende Roman war sofort ein großer Erfolg und löste heftige Diskussionen aus, vor allem darüber, ob eine Frau gut tut, dem Ehemann eine Liebschaft zu beichten. Heute gilt er als einer der besten franz. Romane überhaupt, auch wenn der jansenistisch kompromisslose Schluss, wonach der Mensch eher auf irdisches Glück als auf sein Seelenheil verzichten soll, modernen Lesern wenig akzeptabel erscheint.

Der Tod des schon länger stark gichtkranken La Rochefoucauld 1680 bedeutete einen tiefen Einschnitt für Mme de La Fayette, zumal sie selbst seit langem kränkelte. Sie führte jedoch, da sie 1656 durch das Erbe ihrer Mutter, 1676 das ihres Stiefvaters und 1683 auch das ihres Mannes wohlhabend geworden war, ein für Standesgenossen und Intellektuelle offenes Haus. Auch verkehrte sie weiterhin am Hof, wo sie immer noch die Gunst des Königs besaß. Daneben kümmerte sie sich um die Zukunft ihrer Söhne, indem sie dem älteren, der Mönch geworden war, mehrere Abt-Posten (die man kumulieren konnte) verschaffte und dem jüngeren, der Offizier geworden war, zu einem Regiment verhalf sowie zu einer vorzüglichen Partie.

Gegen 1680 aktivierte sie als Vertraute des Ministers Louvois ihre Korrespondenz mit der Mutter des jugendlichen Herzogs von Savoyen-Piemont, die sie einst im Kloster ihrer Schwägerin kennen gelernt hatte und die seit 1675 als Regentin die Regierungsgeschäfte in Turin führte. Hierbei diente sie einerseits privaten Belangen der Herzogin in Paris, vor allem aber den außenpolitischen Interessen Frankreichs, das das damals politisch selbständige Savoyen-Piemont zu einem Satellitenstaat zu machen, wenn nicht gar zu annektieren hoffte.

Das letzte Werk Mme de La Fayettes wurden die nur fragmentarisch erhaltenen, 1720 postum gedruckten Mémoires de la cour de France pour les années 1688 et 1689, in denen sie nicht nur das Hofleben beschreibt, sondern auch mit scharfem Blick politische und militärische Probleme analysiert. Hiernach zog sie sich vom Hof zurück, zumal sie 1690 auch ihre diplomatische Mission als gescheitert betrachten musste, weil der in Turin nun selbst regierende junge Herzog dem Bündnis gegen Frankreich beitrat.

Zunehmend kränklich erlebte sie noch, dass sie Großmutter wurde, aber nicht mehr, dass ihr jüngerer Sohn mit 35 in der von den Franzosen gehaltenen Festung Landau/Pfalz einer Krankheit erlag.

(Stand: Nov. 09)

Nicolas Boileau alias Despréaux oder Boileau-Despréaux (*1.11.1636 ; †13.5.1711).

Nachdem er lange uneingeschränkt zu den großen Klassikern gerechnet wurde, gilt Boileau (wie er in den Literaturgeschichten meistens heißt) heute eher nur als wichtige Figur in der Entwicklung der franz. Literatur. Hierzulande war und ist er in seiner Eigenschaft als sehr spezifisch französischer, wenn nicht Pariser Autor wenig bekannt.

Er wurde geboren als insgesamt fünfzehntes Kind (aus der zweiten Ehe) seines Vaters, eines bürgerlichen, wenn auch stolz auf adelige Vorfahren verweisenden Pariser Juristen. Mit anderthalb verlor er seine Mutter. Er war ein kränklicher Junge, den eine ungeschickte Entfernung von Steinen aus der Blase zudem der „Gaben der Natur“ beraubte. So ließ er sich noch vor Ende seiner Schulzeit im Collège de Beauvais (das, wie auch das vorher von ihm besuchte Collège d'Harcourt, dem Jansenismus nahestand) die niederen Weihen erteilen. Nach kurzen Theologiestudien, sattelte er 1652 jedoch um auf Jura und erhielt 1656 die Zulassung als Anwalt.

1657 starb sein Vater; Boileau erbte und war auf keinen Broterwerb mehr angewiesen. Da er schon seit längerem Verse machte, verlegte er sich nun ganz auf die Literatur und ließ sich von seinem fünf Jahre älteren Bruder Gilles, der ebenfalls schriftstellerte (und 1659, mit 28, in die Académie Française aufgenommen wurde, aber schon mit 38 starb), in literarisch interessierte Zirkel einführen. Hier lernte er so gut wie alle Pariser Autoren der Zeit kennen, d.h. der Jahre auf die man später den Beginn der Klassik datieren wird. Er mischte mit in ihren Querelen und befreundete sich u.a. mit drei angehenden Erfolgsautoren, den rd. 15 Jahre älteren La Fontaine (s.o.) und Molière (s.o.) und vor allem dem wenig jüngeren Racine (s.u.).

Er selbst debütierte 1661, unter dem ihn von Bruder Gilles unterscheidenden Namen Despréaux, mit einer so witzigen wie spöttischen Verssatire, der er in den nächsten sieben Jahren acht weitere folgen ließ. Gegenstand dieser Texte, in denen er sich an antike (Horaz und Juvenal) und zeitgenössische Vorbilder (u.a. Bruder Gilles) anlehnte, war vor allem die Welt der Pariser Salons und der sie frequentierenden Schöngeister und Literaten, deren Manien und Eitelkeiten er, bei literarischen Gegnern durchaus unter Namensnennung, sezierte und karikierte. Nur in Satire VI (Les embarras de Paris, 1664), die drastisch und humorvoll die Misshelligkeiten des Alltags im lärmerfüllten, dreckigen und übervölkerten Paris der Zeit darstellt, gestaltet er ein realeres Sujet. Angesichts seiner Erfolge als Vortragskünstler, der in Abendgesellschaften seine Texte effektvoll und ständig aktualisiert darzubieten verstand, unterließ Boileau es lange Zeit, sie drucken zu lassen. Als 1666 ein Raubdruck mit sechs Satiren erschien, erklärte er ihn empört für nicht authentisch.

1668, nach Satire IX (der erst 1692, 1698 und 1705 noch drei weitere folgten), versuchte er, sein Image als Enfant terrible des Pariser Literaturbetriebs abzustreifen, und wechselte von der agressiven Satire zu moralisierenden und philosophierenden Versepisteln (épîtres). In der ersten verherrlichte er Louis XIV, der gerade im sog. Devolutionskrieg gegen die spanische Krone die Franche Comté besetzen und Teile Flanderns erobern lassen hatte. 1669 durfte er dem König die Epistel vortragen. Er erhielt die hübsche Pension von 2000 Livres jährlich zugewiesen und reihte sich ein in den Kreis der quasi staatstragenden Literaten, die sich um Minister Colbert scharten.

Seine kritische Beschäftigung mit Autoren der Zeit hatte ihn immer wieder auch zu grundsätzlicheren Überlegungen geführt, bei denen die Poetik des klassisch-lateinischen Dichters Horaz (1. Jh. v. Chr.) ein wichtiger Bezugspunkt für ihn war. Darüber hinaus hatte er im Nachlass seines 1669 verstorbenen Bruders Gilles eine von diesem begonnene Übertragung einer anderen antiken Poetik, des sog. Pseudo-Longinus (1. Jh. n. Chr.), gefunden und sie als Traité sur le sublime fertiggestellt (publiziert 1674). Aus diesen literartheoretischen Interessen ging 1669-1674 eine als Versepistel in vier „Gesängen“ verfasste Poetik hervor: L'Art poétique. Hierin definiert Boileau die Rolle und Aufgabe des Autors, fordert die Einhaltung allgemeiner Vorgaben wie „vraisemblance“ (Realitätsadäquatheit) oder „bienséance“ (moralische Akzeptierbarkeit) und kodifiziert die diversen lyrischen und dramatischen Genera sowie das Epos. Den Roman berücksichtigt er nicht, ihn hatte er schon 1668 in seinem Dialogue des héros de roman als unseriös verworfen. Boileau hatte Glück mit seinem Art poétique: Dank des langandauernden Erfolgs der Autoren, gemäß deren Dichtungspraxis er seine Theorien formulierte (u.a. der befreundeten La Fontaine, Molière und vor allem Racine), wurde sein Werk auch selbst zu einem maßgeblichen, „klassischen“ Text.

1674 ließ er unter dem Titel Œuvres diverses du sieur D*** eine Werkgabe drucken. Sie enthielt neben dem kürzlich vollendeten Art poétique die neun fertigen (nachträglich wohl etwas abgemilderten) Satiren, vier Episteln sowie die „Gesänge“ I-IV eines noch nicht abgeschlossenen „heroisch-komischen“ Epos, Le Lutrin (=das Notenpult), worin er in Gestalt einer burlesken Epenparodie die ihm wohlbekannte Welt der Pariser Stiftsherren karikiert.

Hinfort verwaltete er, nicht mehr viel schreibend, geschickt seine Position als anerkannter Sachwalter des guten literarischen Geschmacks und verkehrte, den angeblichen Adel seiner Familie herauskehrend, in besten Pariser Kreisen sowie auch am Hof. 1676 wurde er zusammen mit Racine sogar zum Historiographe du roi ernannt, d.h. zum offiziellen Chronisten vor allem der inzwischen zahlreichen Feldzüge von König Louis, auf denen sie ihn, der anfangs selbst gern mitzog, unbequem begleiten mussten. Seine und Racines Aufzeichnungen gingen später allerdings bei einem Brand verloren.

1683 publizierte Boileau eine um vier Episteln und die letzten zwei Gesänge des Lutrin vermehrte zweite Werkausgabe. 1684 wurde er, nicht ohne etwas Nachhilfe von Louis (denn natürlich hatte er viele Literatenkollegen mit seinen Satiren verärgert), in die Académie Française gewählt. Der Erwerb eines Landhauses bei Auteuil konsekrierte seine erfreuliche Situation.

Als 1687 Charles Perrault (s.o.) in der Académie seinen Vers-Traktat Le Siècle de Louis le Grand vorlas, worin er, die Überlegenheit seiner eigenen Epoche über die bis dahin in Allem als vorbildhaft geltende klassische Antike postulierte, war Boileau Wortführer der Traditionalisten, die Perrault attackierten und damit den berühmten Literatenstreit „La Querelle des Anciens et des Modernes“ auslösten. Allerdings schwenkte er wenig später, da die Zeit ganz offensichtlich für Perrault und dessen These arbeitete, langsam um und versöhnte sich 1794 öffentlich mit ihm.

Zu einem kleineren Schlagabtausch unter seinen Gesinnungsgenossen und Gegnern führte 1692 seine frauenfeindliche Satire XI, in der er, der mit Impotenz Geschlagene, wohl auch persönliche Ressentiments verarbeitet hatte.

Nachdem er sich, ähnlich wie Racine, in den späten 80er und den 90er Jahren erst heimlich und dann offen dem rigoristisch-frommen Jansenismus seiner Jugend wieder angenähert hatte, zog er sich mehr und mehr in seine kleine Wohnung im Stift von Notre-Dame zurück, wo er schon seit vielen Jahren lebte. Die Veröffentlichung seiner letzten Verssatire, in der er indirekt die Jesuiten, jene Intimfeinde der Jansenisten, angriff, wurde ihm 1705 vom König untersagt. Boileau starb, schon seit längerem krank und eher verbittert, einige Jahre vor seinem Ex-Protektor und ungefähren Altersgenossen Louis XIV (1638-1715).

(Stand: Juni 08)

Jean Racine (*21.12.1639 Ferté-Milon/Champagne; †21.4.1699 Paris).

Er gilt den Franzosen als einer ihrer großen Klassiker und speziell als ihr – neben oder sogar vor Corneille – größter Tragödienautor. Zusammen mit dem Letzteren und Molière wird er traditionell als ein Dreigestirn großer Dramatiker gesehen.

Er wurde geboren als erstes Kind eines dem niederen Amtsadel angehörenden königlichen Salzsteuer-Beamten. Auch seine Mutter stammte aus diesen Kreisen, doch verlor Racine sie als Zweijähriger bei bei der Geburt einer Schwester. Mit gut drei verlor er auch seinen Vater (der sich kurz zuvor wiederverheiratet hatte) und wurde von den Großeltern mütterlicherseits in Pflege genommen, wogegen die Schwester zu den anderen Großeltern kam. Als der Großvater 1649 starb, zog sich die Großmutter in das jansenistisch orientierte Kloster Port-Royal des Champs (ca. 10 km südwestlich von Versailles) zurück und gab ihren Enkel in die kleine, aber vorzügliche Schule, die von namhaften jansenistischen Theologen und Gelehrten betrieben wurde, die sich als asketische „solitaires“ (=Einsiedler) um das Kloster herum angesiedelt hatten.

Sicherlich traumatisiert durch den sukzessiven Verlust fast aller Bezugspersonen, fand Racine in der Schule ein gewisses Zuhause und erwarb solide Latein- sowie (was damals eher die Ausnahme war) Griechischkenntnisse. 1653/54 absolvierte er das „rhétorique“ heißende Schuljahr als Internatsschüler im jansenistisch ausgerichteten Pariser Collège de Beauvais. 1655, mit 15, kam er zurück nach Port-Royal, wo er wieder bei den Jansenisten lernte. Zwar wurde er tief von ihrer fundamentalistischen Frömmigkeit geprägt, doch las er zugleich klassische lateinische und griechische Theaterstücke, und zwar sowohl im Original als auch in moralisch und religiös „gereinigten“ französischen Übertragungen, die einer seiner Lehrer verfasste, Isaac Lemaistre de Sacy. Daneben begann er zu schreiben: Oden auf die Natur um Port-Royal, aber auch fromme Verse, z.T. auf Latein.

Ab 1656 wurde er Zeuge der Schikanierung der Jansenisten durch die Staatsgewalt und ihre Verbündeten, die Jesuiten, und wurde 1658 von der Schließung der Schule von Port-Royal betroffen. Er wechselte nach Paris auf das jansenistische Collège d'Harcourt, wo er seine Schulzeit mit der „philosophie“-Klasse abschloss (1659).

Hiernach fand er, knapp 20jährig, Aufnahme bei einem Verwandten, der im Stadtpalast einer Herzogsfamilie lebte und als „intendant“ deren Haus, Liegenschaften und Geld verwaltete. Von ihm wurde er in einige schöngeistige Zirkel eingeführt, wo er u.a. den späteren Fabeldichter Jean de La Fontaine (s.o.) kennenlernte, einen entfernten Verwandten. Zum Vortrag in diesem Ambiente und im allgemeinen Stimmungshoch nach dem Ende des langen Krieges mit Spanien (1659) verfasste Racine allerlei Gelegenheitsgedichte, darunter diverse galante. Auch die Welt des Theaters, das nach dem Friedensschluss einen starken Aufschwung nahm, erfuhr er nun als Realität und versuchte sich an einem ersten Stück, der Tragödie oder Tragikomödie Amasie (oder Amasis?), die jedoch nicht angenommen wurde und verloren ist. Hiernach scheint er ein Stück um die Figur des römischen Dichters Ovid begonnen zu haben, stellte es aber, vielleicht wegen einer längeren Krankheit, nicht fertig.

1660 fiel er dem einflussreichen Autor Jean Chapelain (s.o.) positiv auf mit der Ode La Nymphe de la Seine à la Reine, wo er in der Rolle einer fiktiven Seine-Nymphe die Ankunft der spanischen Prinzessin Maria-Teresa und ihre Hochzeit mit Louis XIV besingt. Auf Vorschlag Chapelains erhielt er die beachtliche Gratifikation von 100 Goldstücken (2400 Francs) aus der Schatulle des Königs.

Insgesamt war er angetan von seiner mondänen Existenz in Paris und schien dem strengen Jansenismus den Rücken zu kehren. Seine Verwandten und seine Lehrer waren allerdings entsetzt über über diese unfromme Entwicklung. 1661 drängten sie ihn, nach Uzès in Südfrankreich zu einem Bruder seiner Mutter zu gehen, der Stellvertreter des dortigen Bischofs war. Hier sollte er sich auf den Empfang zumindest der niederen Weihen vorbereiten, damit man ihm anschließend eine kirchliche Pfründe verschaffen konnte, die ihn, die mittellose Waise, für den Rest seines Lebens versorgte.

In Uzès jedoch, wo er sich pflichtgemäß mit Theologie befasste, aber wie im Exil fühlte, wurde Racine sich endgültig seiner dramaturgischen Ambitionen bewusst. Er ließ sich brieflich durch Pariser Bekannte auf dem Laufenden halten und begann offenbar ein Stück nach dem Liebes- und Abenteuer-Roman Äthiopica von Heliodor (3. Jh. n. Chr.), d.h. der Geschichte von Theagenes und der schönen Chariklea, die in Frankreich in der vielgelesenen Übertragung von Jacques Amyot (s.o.) bekannt war. Doch scheint er über das Anfangsstadium nicht hinaus gekommen zu sein.

1663 brach er seinen Aufenthalt in Uzès ab, kehrte zurück nach Paris und versuchte, seine Kontakte wiederzubeleben und neue zu knüpfen. Hierbei schloss er Freundschaft mit dem wenig älteren Nicolas Boileau (s.o) und lernte u.a. Molière (s.o.) kennen. Seine panegyrische Ode sur la convalescence [=die Genesung] du Roi brachte ihm erneut den Beifall Chapelains, der ihm eine königliche Pension von jährlich 600 Francs verschaffte, etwa der Hälfte dessen, was eine sparsam wirtschaftende Person benötigte. Über Chapelain auch erlangte er die Protektion des hochadeligen Duc [=Herzog] d’Aignan, der ihn dem König vorstellte. Vor allem jedoch verfasste er für die Truppe Molières, vielleicht sogar in seinem Auftrag und mit seiner Hilfe, die Tragödie La Thébaïde ou les frères ennemis, die von dem blutigen Streit der Zwillingssöhne des Ödipus um die Herrschaft im antiken Theben handelt. Das Anfang 1664 aufgeführte Stück hatte aber nur geringen Erfolg.

Sein nächstes Stück, die Tragikomödie Alexandre le Grand (1665), war eher romanesk. Racine übte sich darin erstmals in der nüancierten Darstellung der Liebe und der ihr inhärenten Konflikte, eine Thematik, die von nun an eine Schlüsselrolle bei ihm spielte. Aufgeführt wurde das Stück wiederum von der Truppe Molières, doch war Racine mit der Inszenierung nicht zufrieden. Er reichte es deshalb hinter dem Rücken Molières weiter an die auf Tragödien und Tragikomödien spezialisierte Truppe des Hôtel de Bourgogne. Den jungen König Louis, der beide Truppen sponsorte, hatte er vor seinem Wechsel offenbar eingeweiht und für sich gewonnen, denn er durfte ihm 1666 die Druckfassung des Alexandre widmen, was sicher auch deshalb gelang, weil Louis es liebte, mit Alexander verglichen zu werden. Das Verhältnis Racines zu Molière dagegen ging in die Brüche, zumal er eine von dessen beliebtesten Schauspielerinnen mitgenommen hatte, Thérèse alias „Marquise“ Du Parc, die bis zu ihrem frühen Tod Ende 1668 auch seine Geliebte war.

Nach dem zwar nicht rauschenden, aber achtbaren Erfolg des Alexandre und seinem Aufstieg zum Günstling des herrschenden Regimes hatte Racine offenbar das Bedürfnis, sich demonstrativ von den Jansenisten und ihrer lustfeindlichen Religiosität zu lösen und sich von ihrer latenten politischen Opposition zu distanzieren: 1666 attackierte er mit einem ironischen offenen Brief einen seiner Ex-Lehrer, den Moral-Theologen Pierre Nicole, der Romanciers und Dramatiker als „öffentliche Seelenvergifter“ gebrandmarkt hatte.

1667 intensivierte sich Racines Kontakt zum Hof, denn er fand Anschluss an Henriette d’Angleterre, die junge Schwägerin von König Louis, die ihn (nach einer Fehlgeburt und dem Verlust eines Kindes durch Krankheit) als Unterhalter schätzte und ihn aus dem neuen Stück vorlesen ließ, an dem er schrieb. Seine Pension wurde erhöht auf 800 Francs.

Ende 1667 erzielte Racine mit diesem Stück, der Tragödie Andromaque, seinen Durchbruch. Zugleich hatte er sein Thema gefunden: die schicksalhafte, leidenschaftliche, aber unerfüllte Liebe, die die Liebenden in ihrer Eifersucht und/oder Enttäuschung bis zum Äußersten - Mord und Selbstmord eingeschlossen – und damit in den Untergang treibt. In Andromaque, schreibt treffend Henry Bidou, „Racine, tout adolescent, est déjà maître de son système dramatique; et ce premier état de son théâtre ne diffère pas beaucoup de ce qu’il sera par la suite. Le principe qu’il a découvert, c’est de placer le point de départ de sa pièce tout près du point d’arrivée. C’est peut-être là le trait le plus racinien. Au moment où le rideau se lève, la machine qui doit faire éclater la catastrophe est toute montée, toute chargée, toute armée. Le poète emploie cinq actes à la retenir; au dénouement, il n’a qu’à retirer sa main.“ (in: Joseph Bédier/Paul Hasard, Histoire de la littérature française illustrée, 2 Bde, Paris 1924; II, p. 16).

Nach dem Triumph von Andromaque, zu dem die Du Parc in der Titelrolle sehr viel beigetragen hatte, wurde Racine von seinen Bewunderern auf eine Stufe gestellt mit dem eine Generation älteren „großen Corneille“ (s.o.), der seinerseits so deprimiert war, dass er sich für zwei Jahre vom Theater zurückzog. Racine verkehrte weiterhin am Hof und erhielt ab 1668 hübsche 1200 Livres Pension. Ebenfalls 1668 bekam er ein Priorat im Anjou als Pfründe zugewiesen, wobei er, denn er war ja nicht geweiht, einen Teil der Einkünfte dem Priester abtreten musste, der als offizieller Inhaber figurierte und ihn vor Ort vertrat.

Beflügelt durch den schmeichelhaften Vergleich mit Corneille, versuchte Racine auch mit Molière gleichzuziehen (der gerade eines seiner besten Stücke, Le Misanthrope, herausgebracht hatte). In diesem Sinne verfasste er Les plaideurs (1668). Die etwas konstruiert wirkende Komödie um einen monomanischen Richter, zwei Prozesshansel (plaideurs), ein Liebespaar und zwei pfiffige Diener kam beim Pariser Publikum jedoch erst an, nachdem Louis es ostentativ beklatscht hatte. Es blieb die einzige Komödie Racines.

Hiernach trat er wieder in Konkurrenz zu Corneille und begab sich mit der Tragödie Britannicus (1669) auf dessen Spezialgebiet, die Verarbeitung von Stoffen aus der römischen Geschichte. Auch das nächste, „römische“, Stück, die Tragikomödie Bérénice (1670), war eine Herausforderung an Corneille, der zur gleichen Zeit ein thematisch ähnliches Stück, Tite [=Kaiser Titus] et Bérénice, von Molière herausbringen ließ. Nachdem Racine tatsächlich Corneille in der Gunst des Publikums geschlagen hatte (und inzwischen auch bei dem allmächtigen Minister Colbert aus und ein ging), wechselte er mit dem Intrigenstück Bajazet (1672), das am Hof von Istanbul spielt, in die jüngere türkische Geschichte. Frankreich war nämlich gerade mit dem Sultan gegen den deutschen Kaiser im Bunde, und „turqueries“ waren in Mode.

Nach dem Erfolg von Bajazet beherrschte Racine das Pariser Theater. 1673 wurde er in die Académie française gewählt. Mit Mithridate (1673) schrieb er nochmals ein „römisches“, Corneille Konkurrenz machendes Stück. Hiernach kehrte er in die Welt der griechischen Antike zurück mit Iphigénie en Aulide (1674), die auf einem Fest uraufgeführt wurde, mit dem der König mitten im Niederländischen Krieg die formelle Annexion der Franche-Comté feierte.

Im selben Jahr erhielt Racine das nicht unbedeutende, ihn aber kaum belastende Amt eines trésorier [Schatzmeister] de France für den Bezirk Moulins übertragen. 1776 ließ er eine Sammelausgabe seiner Stücke erscheinen, die er hierbei gründlich überarbeitet hatte

Anfang 77 wurde Phèdre aufgeführt, sein neben Andromaque wohl bestes und quasi tragischstes Stück. Der Erfolg war jedoch nur mäßig. Als dagegen ein gleichnamiges mittelmäßiges Stück von Jacques Pradon allgemein gelobt und beklatscht wurde, zog sich Racine frustriert zugunsten seiner anderen Aktivitäten vom Theater zurück. Auch heiratete er: die fromme und reiche, entfernt verwandte Catherine de Romanet, mit der er bis 1792 einen Sohn, fünf Töchter und nochmals einen Sohn bekam.

Schon 1676 war er, zusammen mit seinem Freund Boileau, zum Historiographe du Roi ernannt worden und musste hinfort an Feldzügen von Louis XIV teilnehmen, um sie zu protokollieren (u.a. 1678 Belagerung von Gent im Niederländischen Krieg, 1692 Belagerung von Namur im Pfälzischen Krieg). Seine und Boileaus Aufzeichnungen wurden jedoch bei einem Brand vernichtet.

1685 wurde Racine Vorleser bei Louis und seiner morganatisch („linker Hand“) angetrauten frommen Gattin Mme de Maintenon. Von dieser ließ er sich 1688 und 1690 nochmals zum Stückeschreiben bewegen und verfasste die biblische Stoffe behandelnden Esther und Athalie. Sie waren zur Aufführung in dem adeligen Kloster und Mädchenpensionat Saint-Cyr bestimmt und wurden dort von Schülerinnen inszeniert. Theologen bekrittelten sie allerdings als weltliche Profanierung geistlicher Gegenstände.

1690 erreichte Racine den Höhepunkt seiner Höflingskarriere mit der Ernennung zum Königlichen Kammerherrn (gentilhomme ordinaire de la chambre du roi).

Gegen Ende der 70er Jahre war er wieder fromm geworden, was zu der allgemein gedrückten Stimmung passte, die Louis’ pausenlose, zunehmend ruinöse Krieg in Frankreich bewirkten. Allmählich, zunächst aber nur heimlich, kehrte er auch zu dem strenggläubigen Jansenismus seiner Jugendzeit zurück und versöhnte sich unter der Hand mit einigen seiner alten Lehrer. Sicher auch als Reflex dieser Stimmung verfasste er geistliche Lyrik, die gesammelt 1694 als Chants spirituels erschien.

Nachdem er sich unter der Hand mit einigen seiner alten Lehrer versöhnt hatte, erregte er 1694 den Unwillen des Königs, als er beim Pariser Erzbischof für das Kloster Port-Royal einzutreten versucht hatte, das nach wie vor als geistiges Zentrum der Jansenisten fungierte. Als er 1698 mit einem Abrégé [=Abriss] de l'histoire de Port-Royal seine Sympathien auch öffentlich zeigte, ließ Louis ihn in Ungnade fallen. Abseits vom Hof verlebte Racine die letzten Monate seines Lebens in Verbitterung, wenn auch als reicher Mann und als Patriarch im Kreise seiner großen Familie.

Seinem Wunsch gemäß wurde er in Port-Royal begraben, nahe bei seinem Lieblingslehrer Hamon.

Sein jüngster Sohn Louis (1692-1763), ein schrifstellernder Jurist, wurde sein erster Biograf mit dem Mémoire sur la vie de Jean Racine (1747).

Racine hat die französischen Dramatiker neben ihm und nach ihm bis ins 19. Jahrhundert hinein stark beeinflusst. Die Eleganz und Musikalität seiner Verse galt und gilt als beispielhaft, die Intensität seiner Darstellung der Gefühle als kaum zu übertreffen. Als meisterhaft erscheint auch seine Kunst, Spannung nicht aus einer bewegten Handlung, sondern aus den inneren Konflikten der Figuren und ihrer Entwicklung zu erzeugen.

Im deutschen Sprachraum scheint er nie heimisch geworden zu sein, auch wenn nie heimisch geworden geworden zu sein, auch wenn Goethe die Iphigénie kannte und Schiller kurz vor seinem Tod die Phèdre übertrug.

(Stand: Juli 10)

Jean de La Bruyère (*16.8.1645 Paris; †1696 Versailles).

Er wird als „Moralist“ (eine im deutschen Sprachraum praktisch inexistenten Autoren-Spezies) zu den großen franz. Klassikern gerechnet.

La Bruyère stammte aus einer bürgerlichen, wohl erst kürzlich aus der Provinz nach Paris gekommenen Familie und erhielt nach einem Jurastudium in Orléans 1665 die Zulassung als Anwalt am höchsten Pariser Gericht, dem Parlement. 1671, 26jährig, beerbte er mit seinen drei Geschwistern einen reichen Onkel und kaufte 1673 in Caen ein Amt in der Finanzverwaltung, das ihn pro forma adelte, ihm aber keine Präsenz vor Ort abverlangte. Er lebte vielmehr weiter als Rentier in Paris und dilettierte als Privatgelehrter.

Hierbei stieß er auf die Charakterstudien des antiken Polygraphen und Aristoteles-Schülers Theophrastos (4. Jh. v. Chr.), die er aus dem Griechischen zu übertragen begann.

1684 empfahl ihn der Bischof, Prinzenerzieher und große Prediger Bossuet (s.o.), dem Prince de Condé, Chef einer Seitenlinie des Königshauses, als Hauslehrer (précepteur) für dessen Enkel, des duc de Bourbon. Nachdem dieser 1687 verheiratet worden war, blieb La Bruyère als Edeldomestik (gentilhomme ordinaire) und Sekretär in seinen Diensten und lebte als Mitglied seines Gefolges überwiegend in Paris, Chantilly und Versailles.

Als Randfigur im hocharistokratischen Milieu wurde er zu einem scharfen Beobachter und bereicherte in der Folge die Theoprastschen „Charaktere“ um die Darstellung sozialer Typen der eigenen Zeit, wobei er mit Vorliebe bestimmte adelige und pseudoadelige Verhaltensweisen, aber auch allgemeine menschlich-allzumenschliche Schwächen, Manien und Ticks aufs Korn nahm.

1688 ließ er ein Bändchen mit dem Titel Les Caractères de Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce siècle erscheinen. Das Werk war dank seiner Thematik, seiner Einteilung in kurze, gut lesbare Abschnitte sowie seiner pointierten, oft ironischen Formulierungen sofort ein Erfolg, und La Bruyère erweiterte es von einer zur nächsten der neun Auflagen, die rasch nacheinander erschienen, die letzte kurz nach seinem Tod. In Paris zirkulierten bald auch Schlüssel, die einzelne Porträts bekannten Zeitgenossen zuzuordnen  versuchten.

Nach einem ersten vergeblichen Anlauf 1691 erfüllte sich 1693 der Traum La Bruyères: Er wurde in die Académie française gewählt – mit Nachhilfe des Königs und als Kandidat der traditionalistischen „Anciens“, gegen den Widerstand der progressiven „Modernes“, die dort inzwischen tonangebend waren und die er mit seiner Antrittsrede bewusst provozierte.

Kurz vor seinem plötzlichen Tod durch einen Schlaganfall verfasste er noch die Schrift Dialogues sur le quiétisme, mit denen er seinen einstigen Förderer Bossuet in dessen Kampf gegen Mme de Guyon (s.u.) und Fénelon (s.u.) unterstützte.

(Stand: Nov. 09)

Fénelon (=François de Salignac de la Mothe-Fénelon, *6.8.1651 auf Schloss Fénelon/Perigord; †7.1.1715 Cambrai).

Heute langsam in Vergessenheit geratend, hat er bis ca. 1900 mit seinem vielgelesenen Abenteuer- und Bildungsroman Les Aventures de Télémaque in ganz Europa eine Wirkung ausgeübt, die kaum zu überschätzen ist. Das 1694-96 entstandene Werk gilt als einer der Marksteine der Frühaufklärung.

Fénelon (wie er bei Historikern und Literaturhistorikern schlicht heißt) stammte aus einer alten, aber verarmten Adelsfamilie des Périgord. Da er jüngerer Sohn war (zweitjüngstes von insgesamt 14 Kindern seines Vaters aus zwei Ehen), und die Familie schon mehrere Bischöfe hervorgebracht hatte, wurde auch er früh für die kirchliche Laufbahn bestimmt. Er ging erst in Cahors, später in Paris bei den Jesuiten zur Schule und studierte dann im elitären, ebenfalls den Jesuiten nahestehenden Pariser Priesterseminar Saint-Sulpice.

Nachdem er als junger Priester durch schöne Predigten auf sich aufmerksam gemacht hatte, wurde er 1678 zum Direktor des Institut des Nouvelles Catholiques ernannt, einer Pariser Internatschule zur Umerziehung junger Mädchen aus guter Familie, deren Eltern angesichts des brutaler werdenden Drucks der Staatsmacht konvertiert, d.h. vom Protestantismus zum Katholizismus übergetreten waren. 1681 reflektierte er seine pädagogische Praxis im Traité de l'éducation des filles (=Traktat über die Mädchenerziehung, publiziert erst 1687).

Ende 1685, nachdem Louis XIV das 1598 von seinem Großvater Henri IV erlassene Toleranzedikt aufgehoben hatte, unternahm Fénelon eine erste von mehreren Missionsreisen in damals protestantische Regionen Südwestfrankreichs, war offenbar aber nur mäßig erfolgreich.

Kurz zuvor, 1685, war er mit einer ersten theologischen Schrift hervorgetreten, dem Traité de l'existence de Dieu et de la réfutation du système de Malebranche sur la nature et sur la Grâce (=Traktat über die Existenz Gottes und über die Widerlegung von M.s System der Natur und der Gnade), worin er sich im Sinne der katholischen Amtskirche und der Staatsmacht an der Bekämpfung der Jansenisten beteiligte, die eine rigoristische Gnadenlehre ähnlich der des kalvinistischen Protestantismus vertraten. Im selben Jahr äußerte sich Fénelon zur Rhetorik in seinen Dialogues sur l'éloquence (=Dialoge über die Beredsamkeit, 1685).

Er zählte in diesen Jahren zum Kreis um Bossuet (s.o.), den streitbaren Primus der franz. Bischöfe. 1688 wurde er Mme de Maintenon vorgestellt, der „linker Hand“ angetrauten zweiten Gattin von Louis XIV. Diese sympathisierte zu jener Zeit noch mit der mystisch-frommen Mme Guyon, deren „Quietismus“ offenbar vielen Franzosen, zumal auch adeligen, als eine Art Evasionsmöglichkeit erschien angesichts des permanenten Kriegszustandes, der aufgrund der Expansionskriege Louis’ herrschte. Auch Fénelon war fasziniert von Mme Guyon, als er sie im Winter 88/89 kennenlernte, und stand danach bis zu ihrem Tod unter ihrem Einfluss.

Im Sommer 1689 wurde er auf Vorschlag von Mme de Maintenon, die er inzwischen in Fragen des Seelenheils beriet, von Louis zum Hauslehrer (précepteur) seines 7-jährigen Enkels und eventuellen Thronfolgers, des Duc de Bourgogne, berufen – ein Posten, der ihm Einfluss am Hof verschaffte und sicherlich ausschlaggebend war für seine Wahl in die Académie Française (1693) sowie für seine Ernennung zum Erzbischof von Cambrai (1695).

Für seinen fürstlichen Zögling (der jedoch 1712 sterben und ebensowenig König werden sollte wie sein 1711 kurz vor ihm gestorbener Vater) schrieb Fénelon mehrere unterhaltende und zugleich belehrende Werke: eine Sammlung von Fabeln, die Aventures d'Astinoüs, die Dialogues de morts (=Totendialoge) und vor allem einen umfänglichen Roman: Les Aventures de Télémaque, fils d'Ulysse (fertiggestellt 1698, gedruckt 1699, 1733 auf deutsch erschienen als Die seltsamen Begebenheiten des Telemach, Sohn des Odysseus).

In diesem pseudo-historischen und zugleich utopischen Roman führt Fénelon den jungen Télémaque und dessen Lehrer Mentor (in dem sich Minerva alias Athene verbirgt und der sichtlich Sprachrohr Fénelons ist) durch diverse antike Staaten, die meist durch Schuld ihrer von Schmeichlern und falschen Ratgebern umgebenen Herrscher ähnliche Probleme haben wie das in pausenlose Kriege verstrickte und verarmende Frankreich der 1690er Jahre, wobei er jedoch einen Herrscher zeigt, der dank der Ratschläge Mentors seine Probleme zu lösen vermag durch friedlichen Ausgleich mit den Nachbarn und durch ökonomische Reformen im Inneren, und zwar insbesondere durch die Entwicklung der Landwirtschaft und die Zurückdrängung der Luxusgüterproduktion.

Der Télémaque, der ab 1698 in handschriftlichen Kopien am Hof zirkulierte, wurde sofort als kaum verschlüsselte Kritik am autoritären Regierungsstil von Louis XIV sowie an seiner kriegerischen Außenpolitik und seiner exportorientierten merkantilistischen Wirtschaftslenkung interpretiert. Fénelons größter Gegner am Hof, sein einstiger Förderer Bossuet, gewann nun die Oberhand, nachdem er ihn schon ab 1694 in scheinbar theologisch motivierte Querelen über den Quietismus gezogen hatte und 1697 versucht hatte, eine Verteidigungsschrift Fénelons für Mme Guyon (die nach und nach zum Quasi-Staatsfeind avanciert und 1698 inhaftiert worden war) vom Papst verurteilen zu lassen. Anfang 1699 verlor Fénelon seinen Erzieherposten, und als im April sein Télémaque (anonym und ohne seine Zustimmung) im Druck erschien, wurde er vom Hof verbannt.

Er zog sich zurück in sein Bistum Cambrai und versuchte dort, nicht ohne weiterhin als theologischer und politischer Autor tätig zu sein, ein exemplarisches Regiment gemäß den Lehren seiner Figur Mentor zu führen.

(Stand: Juni 09)

Pierre Bayle (*18.11.1647 in Le Carla [heute Carla-Bayle]/Dep. Ariège; †28.12.1706 in Rotterdam).

Er gilt zusammen mit dem 10 Jahre jüngeren Fontenelle (s. u.) als zentrale Figur der sog. Frühaufklärung.

Geboren und aufgewachsen in einem Pyrenäendorf als Sohn eines hugenottischen Predigers, besuchte er ab 1666 die protestantische Akademie von Puylaurens (Dép. Tarn). Von religiösen Zweifeln geplagt, wechselte er 1699 auf das Jesuiten-Kolleg von Toulouse und konvertierte zum Katholizismus. Ein gutes Jahr später bereute er unter neuen Zweifeln seine Konversion kehrte zum Protestantismus zurück und flüchtete als „relaps“ (Renegat) ins kalvinistische Genf. Hier und etwas später in Rouen, das zu dieser Zeit noch eine große kalvinistische Gemeinde hatte, verdingte er sich als Hauslehrer (précepteur) und beschäftigte sich mit Philosophie, insbes. der von Descartes.

1675 wurde er Philosphieprofessor an der protestantischen Akademie von Sedan in Lothringen, das formell noch Teil des Deutschen Reiches war. Als die Akademie 1681 im Rahmen der zunehmenden Einschnürung des franz. Protestantismus und der zunehmenden Vereinnahmung Lothringens durch Frankreich geschlossen wurde, ging Bayle, wie so viele kalvinistische franz. Intellektuelle, nach Holland und bekam in Rotterdam an einer neueröffneten Hochschule eine Professur für Philosophie und Geschichte.

1682 publizierte er sein erstes Buch: Lettre sur la comète de 1680, das er 1683 erweiterte zu Pensées diverses sur la comète und an das er 1704 noch eine Continuation des Pensées diverses anfügte. In diesem Buch widerlegt er zunächst die abergläubischen Vorstellungen, die man mit Kometen verband und die von vielen Theologen zur Verängstigung und Disziplinierung der Gläubigen ausgenutzt wurden, und er propagiert die Idee, dass alles Wissen, aber auch alle Glaubenssätze ständig kritisch überprüft werden müssen. In einem zweiten Arbeitsgang entwirft er die Grundlagen einer nicht religiös bestimmten Moral bzw. Ethik, wobei er die seinerzeit unerhörte These entwickelt, dass ein Atheist nicht zwangsläufig sittenlos sein und unmoralisch handeln müsse.

Wenig später denunzierte er in seiner Schrift Critique générale de l’Histoire du Calvinisme du P[ère] Maimbourg (1684) die prokatholische Parteilichkeit des Autors und propagierte religiöse Toleranz.

Von 1684-87 war er Herausgeber und wichtigster Beiträger der Zeitschrift Nouvelles de la République des Lettres, die den Beginn eines literaturkritischen und populärwissenschaftlichen Journalismus bedeutete und sich an jenes über ganz Europa verstreute geistig interessierte Publikum richtete, das das Französische als die Sprache von Bildung und Wissen beherrschte. In Frankreich selbst allerdings wurde die Zeitschrift verboten.

Als 1685 Louis XIV das von Henri IV erlassene Toleranz-Edikt aufhob (das berühmte Édit de Nantes) und damit die Flucht von über 200.000 Protestanten bewirkte, die nicht eingekerkert werden wollten wie ein Bruder von Bayle, reagierte dieser mit zwei kritischen Schriften: Ce que c'est que la France toute catholique sous le règne de Louis le Grand (1686) und Commentaire philosophique sur ces paroles de Jésus-Christ "Contrains-les d'entrer" (1687). Hierin brandmarkt er die religiöse Intoleranz des franz. Staates und die unheilige Allianz von Thron und Altar und  fordert einmal mehr Toleranz und Gewissensfreiheit, auch für Andersgläubige und Atheisten, und zwar nicht nur als moralisches Prinzip, sondern als ein Gebot der Vernunft.

Schon seit den Pensées war Bayle nicht nur den Katholiken suspekt, sondern auch vielen Protestanten, die seine demonstrativ unkritische Haltung in Konfessions- und Glaubensfragen (später „Fideismus“ genannt) als verkappten Deismus, wenn nicht Atheismus betrachteten. Von ihnen, zumal von seinem ebenfalls nach Holland gegangenen Sedaner Ex-Kollegen Pierre Jurieu, der sich zu seinem Spezialfeind entwickelte, wurde er deshalb heftig attackiert, als man ihm die volle oder teilweise Autorschaft des Avis important aux réfugiés (1690) zuschrieb, einer anonymen Schrift, in der vor den Umtrieben der Scharfmacher unter den emigrierten Hugenotten gewarnt wird, die Holland und England in einen Rachekrieg gegen Louis XIV zu treiben versuchten.

1693 wurde Bayle seiner Professur enthoben und widmete sich nun ganz der Arbeit an dem Dictionnaire historique et critique (2 Bde 1695/96, 4 Bde 1702), das ein holländischer Verleger quasi bestellt und vorfinanziert hatte. Dieses war ursprünglich als verbesserte Version des Grand Dictionnaire historique (1674 u.ö.) geplant, eines Namens- und Personenlexikons des Jesuiten Louis Moreri, wuchs sich aber aus zu einen Nachschlagewerk neuen Typs. Bayle nämlich beschränkte sich nicht auf eine Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Wissens über historische Personen und Figuren (insbes. auch solche der Bibel), sondern er versuchte darüber hinaus und vor allem eine kritische Sichtung dieses Wissens. Hierzu führte er als bahnbrechende Neuerung ein, dass er die eigentlichen Artikel auf das Faktische beschränkte, ihnen aber sehr ausführliche Fußnoten beigab, in denen er Quellen und Autoritäten zitiert, und zwar nicht zuletzt solche, die sich widersprechen, womit er den Leser unvermerkt zum Hinterfragen scheinbar verbriefter Tatbestände und dadurch zum eigenen Denken und Entscheiden zwingt.

Das Lexikon erzielte bis 1760 mehr als 10 Auflagen und wurde ein Brevier der Aufklärer. Eine dt. Übersetzung, verfasst von einem Autoren-Team um den bekannten Literaten Johann Christoph Gottsched, erschien 1741-44 als Peter Baylens historisches und kritisches Wörterbuch. Auch die 1746 von Diderot (s.u.) und D’Alembert initiierte Encyclopédie nahm sich das Werk zum Vorbild.

Bayle selbst erlebte seine Anerkennung jedoch nicht mehr. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er mit Verteidigungsschriften gegen die Anwürfe, die ihm sein Lexikon eintrug, und in Polemiken mit seinem Feind Jurieu sowie anderen dogmatischen reformierten Theologen.

(Stand: Dez. 09)

Madame Guyon (eigentlich Jeanne Marie Guyon du Chesnoy, geb. Bouvier de la Motte, * 13.4.1648 in Montargis ; † 9.6.1717 in Blois)

Mme Guyon (wie sie bei Historikern schlicht heißt) war eine in den 1680er und 90er Jahren sehr erfolg- und einflussreiche Autorin religiös motivierter, mystisch orientierter Schriften. Ihre Nachwirkung war, politisch bedingt, in katholischen Ländern wie Frankreich selbst eher gering, in deutschen sowie englischen protestantischen Kreisen dagegen bedeutend.

Laut ihrer Autobiografie La Vie de Mme J.-M. Bouvier de La Motte Guyon, écrite par elle-même (postum Köln 1720) war sie Tochter eines wohlhabenden, vom Bürgertum in den Adel strebenden Juristen, Claude Bouvier. Von ihrer Mutter ungeliebt, verbrachte sie ihre Kindheit und Jugend z.T. im Klosterpensionat und spielte selbst mit dem Gedanken, Nonne zu werden. Mit 16 ließ sie sich jedoch verheiraten mit den 22 Jahre älteren, ebenfalls aus Montargis stammenden und wohlhabenden Jacques Guyon, seigneur du Chesnoy. Ihre Ehe erlebte sie als unglücklich, nicht zuletzt wegen ihrer sehr dominanten Schwiegermutter und deren sie bespitzelnder Dienstmagd. Als sie in einer Blatternepidemie zwei ihrer drei Kinder, darunter ihren Lieblingssohn, verlor und sich selber entstellt sah, geriet sie in eine Glaubenskrise. In dieser Situation ließ sie sich von ihrem Beichtvater, dem Barnabitermönch Lacombe, zu dessen mystischer Frömmigkeit bekehren.

1676 starb ihr schon länger kränkelnder Mann, nachdem er nochmals zwei Kinder mit ihr gezeugt hatte. Einige Jahre später ließ die rd. 30jährige Witwe ihre Kinder (zweifellos von Domestiken wohlversorgt) zu Hause zurück und begann ein Wanderleben. Dieses führte sie zunächst nach Genf und an verschiedene Orte Savoyens, wobei sie 1681 in Thonon Lacombe wiedertraf. Zugleich fing sie an, ihre neue Frömmigkeit zu verbreiten und entsprechende Schriften zu verfassen. Hierbei geriet sie bald in Konflikte mit der Amtskirche. So wurde sie z.B. vom Genfer Bischof gebeten, seine Diözese zu verlassen. Sie folgte deshalb dem ebenfalls ausgewiesenen Lacombe nach Turin und ging später nach Grenoble, wo sie 1685 ihr erstes gedrucktes Werk publizierte, eine „kurzgefasste und leichtverständliche Anleitung zum Beten“: Moyen court et très facile pour l’oraison que tous peuvent pratiquer aisément. Das populärtheologische Buch hatte enormen Erfolg, erregte aber auch die Kritik vieler Geistlicher, so dass der Grenobler Bischof Mme Guyon aufforderte, seine Diözese zu verlassen. (Wird fortgesetzt.)

Jean-François Regnard (* 7.2.1655 Paris ; † 4.9.1709)

Regnard gilt als der beste franz. Komödienautor zwischen Molière und Marivaux, die jeweils etwa eine Generation älter bzw. jünger sind.

Er war Sohn eines reichen Pariser Kaufmanns, der jedoch zwei Jahre nach seiner Geburt starb, so dass er unter der Obhut seiner Mutter und seiner älteren Schwester aufwuchs. Ab 12 verfasste er Verse. Mit 16 (1671) ließ er sich einen Teil seines ansehnlichen Erbes (120.000 Frs.) auszahlen und begab sich (zweifellos mit einem Leibdiener) auf eine zweijährige Reise, die ihn über Italien bis nach Istanbul und von dort über Italien wieder zurück führte. In Venedig will er sich mit Glück als Spieler betätigt haben, so dass er mit 10.000 Talern in der Tasche heimgekehrt sei.

1676 trat er zusammen mit Leibdiener und einem adeligen Freund eine neuerliche lange Italienreise an, auf der sie u.a. in Bologna das franz. Ehepaar de Prade kennenlernten. Bei der gemeinsamen Rückreise 1678 (Regnard hatte sich inzwischen in Mme de Prade verliebt) nahmen sie ein Schiff von Genua nach Marseille. Dieses wurde jedoch von nordafrikanischen Seeräubern gekapert, und die fünf Franzosen wurden in Algier als Sklaven verkauft, wobei Mme de Prade von den Freunden, aber auch von ihrem Mann getrennt wurde.

Nach acht Monaten gelang es 1679 einem auf solche Fälle spezialisierten Mönch des Lazaristen-Ordens, den Freikauf Regnards, des Freundes, des Dieners und Mme de Prades zu vermitteln. Zu der ins Auge gefassten Heirat Regnards mit ihr kam es aber nicht, weil auch ihr verschollener und tot geglaubter Gatte wieder auftauchte.

1681 begab sich Regnard mit zwei Freunden auf eine Nordeuropa-Reise, die über Flandern, Dänemark und Schweden bis nach Lappland und zurück über Polen, Ungarn, Österreich und Deutschland ging. Die Schilderung der Lappland-Etappe gilt als interessantester Teil des Reiseberichts, den er später verfasste.

Nach seiner Rückkehr 1682 kaufte Regnard das hochrangige, aber nicht sehr belastende Amt eines Trésorier (Schatzmeister) de France und lebte in der Folgezeit teils in Paris und teils auf dem Schlösschen Grillon, das er in der Normandie erworben hatte. Sein Haus in der Pariser Rue de Richelieu, aber auch Grillon wurden rasch zum Treffpunkt lebenslustiger und geistreicher Personen unterschiedlichster Herkunft.

Zugleich begann Regnard, seine Muße mit Schriftstellerei auszfüllen. Zunächst versuchte er sich in Tragödien, von denen jedoch nur eine zur Aufführung kam. Danach erkannte er seine Gabe der Beobachtung und Darstellung allgemeinmenschlicher Schwächen, aber auch spezifisch zeitgenössischer Untugenden und verlegte sich ab 1687 auf komische Stücke, die er für das Pariser Theater der Comédiens italiens verfasste, an deren Aufführungsstil und personelle Gegebenheiten er sich anpasste. Es waren: Le Divorce (=die Scheidung/Trennung, 1688); La Descente de Mezzetin aux Enfers (=die Reise M.s in die Hölle, 1689); Arlequin, homme à bonnes fortunes (=A., der Mann mit Glück bei den Frauen, 1690).

Durch das letztere Stück wurde Regnard bekannt, erregte aber auch Anstoß, was er ausnutzte und sofort (ähnlich wie Molière in einer vergleichbaren Situation) ein zweites Stück hinterherschob, La Critique de l’Homme aux bonnes fortunes.

Noch 1690 folgte Les filles errantes (=die herumirrenden Mädchen). 1691 kam La Coquette ou L’Académie des dames heraus, dessen Titel auf Molière verweist, an dem Regnard sich insgesamt häufig inspiriert.

1692/93 produzierte er aufgrund der guten Nachfrage drei Stücke mit dem ebenfalls nicht unbekannten Dufresny als Co-Autor: Le Chinois (=der Chinese); La Baguette de Vulcain (=der Stab Vulkans) und L’Augmentation [Vermehrung, Verlängerung] de „La Baguette“.

1694 war La Naissance d’Amadis (=A.s Geburt) das letzte Stück Regnards für die Italiens. Noch im selben Jahr wechselte er zum renommierteren Théâtre Français, zunächst mit zwei Einaktern: Attendez-moi sous l’orme (=erwarten Sie mich unter der Ulme) und La Sérénade.

Ebenfalls 94 unterhielt er die Pariser Literatenwelt mit einer Fehde, in die er den ältlichen Satiriker Boileau (s.o.) verwickelte, indem er auf dessen Satire contre les femmes mit einer Satire contre les maris replizierte und ihn zu einer giftigen Reaktion animierte. Eine ironische Verssatire, mit der Regnard hierauf antworten wollte, kam nicht mehr zum Druck, weil die Herren sich versöhnten.

Vor allem aber schrieb er weitere Komödien für das Théâtre Français: La Foire [Jahrmarkt] Saint-Germain (1695); La Suite [Fortsetzung] de „la Foire St.-G.“ ou Les Momies [Mumien]d’Égypte (1696); Le Bal ou Le Bourgeois de Falaise (1696).

Ende 96 wurde Le Joueur (=der Spieler) ein großer Erfolg. Dies veranlasste Regnard, sein Trésorier-Amt zu verkaufen und sich ganz seiner Rolle als anerkannter Autor, wohlhabender Lebemann (mit Mätresse) und Schlossherr zu widmen.

Seine nächsten Stücke kamen jedoch nur mäßig gut an. Es waren: Le Distrait (=der Zerstreute, 1697); Le Carnaval de Venise (Oper, 1699); Démocrite amoureux und Le Retour imprévu (=die unverhoffte Heimkehr, beide 1700); Les Folies [Torheiten] amoureuses (1704); Les Ménechmes (=die Zwillinge, 1705).

Anfang 1708 kam das Stück heraus, das als Regnards bestes gilt und ihm seinen Platz in der Literaturgeschichte sicherte: die Verskomödie Le Légataire universel (=der Alleinerbe). Die Handlung kreist um einen reichen alten Geizkragen, seinen Neffen, der ihn beerben möchte, und dessen pfiffigen Diener Crispin, der in verschiedenen Verkleidungen seinem jungen Herrn zu dem Testament verhilft, das er braucht, sich aber auch selbst die Taschen etwas füllt.

Regnard starb plötzlich ein Jahr später auf Grillon an ungeklärter Todesursache, eher wohl einem Unfall oder einem Schlaganfall als dem Selbstmord, der auch vermutet wurde.

Neben seinen Stücken verfasste Regnard auch immer wieder Texte anderer Gattungen. So schrieb er zahlreiche Gelegenheitsgedichte, mehrere Épîtres (Versepisteln), einige Satires (gereimte Satiren, vgl. oben), Reiseberichte und den kleinen autobiografischen Roman La Provençale, der von seiner Liebe zu Mme de Prade inspiriert ist.

(Stand: Jan. 08)

Fontenelle (=Bernard Le Bovier de Fontenelle, *11.2.1657 Rouen; †9.1.1757 Paris =100 Jahre!).

Fontenelle (wie er in der Literaturgeschichte schlicht heißt) zählt neben dem anderen bedeutenden „Frühaufklärer“ Pierre Bayle (s. o.) zu den wichtigsten Wegbereitern der Aufklärung.

Er entstammte einer amtsadeligen Juristenfamilie und war Neffe der Dramatiker Pierre und Thomas Corneille. Nach Studien am Jesuiten-Kolleg von Rouen ging er nach Paris, wo er, von Thomas Corneille eingeführt, als galanter Lyriker, Komödienautor, Opernlibrettist, Verfasser eines Briefromans und nicht zuletzt als gesuchter Salon-Animateur reüssierte.

1683 erschienen seine Dialogues de morts, fiktive Dialoge zwischen berühmten Toten aus der Antike und der jüngeren Vergangenheit, z.B. zwischen Sokrates und Montaigne. Hauptthema sind die nach Fontenelle ganz unberechtigten Vorurteile seiner Zeitgenossen zugunsten der Antike, Vorurteile, die er seine antiken Sprecher voller Witz ironisch oder pseudo-naiv ad absurdum führen lässt.

1686 erschienen seine Entretiens sur la pluralité des mondes. Es ist ein fiktiver Dialog, in dem ein gebildeter Mann von Welt einer interessierten adeligen Dame samt ihrer Tochter (und mit ihnen einem wohl als überwiegend weiblich vorgestellten Publikum) bei einem nächtlichen Spaziergang im Park Vorträge über das astronomische Wissen der Zeit gemäß Kopernikus, Galilei, Kepler und Descartes hält und dabei die Möglichkeit nicht ausschließt, dass es auch auf anderen Sternen vernunftbegabte Wesen gibt. Von der Kirche wurde das Werk deshalb, aber auch, weil es insgesamt dem ptolemäischen Weltbild widersprach, auf den Index gesetzt, doch tat das seinem Erfolg keinen Abbruch.

Ebenfalls 1686 publizierte Fontenelle seine Histoire des oracles, worin er in elegantem Plauderton einen lateinischen Traktat zum gleichen Thema verarbeitet und verschiedene in antiken Quellen beschriebene Weissagungen und Wunder kritisch in einer Weise beleuchtet, die von den Jesuiten sehr richtig als Infragestellung auch biblischer Weissagungen und Wunder verstanden wurde.

Als 1687 in der Académie Française die Querelle des Anciens et des Modernes ausbrach, wurde Fontenelle im Sinne seiner Dialogues de morts einer der ersten Parteigänger Perraults (s. o.) und griff 1688 auf Seiten der „Modernen“ in den Streit ein mit seiner Digression sur les Anciens et les Modernes.

In den Folgejahren betätigte er sich weiterhin fleißig als Lyriker, Tragödienautor, Erzähler und Literaturtheoretiker, war aber nur noch mäßig erfolgreich. 1691 wurde er in die Académie Française gewählt. 1697 wurde er Mitglied auch der 1666 gegründeten Académie des Sciences, 1699 avancierte er zu deren Secrétaire perpétuel. Er gab die Literatur nun weitgehend auf und schrieb in Wahrnehmung seines Amtes zahlreiche "éloges" von Naturforschern und Erfindern, deren Leistungen er mit seiner eleganten Feder einem größeren Publikum vorstellte. 1701 wählte ihn auch die Académie des Inscriptions et des Belles Lettres zum Mitglied.

Bis etwa 1725 war er eine wichtige Figur im Pariser geistigen und gesellschaftlichen Leben sowie auch etwas in der Politik, ehe sein Ruhm zu verblassen begann.

Wie so viele Franzosen der Zeit, nahm Fontenelle die bahnbrechenden Arbeiten Isaac Newtons lange Zeit nicht zur Kenntnis, sondern blieb der Physik seines Landmanns Descartes verhaftet.

Er verkörperte als erster den dann für die Epoche der Aufklärung so charakteristischen Typ des „philosophe“, d.h. eines allseitig interessierten, sowohl belletristische, als auch philosophische und naturwissenschaftliche Werke verfassenden Autors (wie es auch z.B. Goethe noch zu sein versuchte).

(Stand: März 07)

18. Jahrhundert (Zeitalter der Aufklärung / Le Siècle des Lumières)

Alain René Lesage (*8.5.1668 Sarzeau/Bretagne; †17.11.1747 Boulogne-sur-Mer).

Lesage ist wahrscheinlich der erste Autor der franz. Literatur, der ganz vom Verkauf seiner Produkte am Literaturmarkt lebte, der sich um 1700 herauszubilden begann.

Er stammte aus einer gutbürgerlichen Juristenfamilie, verlor aber mit 14 seinen Vater und büßte in den Folgejahren auch sein Erbe ein, das ein Vormund veruntreute. Nach seiner Schulzeit bei den Jesuiten in Vannes (Morbihan/Bretagne) studierte er Jura in Paris, wurde als Anwalt zugelassen und erhielt einen Posten in der (damals privat organisierten) Steuereintreibung bzw. Steuerpacht der Bretagne. Nachdem er aus unbekannten Gründen diesen Posten bald verloren hatte und sich als Anwalt nicht hatte etablieren können, ging er 1698 nach Paris, um dort als Autor tätig zu sein.

Er begann mühsam mit wenig erfolgreichen Übertragungen und Bearbeitungen spanischer Theaterstücke. Sein Durchbruch war 1707 die eigene Komödie Crispin, rival de son maître (=C. als Rivale seines Herrn), ein Stück um den cleveren Diener C., der seinem Herrn beim Gewinnen einer reichen Braut behilflich sein soll, jedoch die Gelegenheit zu nutzen versucht, die Mitgift für sich selbst zu angeln, daran zwar durch Pech am Ende gehindert wird, aber vom Brautvater als fähiger Bursche erkannt und zum Steuereinnehmer befördert wird. Auch der auf einer spanischen Vorlage beruhende Roman Le Diable boiteux (=Der hinkende Teufel), der im gleichen Jahr erschien, schlug gut ein. 1709 erzielte Lesage einen Skandalerfolg mit der Komödie Turcaret, die in der Figur des Titelhelden das von allerlei neureichen Arrivisten durchsetzte Milieu der Pariser Bankiers und Steuerpächter, der „financiers“, an den Pranger stellt und verspottet. Das schon während der Einstudierung an der Comédie Française von Betroffenen bekämpfte Stück kam nur dank einem Machtwort des Dauphins zur Aufführung. Es gilt heute als eine der besten franz. Komödien des 18. Jh.

Nach seinen schlechten Erfahrungen mit dem Turcaret und der Comédie Française wandte sich Lesage dem volkstümlichen Pariser Théâtre de la Foire zu. Für dieses verfasste er in den nächsten Jahrzehnten, z.T. mit Co-Autoren, wohl mehr als hundert witzig-satirische, wenn auch weniger aggressive Stücke. Daneben schrieb er einige heute vergessene Romane. Gegen 1715 begann er das Buch, das als sein Hauptwerk und als bester französischer Picaro-Roman gilt. Es ist die aktionsreiche, immer noch gut lesbare Histoire de Gil Blas de Santillane (4 Bde, 1715-1735). Die 100 Jahre zurück und nach Spanien verlegte Handlung spiegelt in Wahrheit zeitgenössische franz. Verhältnisse, wobei aus der Perspektive des Ich-Erzählers und Protagonisten die verschiedensten Milieus von ganz unten bis ganz oben kritisch vorgeführt werden. Zugleich, und das ist neu für das Genre, ist Lesages Picaro eine relativ gebildete Person, die im Verlauf der Handlung auch eine charakterliche Reifung erfährt, womit Züge der späteren Gattung Bildungsroman vorweggenommen sind.

Die Figur des Gil Blas war als Prototyp des scharfsichtigen, aber abgeklärten Spötters bis ins frühe 20. Jh. hinein allen gebildeten Franzosen geläufig, nicht zuletzt auch als Namenspatron der von 1879 bis 1914 existierenden satirischen Zeitschrift Gil Blas (in der z.B. Maupassant viele seiner Novellen publizierte).

(Stand: Jan. 08)

Jean-Baptiste Rousseau (* 6.4.1671 in Paris; † 16.3.1741 bei Brüssel)

Er galt Anfang des 18. Jh. als der beste franz. Lyriker seiner Zeit und wurde als „prince des poètes“ gefeiert. Wegen der formalen Kunst seiner Verse verglich man ihn mit dem großen Malherbe und wegen der Treffsicherheit seiner satirischen Texte mit Boileau, der ihn als einen würdigen Nachfolger betrachtete und anleitete. Mit etwa 40 begann er jedoch, sich das Leben durch eine wachsende Manie zu erschweren, Kollegen und auch Gönner mit Spottversen (Epigrammen) nicht nur zu verärgern, sondern zu verunglimpfen. Immerhin wurde er um 1745 noch als „le grand Rousseau“ von dem jüngeren Jean-Jacques Rousseau unterschieden, als dieser in den Pariser Literaturbetrieb eintrat. Von den Romantikern, die ihn immerhin noch als einst angesehenen Lyriker kannten, wurde er endgültig als gefühlskalter Verseschmied abgestempelt. Erst in neuerer Zeit wird diese oder jene Ehrenrettung versucht und vor allem sein Talent als Satiriker anerkannt.

Er wuchs auf als einziges Kind eines kleinbürgerlichen, aber relativ wohlhabenden Schuhmachers, der ihm den Besuch eines Jesuitenkollegs ermöglichte. Nach Berichten von Zeitzeugen dankte er dies seinem Vater später damit, dass er sich seiner schämte und in der Öffentlichkeit nicht von ihm gekannt zu werden wünschte.

Nachdem er zunächst als Sekretär eines Anwalts gearbeitet hatte, trat er in die Dienste des Comte de Tallart, den er 1697 auf einer längeren Mission als Botschafter nach London begleiten durfte. Auch andere Türen der guten Pariser Gesellschaft öffneten sich ihm, z.B. die des Baron de Breteuil, des Vaters von Émilie du Châtelet, der späteren Mathematikerin und Naturwissenschaftlerin sowie Partnerin Voltaires.

Die dichterische Produktion Rousseaus scheint zunächst vor allem vom Ehrgeiz bestimmt. Er begann mit einer Psalmen-Nachdichtung, die er über einen frommen Höfling am fromm gewordenen Hof des späten Louis XIV zu lancieren schaffte, was ihm den Auftrag einbrachte, religiöse Lyrik zur Erbauung des Enkels des Königs zu liefern. Zugleich, denn er hatte auch Anschluss an Philippe de Vendôme, den Statthalter des Malteserordens in Frankreich, gefunden, verfasste er für dessen freidenkerischen Kreis erotisch anzügliche und irreligiöse Gedichte.

Sein größter Ehrgeiz war jedoch ein Erfolg als Dramatiker. So verfasste er zwischen 1694 und 1702 zwei Opernlibretti und vier Komödien, von denen aber nur eine, Le Flatteur (=der Schmeichler, 1698), beim Publikum halbwegs ankam. Vier spätere Komödien blieben ungedruckt und unaufgeführt.

Seinen Ruhm als „Dichterfürst“ verdiente sich Rousseau schließlich mit sakralen und profanen Kantaten und Oden. In ihnen verarbeitete er (ähnlich wie die Maler der Zeit) meist Stoffe und Situationen aus der biblischen und antiken Geschichte und vor allem der antiken Mythologie, die er in kunstvoll ziselierten Versen und Strophen, einem hochrhetorischen Stil und einer Sprache und Metaphorik voller literarischer, besonders klassisch-antiker Reminiszenzen darstellte.

1701 wurde er in die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres aufgenommen. Das Angebot eines hochstehenden Gönners, ihm ein Amt in der Finanzverwaltung zu verschaffen, lehnte er hiernach stolz als mit seiner Dichterrolle unvereinbar ab.

In den Folgejahren wurde er mehr und mehr zum Opfer seines schwierigen Charakters. So vermutete er die Ursache seines Misserfolgs als Dramatiker in einer Verschwörung von Kollegen, die wie er im Kaffeehaus der Witwe Laurent verkehrten. Als er seinem Ärger mit anonymen Epigrammen auf sie Luft machte, die er heimlich dort auslegte, erhielt er Hausverbot und bekam es schließlich sogar mit der Polizei zu tun, als er die Kollegen per Post noch weiter drangsalierte.

1710 unterlag er deshalb kläglich bei seiner Kandidatur für die Académie Française gegen Antoine Houdar de la Motte, was ihn zu neuen gehässigen Epigrammen auf Literaten-Kollegen, insbes. den einst befreundeten La Motte, aber auch auf höherstehende Personen animierte.

Nachdem er wegen einiger besonders boshafter Epigramme Schwierigkeiten bekommen hatte, versuchte er die Autorschaft zu leugnen und sie einem Kollegen zuzuschreiben. Als dieser seine Verantwortung bestritt, bot Rousseau eine gekaufte Zeugenaussage gegen ihn auf und brachte ihn für geraume Zeit sogar ins Gefängnis. 1712 wurde er jedoch zur Zahlung von 4000 Francs Schmerzensgeld verurteilt und wegen Verunglimpfung von Personen, aber auch der Religion, auf Lebenszeit aus Frankreich verbannt.

Nach Aufenthalten in Solothurn/Schweiz (als Gast beim dortigen franz. Botschafter!), in Wien (wo er drei Jahre lang von Prinz Eugen alimentiert wurde) sowie in Holland, ließ er sich 1717 in Brüssel nieder (wo ihn ein Graf von Aremberg aufnahm). Hier erreichte ihn im selben Jahr das Angebot einer Begnadigung, die der Baron de Breteuil für ihn erwirkt hatte. Rousseau verlangte jedoch seine gerichtliche Rehabilitierung, für die aber niemand einzutreten bereit war.

In Brüssel besuchte ihn 1722 Voltaire, der ihm 1710 in Paris als hoffnungsvoller junger Dichter vorgestellt worden war. Die beiden Männer schieden im Zorn. Auch andere zunächst wohlwollende Personen, die Rousseau dank seines Ruhmes immer wieder als Gönner gewann, stieß er fast regelmäßig vor den Kopf.

Schon 1712 hatte er in Solothurn eine Werkausgabe publiziert. 1723 ließ er in London unter dem Titel Odes, cantates, épigrammes et poésies diverses eine zweibändige Ausgabe seines lyrischen Schaffens erscheinen, die bis 1734 mehr als zehnmal nachgedruckt wurde. Gegen die Jahrhundertmitte geriet seine Stellung als großer Autor ins Wanken. Der literarische Geschmack hatte sich in Richtung Rokoko verändert, d.h. zu mehr Leichtigkeit und Schlichtheit, so dass seine dem barocken Klassizismus verpflichteten Texte nun als überladen und schwülstig erschienen.

1737, nach einem Schlaganfall, versuchte er die Erlaubnis zur Rückkehr nach Paris zu bekommen und hielt sich 1738 mehrere Monate unter falschem Namen dort auf. Die Demarchen einiger letzter Gönner blieben jedoch erfolglos. Auch die ostentative Frömmigkeit, zu der er sich bekehrt hatte, nutzte offenbar nichts. Die wenigen Literaten, die er noch kannte, nahmen ihn nicht mehr ernst. Die der Aufklärung nahestehenden Autoren betrachteten ihn sogar als Unperson. Aus dieser Zeit stammt die anonym gedruckte spöttisch-herablassende Rousseau-Biografie aus der Feder Voltaires, die eine wichtige Informationsquelle zu seiner Person darstellt.

Er musste 1739 zurück nach Brüssel, wo er seine letzten Jahre verbrachte.

(Stand: März 07)

Antoine Houdar de La Motte (auch La Motte oder La Motte-Houdar genannt; *17.1.1672 in Paris; †26.12.1731 ebd.)

La Motte (wie er in Literaturgeschichten meistens heißt) ist heute nur noch bekannt als wichtige Figur in der Pariser Literatenszene der Zeit und als ein Hauptakteur der sog. zweiten „Querelle des Anciens et des Modernes“ (siehe oben unter Perrault). Er war aber dreißig Jahre hindurch ein geachteter Lyriker, Dramatiker und Literaturtheoretiker.

Er war Sohn eines Hutmachers namens Houdar, besuchte ein Jesuitenkolleg und begann ein Jurastudium. Sein eigentliches Interesse galt jedoch früh dem Theater. Nach dem Misserfolg seines ersten aufgeführten Stücks, der Komödie Les originaux (1693), beschloss er, Mönch zu werden, brach sein Noviziat aber ab und wurde wieder Literat. Er schrieb nun eine ganze Serie von Tragödien, Komödien und vor allem Ballett- und Opernlibretti, von denen einige, z.B. die Ballettkomödie L’Europe galante, die „heroische Pastorale“ Issé (beide 1697), das Ballett Le Triomphe de l’Art (1700) oder die vertonte Tragödie Semelé (1709) sehr erfolgreich waren, während die meisten anderen gewissermaßen nur Verbrauchsware darstellten und mit Ende der jeweiligen Spielzeit nicht neu aufgenommen wurden.

Nach seinen ersten Erfolgen fand La Motte Zutritt zu den literarischen Salons der Hauptstadt z.B. dem der Duchesse du Maine oder der Marquise de Lambert, wo er effektvoll seine Gedichte, meistens Oden, vorzutragen verstand. 1709 gab er sie gesammelt in dem Band Odes heraus, in dem man, was neu war für Lyrik, gelegentlich auch die von König Louis XIV und seinen endlosen Kriegen verfinsterte politische Gegenwart thematisiert findet.

1710 wurde er in die Académie Française gewählt, gegen den einst befreundeten Kollegen Jean-Baptiste Rousseau (s.o.), der seiner Enttäuschung mit wütenden Epigrammen auf ihn und andere Literaten Luft machte, Attacken, die ganz Paris unterhielten, aber auf Rousseau selbst zurückfielen.

1714 setzte La Motte (inzwischen übrigens erblindet) ein größeres Stück aus einer kürzlich erschienenen Prosaübersetzung der Ilias in Verse um und hängte einen Discours sur Homère daran an, in dem er den antiken Autor als für seine eigene Zeit zwar anerkennenswert, jedoch für die moderne Zeit nicht mehr mustergültig beurteilte. Als ihn hierauf die Übersetzerin, Mme Dacier, eine Verehrerin der Literatur der Antike, heftig kritisierte, antwortete La Motte mit der Schrift Réflexions sur la critique und löste damit eine Fortsetzung der Querelle des Anciens et des Modernes von 1687 aus, bei der er von so bekannten Autoren wie Fontenelle (s.o.) aber auch dem jungen Marivaux (s.u.) unterstützt wurde. Im Kontext dieses Streites plädierte er nun paradoxerweise für den Gebrauch der Prosa anstelle von Versen in allen erzählenden und dramatischen Gattungen, was z.B. den jungen Voltaire (s.u.) auf der Gegenseite zu einer ironischen Attacke animierte.

Sein Plädoyer für die Prosa hinderte La Motte allerdings nicht, 1719 ein Bändchen mit gereimten Fabeln zu publizieren und, nach dem Misserfolg dreier Prosa-Komödien, ab 1722 seine letzten Stücke, vier Tragödien, wieder in Alexandrinern zu verfassen.

1723 kam sein auch längerfristig erfolgreichstes Werk heraus, die am Königshof vom Portugal des 14. Jh. spielende Tragödie Inès de Castro. Es ist ein für heutige Begriffe sehr rührseliges, psychologisch flaches Stück um die (wohl historische) edelmütige Hofdame Ines und ihre (nicht historische) böse Feindin, die Königin, von der vergiftet sie am Ende stirbt, sehr zum Entsetzen der anderen, allesamt edelmütigen Personen. La Motte nahm hierbei Elemente des späteren, ebenfalls meist hochmoralischen Drame bourgeois (Bürgerliches Trauerspiel) vorweg und wagte es als Erster, in einer Tragödie Kinder auftreten zu lassen, wenngleich nur flüchtig und stumm.

In den 1720er Jahren befasste er sich auch mit der Theorie des Theaters und veröffentlichte 1730 vier Discours sur la tragédie und eine Suite des réflexions sur la tragédie. Hierin plädiert er für eine Flexibilisierung des klassischen Prinzips der drei Einheiten, wonach eine Tragödie nur einen einzigen Schauplatz haben, höchstens 24 Stunden Zeit umfassen und keine Nebenhandlungen enthalten durfte. Da die Forderung La Mottes offenbar in der Luft lag, setzte sie sich mehr oder weniger zügig durch.

(Stand: Febr. 08)

Prosper Jolyot de Crébillon (eigentlich Prosper Jolyot, sieur de Crais-Billon; *13.1.1674 in Dijon; † 17.6.1762 in Paris)

Heute auch gebildeten Franzosen höchstens noch als historische Figur bekannt, war Crébillon (wie er in den Literaturgeschichten schlicht heißt) der bedeutendste Tragödienautor der Generation zwischen Racine und Voltaire.

Er wuchs auf als Sohn eines Melchior Jolyot, eines höheren Justiz-Amtsträgers, dem das kleine Landgut Crais-Billon nahe Dijon gehörte, dessen Namen er nach amtsadeliger Manier an den eigentlichen Familiennamen angehängt hatte.

Crébilon begann seine Schulbildung auf dem Jesuitenkolleg von Dijon und beendete sie auf dem Pariser Collège Mazarin. Danach blieb er in der Hauptstadt und absolvierte hier ein Jurastudium. Zwar erhielt er die Zulassung als Anwalt, wurde aber Sekretär eines Staatsanwaltes. Daneben genoss er das Leben in der Hauptstadt und im Umkreis der „Basoche“, des Vereinswesens der Angestellten der hohen Pariser Gerichte.

Erst nachdem sein Chef seine Theaterleidenschaft bemerkt und ihn zum Schreiben ermuntert hatte, versuchte sich Crébillon (wie er sich nun nannte) als Tragödienautor. Er begann 1703 mit La Mort des enfants de Brutus, das jedoch nicht angenommen wurde. 1705 war Idoménée sein Durchbruch, dem er mit Erfolg eine Serie weiterer historisierender Tragödien folgen ließ: Atrée et Thyeste (1707), Électre (1708) und Rhadamiste et Zénobie (1711, sein wohl bestes Sück).

1707 heiratete er unauffällig Marie-Charlotte Péage, Tochter eines kleinbürgerlichen Pariser Apothekers, die kurz darauf einen Sohn gebar: den späteren Romancier Claude Crébillon.

Crébillons Spezialität und sicher sein Erfolgsrezept in seiner besten Zeit waren schaurige Effekte auf der Bühne (ein Vater trinkt beinahe das Blut seines von seinem Bruder ermordeten Sohnes, ein anderer bringt erst seinen Sohn um, dann sich selbst). Hiermit ging er bewusst bis an die Grenzen der „bienséance“ (Sittsamkeit), die sich die klassische Dramaturgie à la Corneille oder Racine gesetzt hatte, als deren würdiger Nachfolger er eine Weile galt.

Mit Xerxès (1714) und Sémiramis (1717) stellte sich jedoch der Misserfolg ein. Crébillon zog sich enttäuscht vom Theater zurück. Finanzielle Schwierigkeiten (sein Vater hatte statt des erhofften Erbes Schulden hinterlassen) sowie eine frühe Verwitwung machten ihm zusätzlich zu schaffen und ließen ihn vereinsamen.

Erst 1726 gelang ihm ein Comeback mit einem neuen Stück: Pyrrhus. Dessen passabler Erfolg ließ ihn wieder Fuß fassen im Pariser Literaturbetrieb. 1731 wurde er in die Académie Française aufgenommen, wo er mit einer gereimten Antrittsrede Aufsehen erregte. 1733 wurde er als Günstling der theaterbegeisterten neuen königlichen Mätresse Madame Pompadour zum „königlichen Zensor für schöngeistige und historische Schriften“ ernannt, 1735 darüberhinaus zum „Polizei-Zensor“. 1745 erhielt er zudem eine „Pension“ (jährliche Gratifikation) von 1000 Frs. aus der Schatulle des Königs zugesprochen, so dass er nun finanziell gutgestellt war.

1748 wurde sein neues Stück Catalina auf Kosten des Königs aufgeführt und von den Höflingen demonstrativ beklatscht und gelobt, um einen anderen Günstling Mme de Pompadours zu demütigen, der König Louis XV lästig geworden und gerade in Ungnade gefallen war: Voltaire.

Da er von diesem ohnehin als Feind betrachtet wurde, nachdem er 1742 dessen Stück Mahomet verboten hatte, musste Crébillon erleben, dass Voltaire sich an ihm rächte, indem er in den Folgejahren parallele Versionen zu nicht weniger als fünf seiner Tragödien verfasste, um deren Mittelmäßigkeit zu erweisen und die eigene Überlegenheit zu demonstrieren.

Das letzte Stück Crébillons, Le Triumvirat (1754), blieb ohne Erfolg.

Sein Sohn Claude Crébillon (1707-1777) wird von Literarhistorikern als relativ bedeutsam für die Entwicklung der Gattung Roman im 18. Jahrhundert eingeschätzt.

(Stand: Juli 08)

Saint-Simon (=Louis de Rouvroy, duc de Saint-Simon; *16.1.1675 Versailles; †2.3.1755 Paris).

Saint-Simon (wie er in der Literaturgeschichte heißt) gilt als ein, wenn nicht sogar als der Klassiker unter den franz. Memoirenautoren.

Er war einziger Sohn eines schon alten, reich begüterten Adeligen, der von Louis XIII in den Herzogsrang erhoben worden war. Seine Taufpaten waren Louis XIV und die Königin. Er wuchs auf in Paris und Versailles und hatte als Spielkameraden die „enfants de France“, d.h. die Kinder der königlichen Familie, insbes. den späteren Regenten Philippe d'Orléans. Er erhielt eine vorzügliche Bildung; unter anderem lernte er, was damals selten war in Frankreich, deutsch sprechen und schreiben.

Mit 16 wurde er offiziell dem König vorgestellt und begann seine Ausbildung als Offizier. 17jährig erhielt er die Feuertaufe im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1686–97), in dem es erstmals einer Allianz europäischer Staaten gelang, den aggressiven Imperialismus von Louis XIV zu bremsen. Mit 18 erbte Saint-Simon beim Tod seines Vaters den Herzogstitel und kam am Hof in Kontakt mit latent oppositionellen Adelskreisen, wo man von der Beschränkung der absoluten Macht des Königs und der Wiederherstellung der alten Rechte des Adels träumte.

19jährig las er in einem Feldlager in der Pfalz einen Memoirenband und hatte die Idee, selber auch so etwas zu schreiben. Er begann in der Tat mit dem Aufzeichnen von Überlegungen und Beobachtungen, kam dann aber jahrzehntelang über Fragmente nicht hinaus. 20jährig ließ er sich mit einer wohldotierten 17jährigen Hocharistokratin verheiraten, in die er sich anschließend verliebte und mit der er drei Kinder bekam. Mit 22 hatte er eine religiöse Krise und stand hinfort dem strenggläubigen Jansenismus nahe, was seine latente Opposition gegenüber König Louis verstärkte, der seinerseits die Jesuiten stützte, die Intimfeinde der Jansenisten.

Mit 27 – inzwischen hatte Louis den Spanischen Erbfolgekrieg (1701-13) begonnen – quittierte Saint-Simon ostentativ den Dienst als Offizier, weil eine erhoffte Beförderung ausgeblieben war.

Hiernach lebte er überwiegend im Schloss von Versailles als hochrangiger Höfling, der eifersüchtig über seinen Status wachte. Langsam wuchs seine innere Distanz zu dem alternden, despotischer werdenden König. Denn er war nicht nur Jansenist, sondern sympathisierte auch mit den politischen Reformern, die sich in der Hoffnung auf den baldigen Tod des Königs um den Dauphin (Thronfolger) scharten. Als dieser 1711 plötzlich starb und 1712 auch sein Sohn, der neue Hoffnungsträger der Reformer, schwankte Saint-Simon enttäuscht zwischen Rückzug ins Private und Flucht nach vorn.

Er entschied sich für das Letztere und schrieb z.B. anonym einen fulminanten (seinem Adressaten aber sicher unbekannt gebliebenen) offenen Brief an den alten Louis XIV, dem er nicht weniger vorwarf, als dass er Frankreich und die Monarchie mit seinen Kriegen und seinem Despotismus ruiniert habe. Etwas später stellte er in der Schrift Projets de gouvernement (1714) Überlegungen an für eine von Ministerräten statt Ministern geführte Regierung. Zugleich versuchte er Stimmung für seinen Jugendfreund Philippe d'Orléans zu machen, einen der Anwärter auf den Posten des Regenten, der nach dem für bald erwarteten Tod des Königs die Herrschaft für dessen noch unmündigen Urenkel Louis XV würde ausüben müssen.

Nach dem schließlichen Ableben des 77jährigen Louis XIV (1715) und der Einsetzung Philippes als Regent konnte Saint-Simon endlich eine aktive politische Rolle spielen als einflussreiches Mitglied des nach seinen Ideen neu geschaffenen Kronrats. Allerdings wurde er dort von geschickteren Leuten, vor allem dem Ex-Erzieher Philippes, dem Kardinal Dubois, langsam an den Rand gedrängt und beim plötzlichen Tod des Regenten 1723 praktisch ausgebootet.

Er zog sich auf seine Ländereien zurück und überlegte einmal mehr, ob er weiter politisch aktiv zu sein versuchen oder sich eher schriftstellernd, insbesondere als Historiker, betätigen sollte. Schließlich tat er das Letztere. 1729 bekam er das Tagebuch geliehen, das ein Versailler Höfling, der Marquis de Dangeau, von 1684 bis 1720 geführt hatte, und er begann es aus seiner Sicht zu kommentieren. Daneben schrieb er eine Reihe historischer Abhandlungen über sehr spezielle Themen, z.B. die Verheiratungen legitimierter außerehelicher Töchter von franz. Königen mit Söhnen aus dem franz. Hochadel.

Erst 1739, mit 64 und im geistigen Ambiente der sich durchsetzenden Aufklärung, kehrte Saint-Simon zu seiner Idee von 1694 zurück und begann sein bedeutendstes, heute allein noch bekanntes Werk: die Mémoires. Diese decken die Zeit von 1691 bis 1723 ab, d.h. vom Beginn bis zum Ende der Höflingskarriere Saint-Simons in Versailles. Das sehr umfangreiche Werk enthält nicht nur die persönlichen Erinnerungen des Autors, sondern auch viele dokumentarische Materialien und Informationen. Es war erst gegen 1750, nach zehn Jahren Arbeit, abgeschlossen und wurde, von Auszügen abgesehen, sogar erst 1829/30, d.h. postum, gedruckt. Hiernach erlangte es rasch Anerkennung als ein Meisterwerk der Gattung Memoiren und fand beachtliche Verbreitung, nicht zuletzt bei zahlreichen Schriftstellern von Stendhal bis zu Proust, die an Saint-Simon eine Darstellungsweise schätzten, die trotz häufiger Bandwurmsätze sehr spontan und im Ton unverwechselbar wirkt.

Für Historiker sind Saint-Simons Mémoires darüber hinaus eine wichtige, naturgemäß nicht eben neutrale Quelle über das Alltagsleben und über die Machtkämpfe in Versailles unter dem späten Louis XIV und dem frühen Louis XV.

(Stand: Jan. 07)

Marivaux (=Pierre Carlet, auch Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux, *4.2.1688 Paris; †12.2.1763 ebd.)

Marivaux, wie er in der Literaturgeschichte heißt, ist einer der bedeutendsten franz. Romanciers und Dramatiker der Zeit um 1730. Unklar ist, woher der Name Marivaux stammt, den er, offenbar erstmals 1716 in der längeren Form „Carlet de Marivaux“ benutzte. (Der vor allem in Lexika zusätzlich zu findende Name „de Chamblain“ war eigentlich der eines älteren Cousins, des bekannten Architekten J.-B. Bullet de Chamblain, und wurde von Marivaux wohl allenfalls gelegentlich benutzt.)

Geboren wurde er in Paris als Pierre Carlet, Sohn eines nichtadeligen mittleren königlichen Beamten, der wenig später Kontrolleur an der Münze in Riom wurde, der damaligen Hauptstadt der Provinz Auvergne. Seine Mutter Marie Anne war Schwester des erfolgreichen Pariser Architekten Pierre Bullet und blieb zunächst auch mit den Kindern in Paris. Die Jugendjahre ab 12 verlebte Marivaux dann doch in Riom, wo er seine Schulbildung auf einem Kolleg der Oratorianer erhielt und vielleicht noch sein erstes Stück verfasste, Le Père prudent et équitable [=Der kluge und gerechte Vater], sowie einen Roman begann, Les effets surprenants de la sympathie [=Die überraschenden Wirkungen der Sympathie].

Spätestens 1710 war er wieder in Paris, jedenfalls immatrikulierte er sich in diesem Jahr dort für ein Jurastudium. Doch studierte er offenbar kaum, sondern schriftstellerte. Auch fand er in dem Zensor, der 1712 die ersten drei Bände der Effets genehmigte, dem bedeutenden Frühaufklärer Fontenelle (s.o.), einen Protektor, der ihn in Literatenzirkel einführte. 1713 schrieb er einen weiteren Roman, Pharsamon, Ou les folies [=Verrücktheiten] romanesques (den er erst 1737 drucken ließ); 1714 verfasste er die längere Erzählung La Voiture embourbée [=Die festgefahrene Kutsche] und vollendete mit Band 4 und 5 die Effets. 1715 gab er einen Télémaque travesti in Druck, eine Parodie von Fénelons vielgelesenem Bildungsroman Les aventures de Télémaque (1699). 1716 ließ er eine Homer-Parodie folgen, L'Iliade travesti, mit der er sich in den Literaten-Streit um Homer einmischte, der gerade wogte, wobei er, zusammen mit Fontenelle, A. Houdar de la Motte (s.o.) gegen die Homer-Übersetzerin Mme Dacier unterstützte, die die traditionalistische These von der Überlegenheit der antiken Literatur über die moderne verfocht.

Nach seiner Heirat 1717 investierte Marivaux 1718 sein eigenes Geld sowie vor allem wohl das seiner wohlhabenden Frau in Aktien der Compagnie de l’Occident, einer Bank- und Handelsgesellschaft, die soeben von dem schottischen Bankier John Law gegründet worden war nach dem Vorbild der großen niederländischen und englischen Übersee-Handelsgesellschaften. Als 1720 die spekulativ überbewerteten Aktien der Compagnie in den Keller gingen und das „Lawsche System“ zusammenbrach, waren auch Marivaux, seine Frau und seine kleine Tochter (*1719) über Nacht arme Leute.

Er legte nun offenbar noch ein Jura-Examen ab, betätigte sich dann aber doch nicht als Anwalt oder Ähnliches. Vielmehr verfasste er Theaterstücke, vor allem Komödien, die er der Truppe der Comédiens italiens und ihren Stars quasi auf den Leib schrieb. Sein Durchbruch war gleich 1720 Arlequin poli par l’amour. Seine Spezialität wurde rasch die Darstellung des unvermerkten und ungewollten Sich-Verliebens zweier Partner, und zwar insbesondere solcher, die zunächst durch große Standesunterschiede getrennt zu sein scheinen, sich dann gottlob jedoch als sozial gleichrangig und damit als passend erweisen (z.B. La Surprise de l'amour, 1722; La double inconstance, 1723; Le Prince travesti, 1723; Le Jeu de l'amour et du hasard, 1730). Daneben behandelte er genuin aufklärerische Themen, so z.B. in L'Ile des esclaves (1725), wo er zeigt, wie zufällig und ungerecht in der Kastengesellschaft der Zeit die Diener- und die Herrenrollen verteilt sind; oder in L'Ile de la Raison (1727), wo er sehr vernünftige „Wilde“ mit sich als sehr unvernünftig und vorurteilsvoll erweisenden Europäern konfrontiert. Der beachtliche Erfolg seiner Stücke verschaffte ihm den Zutritt zu den renommiertesten Salons der Hauptstadt.

Wohl Ende 1726 (inzwischen war er verwitwet) begann Marivaux den Roman La Vie de Marianne, der heute als sein bestes Werk gilt. Es ist die Geschichte eines Findelkindes, das einzig dank seiner Qualitäten (Schönheit, Geist, Gefühl und Tugend) von einem Adeligen geheiratet und so in den Adel aufgenommen werden sollte, um vermutlich anschließend als auch adelig geboren erkannt zu werden. Bis hierhin war der Autor aber noch lange nicht gekommen, als er 1737 nach vielen hundert Seiten und acht schon gedruckten Bänden die Haupthandlung abbrach und 1742 eine ebenfalls nach zwei Bänden aufgegebene längere Binnenhandlung um die eher unglückliche Nonne Tervire anfügte. Vermutlich hatte er das Utopische seines Konzepts der Figur Mariannes erkannt und hatte er sich danach anhand der Figur Tervires klar gemacht, dass er auch seine eigene Tochter letztlich nur Nonne werden lassen konnte (wie es 1745 geschah), weil er ihr keine ordentlichen Mitgift zu geben imstande war.

1734/35 schrieb er fünf Bände eines weiteren Romans, Le Paysan parvenu, der die Geschichte vom Aufstieg eines tüchtigen aber dennoch rechtschaffenen jungen Dörflers bis zum reichen „financier“ (=Bankier) erzählen sollte. Obwohl ebenfalls unvollendet, gehört auch der Paysan zu den besten Werken Marivaux’.

Neben Theaterstücken und Romanen verfasste er immer wieder auch Feuilletonserien nach dem Vorbild des berühmten Spectator, den 1711 Joseph Addison in London gegründet hatte: Lettres sur les habitants de Paris (1717/18), Le Spectateur français (1721-24), L'indigent philosophe (1726) und Le Cabinet du philosophe (1734).

1742 wurde er schließlich Mitglied der Académie Française und kurz darauf ihr Secrétaire perpétuel. Diese Funktion, die ihm Dienstwohnung, adelsähnliche Privilegien und erfreuliche Prestigemöglichkeiten bot, ließ ihn als Autor praktisch verstummen und bildete bis zum Tod seinen Lebensinhalt.

Die besondere Leistung des Dramatikers Marivaux war die Übertragung der spielerisch-eleganten Sprache der Pariser Salons seiner Zeit in seine Stücke. Nachdem diese Sprache sich spätestens mit der Revolution überlebt hatte, erschien sein Stil den Romantikern nur noch als manieriertes „marivaudage“. Ende des 19. Jh. wurde diese negative Sicht jedoch revidiert, und Le Jeu de l'amour et du hasard zählt seitdem wieder zu den meistgespielten, mitunter auch bei uns aufgeführten, franz. Komödien. Die Romane La Vie de Marianne und Le Paysan parvenu gelten zu Recht als zwei der lesenswertesten franz. erzählenden Werke des 18. Jh.

(Eine Deutung von La Vie de Marianne findet man in meinem Buch Interpretationen, Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter, 1997)

(Stand: Apr. 08)

Montesquieu (=Charles Louis de Secondat, Baron de Montesquieu; *18.1.1689 auf Schloss La Brède bei Bordeaux; †10.2.1755 Paris).

Montesquieu, wie er in der (Literatur-)Geschichte schlicht heißt, war zunächst als belletristischer Autor erfolgreich. Seinen Nachruhm verdankt er jedoch vor allem  seinen geschichtsphilosophischen und staatstheoretischen Schriften. Er gilt als einer der großen franz. Autoren der europäischen Aufklärung.

Er war ältester Sohn seiner Eltern und verbrachte seine Kindheit auf dem Landgut La Brède, das seine Mutter in die Ehe eingebracht hatte. Sein Vater war jüngerer Sohn aus der altadeligen Familie derer de Secondat, die protestantisch geworden, im Gefolge von Henri IV aber zum Katholizismus zurückgekehrt und mit der Erhebung ihres Familiensitzes Montesquieu zur „baronnie“ belohnt worden waren. Der Großvater hatte mit der Mitgift, die er erheiratet hatte, das Amt eines  Gerichtskammer-Präsidenten (président à mortier) am Parlement von Bordeaux gekauft, dem höchsten Gericht der Aquitaine, womit er zum hohen Amtadel zählte, der sog. noblesse parlementaire.

Mit sieben verlor Montesquieu seine Mutter. Von 1700 bis 1705 besuchte er als Internatschüler das Kolleg der Oratorianer-Mönche in Juilly unweit Paris, das für den kritischen Geist bekannt war, der dort herrschte, und wo er auf mehrere Cousins aus seiner weitverzweigten Familie traf. Er erwarb fundierte Kenntnisse in Latein, Mathematik und Geschichte und verfasste ein historisches Drama, von dem sich ein Fragment erhalten hat.

Von 1705 bis 1708 studierte er Jura in Bordeaux. Nach dem Abschluss (licence) und der Zulassung als Anwalt bekam er vom Oberhaupt der Familie, dem kinderlosen ältesten Bruder seines Vaters, den Baron-Titel überschrieben, den jener, nachdem er den höherrangigen Präsidententitel seines Vaters geerbt hatte, nicht mehr brauchte. Da später Montesquieu den Titel und das Amt erben sollte, ging er nach Paris, um sich juristisch und anderweitig fortzubilden. Dort fand er Anschluss an geistig interessierte Kreise und begann in einer Art Tagebuch Gedanken und Überlegungen der verschiedensten Art niederzuschreiben.

Als 1713 sein Vater starb, kehrte er zurück nach La Brède. 1714 erhielt er, sicher über  seinen Onkel, das Amt eines Gerichtsrats (conseiller) am Parlement von Bordeaux.

1715 heiratete er, durch Vermittlung des Onkels, Jeanne de Lartigue, eine Hugenottin, die 100.000 Frs. Mitgift einbrachte. Das Paar bekam rasch einen Sohn  und eine Tochter (1716 und 1717) sowie 1727 eine weitere Tochter, lebte aber sehr häufig von einander getrennt.

Neben seiner Tätigkeit als Richter interessierte sich Montesquieu auch weiterhin intensiv für die verschiedensten Wissensgebiete. So verfasste er u.a. eine wirtschaftspolitische Denkschrift (Mémoire sur les dettes de l’État) an die Adresse von Philippe d’Orléans, der nach dem Tod von Louis XIV (Sept. 1715) als Regent für den noch unmündigen Louis XV die Herrschaft ausübte.

1716 wurde er in die Académie von Bordeaux aufgenommen, einen jener locker organisierten Zirkel, die in größeren Städten Gelehrte, Literaten und sonstige  Intellektuellen vereinten. Hier betätigte er sich mit Vorträgen und kleineren Schriften, z.B. einer Dissertation sur sur la politique des Romains [=Römer] dans la religion, worin er nachzuweisen versucht, dass Religionen ein nützliches Instrument zur Moralisierung der Untertanen eines Staatswesens sind.

Ebenfalls 1716, d.h. kurz nachdem der Regent die von Louis XIV beschnittene politische Macht der Parlements wieder gestärkt hatte, erbte Montesquieu von seinem Onkel dessen Amt als Gerichtspräsident. Seine geistigen Interessen verfolgte er, wie zuvor, nebenher weiter.

1721 wurde er über Nacht berühmt durch einen kleinen Briefroman, den er 1717 begonnen hatte und der bald nach seinem anonym Erscheinen in Amsterdam von der Zensur verboten wurde: die Lettres persanes. Den Inhalt des Werkes, das heute als ein Schlüsseltext der Aufklärung gilt, bildet die fiktive Korrespondenz zweier fiktiver Perser, Usbek und Rica, die von 1711 bis 1720 Europa bereisen und Briefe mit Daheimgebliebenen wechseln. Hierbei schildern sie – und dies ist der  aufklärerische Kern des Werkes - ihren Korrespondenzpartnern die kulturellen, religiösen und politischen Verhältnisse vor allem in Frankreich und besonders in Paris mit einer Mischung aus Staunen, Kopfschütteln, Spott und Missbilligung (was spätestens seit Pascals Lettres provinciales ein beliebtes Verfahren war, um den Leser quasi zum Teilhaber einer Sicht von außen zu machen und ihm so einen kritischen Blick auf das eigene Land zu ermöglichen). Daneben findet Montesquieu Gelegenheit, auch andere Themen im Sinne der Aufklärung zu behandeln, wie Religion und Priestertum, Sklaverei, Polygamie, Benachteiligung der Frauen u.a.m. Darüberhinaus ist in die Lettres ein romanesker, mitunter flirrend erotischer Handlungsstrang um die daheim gebliebenen Haremsdamen Usbeks eingeflochten, der an dem Erfolg des Buches nicht ganz unbeteiligt war.

Nachdem er mit den Lettres bekannt geworden war, entwickelte Montesquieu die Gewohnheit, jährlich einige Zeit in Paris zu verbringen. Hier verkehrte er in einigen mondänen Salons, z.B. dem von Mme de Lambert, sowie gelegentlich am Hof, vor allem aber in intellektuellen Zirkeln.

1725 erzielte er nochmals einen beachtlichen Bucherfolg mit dem rokokohaft-galanten pastoralen kleinen Roman Le Temple de Gnide, den er angeblich in einem älteren griechischen Manuskript gefunden und übersetzt hatte. Das heute völlig vergessene Werk wurde bis zum Ende des 18. Jh. viel gelesen und mehrfach in andere Sprachen übertragen, u.a. in italienische Verse. Es bekam als einziges der Werke Montesquieus schon bei seiner Erstveröffentlichung das Plazet der Zensurbehörde.

1726 verkaufte er sein offenbar wenig geliebtes Präsidentenamt, um mehr Zeit und auch Geld für seine Aufenthalte in Paris zu haben.

1728 wurde er, allerdings erst im zweiten Anlauf, in die Académie française gewählt. Im selben Jahr (bald nach der Geburt seiner jüngsten Tochter) brach er auf zu einer dreijährigen Bildungs- und Informationsreise, die ihn durch Österreich, Ungarn, Italien, mehrere deutsche Staaten, Holland und vor allem England führte, wo er sich länger aufhielt und in London Mitglied der gelehrten Royal Society sowie einer Freimaurerloge wurde.

1731 kehrte er nach La Brède zurück, wo er von nun an überwiegend blieb. 1734 publizierte er in Holland das Buch Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence. Hierin versucht er am Beispiel des Aufstiegs des Römischen Reichs und seines Niedergangs (den er mit Cäsars Alleinherrschaft einsetzen sieht) so etwas wie gesetzmäßige Verläufe im Schicksal von Staaten nachzuweisen und übt dabei verdeckte Kritik am franz. Absolutismus.

Sein wichtigstes Werk wurde jedoch die geschichtsphilosophische und staatstheoretische Schrift De l'esprit des lois (Genf 1748), Resultat von zwanzig Jahren Arbeit. Hierin versucht er einerseits, die Determinanten zu finden, nach denen einzelne Staaten ihr jeweiliges Regierungs- und Rechtssystem entwickelt haben (z.B. Größe, Geographie, Klima, Wirtschafts- und Sozialstrukturen, Religion, Sitten und Gebräuche); andererseits versucht er – nicht zuletzt in Opposition gegen den im Milieu der Parlements ungeliebten Absolutismus – die theoretischen Grundlagen eines universell möglichen Regimes zu entwickeln. Zentrales Prinzip ist hierbei für ihn die sog. Gewaltenteilung, d.h. die institutionelle Trennung von Gesetzgebung (Legislative), Rechtsprechung (Judikative) und Staatsgewalt (Exekutive). Montesquieus Buch fand sofort große und weitgestreute Beachtung und löste heftige Attacken der Generalversammlung des frz. Klerus, der Sorbonne und vor allem der Jansenisten aus. 1751 wurde es von der kath. Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Eine 1750 publizierte Verteidigungsschrift Montesquieus, die Défense de l’Esprit des lois, war nutzlos geblieben.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte er zunehmend erblindend, teils in Paris, teils auf La Brède, wobei ihn seine jüngste Tochter als Sekretärin unterstützte, z.B. bei der Abfassung des Artikels „goût“ für die Encyclopédie. Er starb an einer vermutlich relativ banalen Infektion bei einem winterlichen Paris-Aufenthalt, der sein letzter hatte sein sollen und es, anders als gedacht, auch wurde.

Das Montesquieu’sche System der Gewaltenteilung kam dauerhaft zum ersten Mal 1777 in der Verfassung der Vereinigten Staaten zum Tragen und ging 1791 in die kurzlebige erste Verfassung ein, die von der Nationalversamlung im Rahmen der Französischen Revolution verabschiedet wurde. Heute ist es zumindest im Grundsatz in allen demokratischen Staaten verwirklicht.

(Stand: Sept. 09)

L'Abbé Prévost (=Antoine-François Prévost [d'Exiles], *1.4.1697 Hesdin/Artois; †23.11.1763 Courteuil bei Paris).

Dieser in der Literaturgeschichte als „l'Abbé Prévost“ figurierende Vielschreiber ist nur mit einem einzigen seiner zahllosen Werke bekannt geblieben, dem kleinen, immer noch gut lesbaren Roman Manon Lescaut.

Er wuchs auf in Hesdin als zweiter Sohn eines aus dem reichen Bürgertum stammenden königlichen Richters (procureur du roi), dem sein (gekauftes) Amt adelsähnliche Privilegen verschaffte, ohne ihn jedoch schon de jure zu adeln. Seine glückliche Kindheit endete abrupt, als er mit 14 seine Mutter und seine wenig jüngere Lieblingsschwester verlor. Ein Jahr später (1712) überwarf er sich offenbar mit seinem Vater, beendete (vorzeitig?) seine Studien auf dem heimischen Jesuitenkolleg, wurde Soldat und nahm am Spanischen Erbfolgekrieg teil. Bei dessen Ende 1713 verließ er das Militär, und absolvierte am jansenistisch orientierten Pariser Collège d'Harcourt das „rhétorique“ genannte letzte Schuljahr. Hiernach wurde er Novize im Jesuitenorden, dem er aber 1715 den Rücken kehrte, um für kurze Zeit wiederum Soldat zu werden. Nach einem neuerlichen Zwischenspiel bei den Jesuiten nahm er ab 1718 als Offiziersaspirant am franz.-spanischen Krieg teil, desertierte jedoch 1719 und flüchtete sich 1720 nach einigen unsteten und schwierigen Monaten in den Benediktinerorden, wo er 1721 sein Gelübde ablegte, angeblich unter inneren Vorbehalten.

In den nächsten Jahren lebte er in verschiedenen, überwiegend jansenistisch ausgerichteten Klöstern, studierte Theologie, wurde zum Prieser ordiniert und betätigte sich als Prediger. Da er seinen Oberen offenbar als Mann mit einer guten Feder auffiel, wurde er 1727 in das Pariser Kloster Saint-Germain-des-Prés abgeordnet, wo er an einem historiographischen Gemeinschaftswerk der Benediktiner, der vielbändigen Gallia christiana mitarbeiten sollte.

Seine eigenen Vorstellungen waren sichtlich aber andere: Er hatte inzwischen einen Roman begonnen, dessen Bände I und II er 1728 zu veröffentlichen schaffte: Mémoires et Aventures d'un homme de qualité qui s'est retiré du monde. Hiernach versuchte Prévost, der schon länger Schwierigkeiten mit seinem Abt hatte, sich in ein Kloster mit laxeren Regeln versetzen zu lassen, um mehr Zeit zum Schreiben zu bekommen. Als dies nicht gelang, verließ er heimlich sein Pariser Kloster und schrieb in einem Versteck. Mit dem Honorar der Bände III und IV der Mémoires ging er über Holland nach London, um sich dem königlichen Haftbefehl (lettre de cachet) zu entziehen, den sein Abt wegen unerlaubten Sich-Entfernens gegen ihn erwirkt hatte.

In London konvertierte Prévost zum Anglikanismus und wurde Hauslehrer eines jungen Mannes aus bester Familie, schmiedete aber heimlich Heiratspläne mit dessen Schwester und wurde auf Betreiben des Vaters ausgewiesen. Er ging nach Holland, wo er 1731 die Bände V und VI der Mémoires publizierte, denen er rasch noch einen nur locker damit verbundenen siebten Band anhängte: L'Histoire du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut (so der korrekte Titel), einen Roman, der sichtlich seine eigene, offenbar so leidenschaftliche wie frustrierende und Schuldgefühle auslösende Liebe zu der Haager Edelkurtisane Lenki Eckhardt verarbeitet, die er kurz zuvor kennengelernt hatte.

Ebenfalls 1731 publizierte Prévost in Utrecht vier Bände eines schon in England begonnenen Romans: Histoire de Cleveland, fils naturel de Cromwell. Hiernach vollendete und publizierte er eine schon früher begonnene Übertragung der lateinisch verfassten Memoiren des Anti-Richelieu-Verschwörers François de Thou (1733).

Inzwischen hatte er zusammen mit Lenki Schulden angehäuft; er floh nach London, wo er eine Ein-Mann-Zeitschrift nach dem Muster von Addisons Spectator produzierte, Le Pour et le Contre, die in Paris erschien und hier das neue England-Interesse der gebildeten Leser bedienen sollte. 1734 saß er wegen Wechselbetrugs kurz im Gefängnis und wurde aus England ausgewiesen. Er ging heimlich zurück nach Frankreich (wo ein separater Nachdruck von Manon Lescaut gerade von der Zensur verboten und beschlagnahmt worden war). Aus einem Versteck nahm er Kontakt mit dem Benediktinerorden auf und erhielt vom Papst Vergebung für seine Apostasie (Abfall vom kath. Glauben) sowie die Erlaubnis für ein verkürztes zweites Noviziat (1735).

Offenbar war der Orden weitgehend mit der Einhaltung eines frommen Scheins zufrieden, denn Prévost schrieb pausenlos weiter: neben den Faszikeln von Le Pour et le Contre erschien 1735 der Roman Le Doyen de Killérine. Nach seinem Noviziat wurde Prévost Almosenier (aumônier) beim Prince de Conti, d.h. eine Art Privatpfarrer in hochadeligem Haus. Hier schrieb und schrieb er: 1737/38 die letzten Bände des Cleveland, 1739/40 die des Doyen de Killérine, 1740 das 20. und letzte Faszikel von Le Pour et le Contre. Danach entwickelte er sich zum Spezialisten für romanähnliche historische Sachbücher und Biografien (Mémoires pour servir […] l'histoire de Malte, Histoire de Marguerite d'Anjou, Histoire de Guillaume le Conquérant), sowie für Reisebeschreibungen (Voyages du capitaine Robert Lade). 1746 begann er eine Histoire générale des voyages, zunächst als Übersetzer englischer Reisebücher, dann in eigener Autorschaft. (1760, bei Bd. 15 hörte er auf und ließ Andere weiterschreiben.)

Daneben erwarb er sich Meriten als Übersetzer von Werken eines der Großen des europäischen „empfindsamen Romans“, Samuel Richardson (1689-1761): 1751 gab er die Lettres anglaises, ou Histoire de Miss Clarisse Harlowe (Orig. 1748) in Druck, 1755 die Nouvelles lettres anglaises, ou Histoire du chevalier Grandisson (Orig. 1754). Ob auch die 1742 erschienene Richardson-Übersetzung Paméla, ou la vertu récompensée (Orig. 1740) schon von Prévost stammt, ist zweifelhaft.

1753 veröffentlichte er eine etwas erweiterte und leicht moralisierte Fassung von Manon Lescaut, dem Roman, der als sein Meisterwerk gilt. Es ist die Geschichte des jungen Kleinadeligen Des Grieux, der vor dem Beginn seines geplanten Theologiestudiums der hübschen, ihrerseits fürs Kloster bestimmten Manon Lescaut begegnet, mit ihr nach Paris durchbrennt und aus Liebe zu ihr (die Geld en masse verbraucht) nach und nach alle seine Vorstellungen von Anstand und Ehre über Bord werfen muss, bis er schließlich, nach dem tragischem Tod der nach Amerika deportierten und dort endlich geläuterten Manon, von seinem alten Freund Tiberge an ihrem amerikanischen Verbannungsort wiedergefunden und zu einer braven Theologenexistenz nach Frankreich zurückgeleitet wird.

(Eine Interpretation des Romans findet man in meinem Band Interpretationen, Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1997)

(Stand: Nov. 09)

Voltaire (=François Marie Arouet, *21.1.1694 Paris; †30.5.1778 ebd.).

Dank seines immensen Œuvres als Lyriker, Epiker, Dramatiker und Romancier sowie als Historiker, Philosoph, Publizist und Briefschreiber galt er schon zu Lebzeiten als der bedeutendste franz., vielleicht sogar der bedeutendste europäische Autor seines Jh., das die Franzosen gern als „le siècle de Voltaire“ bezeichnen. Mit seiner Kritik am ineffizienten Absolutismus der franz. Monarchie, an der ständischen und konfessionellen Befangenheit der franz. Justiz und am weltanschaulichen Monopol der Katholischen Kirche in Frankreich war er einer der Wegbereiter der Revolution von 1789. Auch im deutschsprachigen Raum gehört er zu den bekanntesten franz. Autoren, und zwar vor allem in seiner Eigenschaft als Philosoph, was er aber nur mit einem Bruchteil seines Schaffens war. Viele seiner Werke wurden schon bald nach ihrem Erscheinen auch ins Deutsche übersetzt. Goethe z.B. übertrug das Stück Tancrède.

Voltaire, wie er sich ab seinem 24. Lebensjahr nannte, wuchs auf als jüngstes (und drittes überlebendes) Kind des vermögenden Juristen und zunächst Notars François Arouet. Dieser war als Sohn eines wohlhabenden Textilkaufmanns zwar bürgerlicher Herkunft, hatte aber einige Jahre vor der Geburt seines Jüngsten das adelnde Amt eines Gerichtsrates (conseiller du roi) gekauft und versah den einträglichen Posten eines Gebühreneinnehmers am Pariser Obersten Finanzgericht. Bereits mit sechseinhalb verlor der spätgeborenen Junge seine ebenfalls aus Pariser Juristenkreisen stammende Mutter, und da er sich von seinem strengen, jansenistisch-frommen Vater wenig geliebt fühlte, hielt er sich früh – vermutlich sogar zu Recht – für das außerehelich gezeugte Kind eines adeligen Freundes der Familie, des als Dichter dilettierenden Ex-Offiziers de Rochebrune. Vielleicht war diese Überzeugung ein wichtiger Faktor seiner Auflehnung gegen die väterliche Autorität sowie seines frühzeitig selbstbewussten Auftretens in adeligen Kreisen.

1704 kam er, nachdem ihn zuvor seine acht Jahre ältere Schwester betreut hatte, als Internatsschüler in das Jesuitenkolleg (heute Lycée) Louis-le-Grand. Hier erwarb er eine solide humanistische Bildung und hatte ein überwiegend gutes Verhältnis zu seinen Lehrern, die seine Begabung erkannten und ihn trotz einer gewissen Aufmüpfigkeit förderten. Bereits als junger Schüler schrieb er Verse und wurde deshalb 1706 von seinem Patenonkel, dem Abbé de Châteauneuf, in den epikuräisch-freidenkerischen Kreis um Philippe de Vendôme eingeführt, den Statthalter des Malteserordens in Frankreich, wo er sich als frühreifes Talent bewundern ließ. Auch seine Theaterbegeisterung nahm schon auf dem Kolleg ihren Anfang. Vermutlich von 1706 datieren erhaltene Fragmente einer Tragödie. 1710 wurde er mit mehreren Schulpreisen ausgezeichnet und bekam von Lehrern seine Ode auf die Hl. Genoveva gedruckt herausgegeben. Im selben Jahr wurde er dem seinerzeit anerkanntesten Lyriker vorgestellt, Jean-Baptiste Rousseau (s.o.). Darüber hinaus gewann er unter seinen überwiegend adeligen Mitschülern einige Freunde, die ihm von Nutzen sein sollten, so den späteren Maréchal de Richelieu und die Brüder d'Argenson, die Außen- bzw. Kriegsminister wurden.

Da er nach dem Willen des Vaters Jurist werden sollte wie dieser selbst und auch sein neun Jahre älterer Bruder, schrieb er sich 1711 an der Pariser juristischen Hochschule ein. Doch betrieb er die Juristerei ohne Eifer, zumal er sich in weitere schöngeistige und intellektuelle Zirkel hatte einführen lassen, wo er mit seinen spielerisch-eleganten und geistreichen Versen beeindruckte. Im Frühjahr 1713 wurde er vom unzufriedenen Vater in die Provinzstadt Caen geschickt, wo er als Notariatsangestellter arbeiten sollte, doch verkehrte er auch hier bald in freidenkerischen literarischen Kreisen. Im Herbst wurde er deshalb einem Bruder seines Patenonkels, der als franz. Gesandter zu Friedensverhandlungen nach Den Haag reiste, als Sekretär mitgegeben. Als er dort die vielleicht einzige leidenschaftliche Liebschaft seines Lebens begann, und zwar mit einer 17jährigen Exil-Hugenottin, die er zu konvertieren und zu entführen versuchte, kam es zum Eklat, weil die erschrockene Mutter sich bei dem Gesandten beschwerte. Er wurde nach Paris zurückgeschickt und vom Vater mit Enterbung und Deportation nach Amerika bedroht.

Wieder in Paris, arbeitete er 1714 nochmals kurze Zeit bei einem Anwalt, war aber mehr und mehr als Literat aktiv, was der Vater schließlich akzeptierte. Er verkehrte wie zuvor in literarischen und intellektuellen Zirkeln und machte sich erste Feinde, z.B. mit einem Pamphlet gegen die Académie Française, die eine von ihm eingereichte Ode auf Louis XIII nicht preisgekrönt hatte, oder mit einer Verssatire auf den arrivierten Autor und Literaturtheoretiker Antoine Houdar de la Motte (1672-1731, s.o.), der für die Benutzung von Prosa statt Versen in Dramen und in erzählenden Werken eintrat – eine Ansicht, die Voltaire später als Erzähler und gelegentlich auch als Dramatiker durchaus teilen sollte. Die Ode Le vrai Dieu (1715) könnte sein erster philosophischer Text gewesen sein.

Zunehmend öffneten sich ihm auch adelige Häuser, wo man ihn als vielseitigen Lyriker, vor allem aber als Autor witziger, häufig spöttischer Gedichte und geistreichen Unterhalter schätzte. Eine seiner vornehmsten Adressen war der kleine Hof eines legitimierten Bastards (außerehelichen Sohnes) von Louis XIV, des Duc (=Herzog) du Maine und seiner kunstliebenden Gattin. Maine war 1715 von seinem sterbenden Vater testamentarisch zum Regenten für den 5-jährigen Louis XV bestimmt, jedoch von seinem Cousin Philippe d'Orléans mit Hilfe des Pariser Parlements ausgebootet worden. Bei den Maines las Voltaire 1716 ein satirisches Gedicht auf Philippe vor, in dem er auf dessen mutmaßliches inzestuöses Verhältnis zu seiner Tochter anspielte. Natürlich erfuhr Philippe davon und verbannte in seiner Eigenschaft als Stellvertreter des Königs Voltaire für mehrere Monate aus Paris, die dieser größtenteils als Gast auf dem Schloss des jungen Duc de Sully verlebte. Nachdem er von dort erfolgreich eine Bitt- und Huldigungsepistel an Philippe gerichtet hatte und zurückgekehrt war, dichtete er eine neuerliche Satire auf ihn. Diesmal war die Strafe härter: im Mai 1717 wurde er in der Pariser Stadtfestung La Bastille inhaftiert, die als Gefängnis für meist höhergestellte Delinquenten diente.

Hier las und reflektierte er und stellte seine mit den Ödipus-Stücken von Sophokles und Corneille rivalisierende erste Tragödie Œdipe fertig. Vor allem begann er unter dem Titel La Ligue (=die Liga) ein Versepos über die schlimmste Phase der Religionskriege und ihre Beendigung durch König Henri IV, der 1597 die Katholische Liga besiegt und mit dem Edikt von Nantes 1598 religiöse Toleranz in Frankreich eingeführt hatte. Das mit Vergils Romgründungsepos Æneis rivalisierende Werk sollte den Franzosen ihr nationales Epos geben und verschaffte später seinem Autor in der Tat den Ruf des größten franz. Epikers seiner Zeit.

Nach elf Monaten Haft kam er dank der Fürsprache hochstehender Gönner frei, blieb allerdings zunächst noch aus Paris verbannt. Als er dort im Oktober 1718 nach fast anderthalb Jahren wieder auftauchte, tat er dies unter dem Namen „Voltaire“, vermutlich einem Anagramm aus A-R-O-V-E-T--L[e]--I[eune] (unter Vertauschung der handschriftlich damals identischen Buchstaben v/u und j/i). Das adelige „de“, das er voransetzte, war wahrscheinlich insofern legitim, als sein Vater inzwischen durch seine adelnden Ämter in den erblichen Adelsstand getreten war.

Nachdem er durch die sehr erfolgreiche Aufführung von Œdipe im November 1718 schlagartig bekannt geworden war, verkehrte Voltaire wieder in den geistig interessierten Zirkeln der Hauptstadt und war auch gern gesehener Gast in den Landschlössern des Hochadels rund um Paris. Hierbei lernte er u.a. den exilierten Politiker Lord Bolingbroke kennen, der ihm England näherbrachte. Natürlich schrieb er, wie immer: neben Gedichten und weiteren Teilen von La Ligue verfasste er u.a. die Tragödie Artémire (1720) oder die Versepistel Épître à Uranie (1722), wo er explizit seine theistischen Vorstellungen formuliert.

Als 1722 sein Vater starb, erbte Voltaire seinen Anteil an dessen nicht unbeträchtlichen Vermögen. Da er im gleichen Jahr vom Regenten Philippe eine „pension“ (jährliche Gratifikation) aus der königlichen Schatulle zugesprochen bekam, war er finanziell nun gut gestellt. Ebenfalls 1722 unternahm er als Begleiter einer adeligen Dame seine erste größere Reise, nämlich in die österreichischen Niederlande (das jetzige Belgien). Hierbei besuchte er in Brüssel den 1713 aus Frankreich verbannten J.-B. Rousseau (s.o.), der sich jedoch mit ihm zerstritt. 1723/24 demonstrierte er seine erfreuliche neue soziale Position auch mittels der Liaison mit der adeligen Madame de Bernières, Gattin eines Vorsitzenden Richters am Pariser Parlement.

1723 machte er mit der Zensur Bekanntschaft, als er keine Druckerlaubnis für La Ligue, ou Henri le Grand erhielt, obwohl er das Epos Louis XV zu widmen angeboten hatte. Er ließ es deshalb anonym in Rouen mit angeblichem Druckort Genf erscheinen. Ein weiterer Schlag war 1724 der Misserfolg seiner Tragödie Mariamne, die jedoch im Jahr darauf, nachdem er sie überarbeitet und in Hérode et Mariamne umbenannt hatte, stattliche 27 Aufführungen in Folge erlebte.

Ebenfalls 1725 erhielt Voltaire dank Mme de Prie, der einflussreichen Geliebten des neuen Chef-Ministers, des Duc de Bourbon, den Auftrag, zur Hochzeit von Louis XV Theateraufführungen zu organisieren, darunter von drei eigenen Stücken. Hierdurch erhielt er Zutritt zum Hof sowie eine zweite „pension“, diesmal aus der Schatulle der jungen Königin. Er schien nun bestens in die herrschenden Verhältnisse integriert.

Im Februar 1726 wurde er von Dienern des hochadeligen Chevalier de Rohan verprügelt, weil er im Theaterfoyer auf dessen spöttische Frage nach der Herkunft seines neuen Namens eine schnippische Antwort gegeben und die Lacher auf seine Seite gebracht hatte. Empört nahm Voltaire Fechtunterricht, um den Chevalier zum Duell zu fordern. Die Rohans erwirkten aber einen königlichen Haftbefehl gegen ihn, und wieder saß er in der Bastille. Da er inzwischen jedoch eine bekannte Persönlichkeit war, bekam er vom König die Freilassung angeboten unter der Bedingung, dass er Frankreich verließ.

Voltaire akzeptierte und ging im Mai 1726 nach England, das gerade dabei war, als erstes Land der Welt in die industrielle Revolution einzutreten. Er war fasziniert von der philosophischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Aufbruchstimmung sowie von der relativ großen geistigen Freiheit und sozialen Mobilität in dieser multikonfessionellen Gesellschaft, in der die Religion Privatangelegenheit war und die Macht des Königs und die Privilegien des Adels durch Bürgerrechte eingeschränkt waren. Für einen Franzosen damals keineswegs selbstverständlich, lernte er Englisch sprechen sowie schreiben und las englische Autoren, u.a. den Philosophen John Locke und Shakespeare. Er ließ sich von Lord Bolingbroke in die besten gesellschaftlichen und intellektuellen Kreise Londons einführen und wurde auch dem König vorgestellt. 1728 publizierte er in London, mit einer Widmung an die Königin, eine überarbeitete Version von La Ligue, deren neuer Titel La Henriade sich sichtlich an den des unvollendeten Epos La Franciade von Pierre Ronsard (s.o.) anlehnte.

Ende 28 durfte Voltaire nach zweieinhalb Jahren zurück nach Frankreich, zunächst nur nach Dieppe, mit einem Koffer voller fertiger und angefangener Schriften, darunter sein erstes historiographisches Werk, Histoire de Charles XII, roi de Suède (=Geschichte König Karls XII von Schweden), 1730 gedruckt, aber sofort verboten), oder die Tragödien Brutus und Zaïre, die 1730 bzw. 1732 sehr erfolgreich aufgeführt wurden.

Spätestens in England hatte er erkannt, wie wichtig finanzielle Unabhängigkeit für einen Autor wie ihn war. Deshalb spekulierte er nach seiner Heimkehr nach Paris (1729) geschickt mit seinem Geld und stieg u.a. mit Hilfe der Brüder d'Argenson als stiller Teilhaber bei Heereslieferanten ein. Tatsächlich war er bald mehr als nur wohlhabend und damit in hohem Umfang frei im Äußern seiner Meinungen.

So empörte er sich z.B. öffentlich mit seiner Ode sur la mort de (=Ode über den Tod von) Mlle Lecouvreur, als 1730 die Leiche der bekannten, noch relativ jungen Schauspielerin (mit der er befreundet gewesen war) nach ihrem plötzlichen Tod auf den Schindanger geworfen wurde. 1733 nahm er sich die Freiheit, mit dem satirischen Gedicht Le Temple du goût  (=der Tempel des [guten] Geschmacks) die Welt der Pariser Literaten zu karikieren und deren Zorn zu erregen. Im Juni desselben Jahres liierte er sich erneut mit einer verheirateten adeligen Dame, Émilie du Châtelet (1706-1749).

Im April 1734 erschienen zugleich in London und Paris die Lettres (=Briefe) philosophiques oder Lettres anglaises, die den Franzosen England als Vorbild vor Augen führen sollten, von den Herrschenden in Frankreich aber als Affront empfunden wurden. Besonders verärgert waren die meist jansenistisch-frommen Hohen Richter des Pariser Parlement, die sich an einer religionskritischen Diatribe gegen den Jansenisten Blaise Pascal stießen, die an die Briefe angehängt war: Sie verboten das Buch und erließen einen Haftbefehl gegen Voltaire. Dieser tauchte ab und zog sich auf das Schlösschen Cirey in der Champagne zurück, das dem Ehemann von Mme du Châtelet gehörte und von wo aus er notfalls schnell ins nahe Lothringen fliehen konnte, das de jure noch Teil des Deutschen Reiches war.

In den nächsten zehn Jahren führte er ein unstetes Wanderleben mit Cirey als Zentrum und mit Mme du Châtelet, die ihm dorthin nachgefolgt war, als engster Bezugsperson. Er besuchte Paris, wenn es ihm möglich schien, z.B. zu Uraufführungen seiner Stücke; er blieb in Cirey oder floh weiter, wenn er sich gefährdet fühlte. Daneben war er viel auf Reisen, hielt sich aber länger auch in Brüssel auf sowie des öfteren in Holland, das zur Druckerei Europas avanciert war. Hier publizierte er insbesondere die anstößigeren seiner Werke, die dann zum Verkauf nach Frankreich geschmuggelt wurden.

Dank Mme du Châtelet, die aktive Naturforscherin und Mathematikerin war, entwickelte auch Voltaire vertieftes Interesse für die Naturwissenschaften. So reagierten sie 1734 beide auf eine Preisfrage der Pariser Académie des Sciences zur Natur des Feuers und reichten jeder eine Abhandlung ein, worin er wie sie eine physikalische Erklärung versuchten. Angeregt durch die Beschäftigung seiner Freundin mit dem englischen Physiker und Astronomen Isaac Newton (dessen Philosophiae naturalis principia mathematica [=die mathematischen Grundlagen der Naaturkunde] sie später übersetzte), verfasste Voltaire 1736/37 das sachbuchartige Werk Éléments (=Grundzüge) de la philosophie de Newton, worin er in allgemeinverständlicher Form dessen bahnbrechende Erkenntnisse vorstellte, die in Frankreich noch wenig bekannt waren. Seine philosophischen Diskussionen mit Mme du Châtelet, einer Verehrerin von Leibniz, könnten 1735 seinen religionskritischen Traité (=Abhandlung) de métaphysique angeregt haben, den er auf ihr Drängen aber unpubliziert ließ (gedruckt erst postum 1785).

Voltaires Domäne blieb jedoch die Literatur. 1736 lobte er in der Versepistel Le Mondain (etwa: das Weltkind) demonstrativ den Luxus und Komfort der Moderne und lud den Leser ein, sich mit ihm lustig zu machen über bestimmte, vor allem geistliche Verzichtprediger und ihr Lob der frugalen und deshalb angeblich glücklichen alten Zeiten, die in Wahrheit nur Zeiten der Armut und der Unwissenheit gewesen seien. Dass der gelobte Luxus und Komfort zu seiner eigenen Zeit nur Wenigen zugänglich waren, bedeutete ihm sichtlich kein Problem. Des weiteren schrieb er Tragödien und (seltener) Komödien, die er mit Freunden und Bekannten sowie, in Nebenrollen, sich selbst probeweise in dem kleinen Theater inszenierte, das er in dem Schlösschen hatte einrichten lassen, als er es auf seine Kosten hatte renovieren lassen. Die wichtigsten Titel dieser Zeit sind: Adélaïde du Guesclin, 1734; La Mort de César =Caesars Tod), 1735; Alzire, 1736; Mérope, 1737; Zulime, 1740; Mahomet, 1741. Die letztere Tragödie musste, nach ihrer erfolgreichen Uraufführung in Lille, 1742 nach der dritten Pariser Aufführung abgesetzt werden. Sie erschien dem königlichen Chefzensor Crébillon (s.o.) und Teilen des katholischen Klerus nicht zu Unrecht als generell religionskritisch wegen ihrer Darstellung des Propheten Mohammed als eines zynischen Machtmenschen, der z.B. fanatisierte Jünger zur Ermordung politischer Gegner anstiftet und ihm lästig gewordene Ex-Jünger umbringen lässt.

Daneben wandte Voltaire sich in Cirey wieder der Geschichtsschreibung zu und arbeitete an dem seit 1732 geplanten Siècle (=das Jahrhundert) de Louis XIV. Auch schrieb er weiter an dem bewusst respektlosen burlesken Epos La Pucelle (=die Jungfrau, sc. die 1920 heiliggesprochene „Jungfrau von Orléans“, Jeanne d'Arc), das er wohl 1730 als Parodie eines gleichnamigen Epos von Jean Chapelain (s.o.) begonnen hatte und das lange nur in privaten Abschriften und Raubdrucken zirkulierte, die oft von dritter Hand verändert worden waren.

Schon seit 1736 stand er in Briefkontakt zu Kronprinz Friedrich von Preußen (1712-86) und wurde er von ihm umworben. Im September 1740, bald nach Friedrichs Regierungsantritt, hatte er ihn in Kleve getroffen und war im November sogar einer Einladung nach Berlin gefolgt. 1742 hatte er ihn in Aachen nochmals gesehen. Im Juni 1743 wurde er deshalb vom neuen franz. Kriegsminister, seinem Schulfreund d'Argenson, mit dem Auftrag zu Friedrich geschickt, ihn zum Wiedereintritt in das Bündnis gegen Habsburg zu bewegen, aus dem er 1742 ausgetreten war, nachdem er im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748) seine Ziele erreicht hatte.

Die diplomatische Mission Voltaires blieb zwar ohne konkretes Ergebnis, doch galt er nun als Verbindungsmann zu Friedrich und durfte wieder am Hof verkehren, obwohl Louis XV ihn nicht mochte. Hier brachte er 1745 zur Hochzeit des Dauphins (Kronprinzen) seine Ballettkomödie La Princesse de Navarre zur Aufführung und etwas später das Singspiel Le Temple de la Gloire (Musik von Jean Philippe Rameau). Darüber hinaus wurde er, auch dank der Protektion der neuen Mätresse Mme de Pompadour, die er schon seit längerem kannte, zum Königlichen Chronisten (historiographe du roi) sowie 1746 zum Königlichen Kammerherrrn (gentilhomme de la chambre) ernannt, womit er offiziell in den Adelstand erhoben war. Ebenfalls 1746 wurde er, nicht zuletzt aufgrund des langandauernden Erfolges der Tragödie Mérope (Urauff. 1743), zum Mitglied der Académie Française gewählt (was der König 1743 noch verhindert hatte).

Bald hiernach jedoch ging seine Karriere als Höfling in Versailles jäh zu Ende. Schon länger hatte er Mme de Pompadour verdrossen mit seiner Eifersucht auf einen anderen ihrer Protégés, den Tragödienautor und Königlichen Zensor Crébillon (s.o.). Als er 1747 Mme du Châtelet am Spieltisch der Königin auf Englisch vor Falschspielern warnte, nutzte Louis die Gelegenheit, ihn in Ungnade fallen zu lassen. Voltaire zog sich zurück zu der inzwischen verwitweten Duchesse du Maine, die er auf ihrem Schloss Sceaux mit seinen ersten erzählenden Prosa-Werken unterhielt, u.a. dem Kurzroman Memnon, dem späteren Zadig.

Immerhin war er dem Hof noch nahe genug, um gekränkt zu sein, als dort 1748 Crébillons jüngstes Stück, Catilina, auf Kosten des Königs aufgeführt, demonstrativ beklatscht und gelobt wurde, um ihn zu demütigen. Seinen Groll gegenüber dem Rivalen vergaß er nicht so rasch, denn in den Folgejahren verfasste er, um die eigene Überlegenheit zu beweisen, parallele Versionen zu nicht weniger als fünf von dessen Tragödien.

1748/49 lebte er mit Mme du Châtelet meist im Schloss von Lunéville, bei dem Schwiegervater von Louis XV, Stanislaus Leszczynski, der 1735 die polnische Köngiskrone hatte aufgeben müssen und mit der Grafschaft Lothringen entschädigt worden war. Hier verliebte sich Mme du Châtelet in den zehn Jahre jüngeren Offizier, Höfling und Dichter Saint-Lambert und starb im September 1749 nach der Geburt eines Kindes von ihm, das ebenfalls nicht überlebte. Voltaire war betroffen, auch wenn er schon seit ca. 1745 intim mit der früh verwitweten Tochter seiner Schwester, Madame Denis liiert war.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris verließ er im Sommer 1750 die Stadt (die er erst 1778 wiedersehen sollte) und folgte endlich der Einladung Friedrichs nach Potsdam, wo schon andere französische Literaten und Gelehrte Hofämter innehatten und wo er zum gut dotierten Königlichen Kammerherrn ernannt wurde.

Das Verhältnis zu Friedrich bekam allerdings schon Anfang 1751 einen Riss, als Voltaire in Berlin (wo er eine Wohnung unterhielt) ein Spekulationsgeschäft mit in Preußen verbotenen sächsischen Staatsschuldverschreibungen tätigte, sich mit seinem Vermittler, dem Bankier Hirschel, zerstritt, gegen ihn prozessierte und hierbei in den wohl berechtigten Verdacht geriet, den beiderseitigen Vertrag nachträglich manipuliert zu haben. Er konnte sich nur mühsam aus der Affäre ziehen.

1751 brachte er, nach 20 Jahren Arbeit, in Berlin sein Siècle de Louis XIV heraus, eine Darstellung der franz. Geschichte des 17. Jh., mit der er, wegen der zentralen Rolle, die er darin der Institutions–, Wirtschafts- und Kulturgeschichte zuweist, in der Geschichtsschreibung neue Maßstäbe setzte. Seine kulturhistorische Ausrichtung wurde noch deutlicher im Abrégé de l'Histoire universelle (=Abriss der Weltgeschichte), den er 1750/51 stückweise im Mercure de France publizierte. Ebenfalls 1751 ließ er eine dritte Gesamtausgabe seiner Werke drucken, in nun schon 11 Bänden.

Eifersüchtig und rechthaberisch, wie er durchaus sein konnte, verfeindete er sich in Sanssouci bald mit einigen seiner Kollegen. Vor allem hatte er es auf einen alten Bekannten von Mme du Châtelet abgesehen, den Präsidenten der Berliner Akademie, Maupertuis, einen verdienten Mathematiker und Naturforscher, den er selber Friedrich einst empfohlen hatte. Insbes. unterstützte er (zu Recht) dessen Gegner in einem Prioritätsstreit, den Mathematiker Samuel König, wobei er 1753 eine spöttische Satire auf Maupertuis verfasste, La Diatribe du Docteur Akakia. Als er sie entgegen der Bitte Friedrichs, der seinerseits zu Maupertuis hielt, publizierte und mit Verbot und sogar Verbrennung der Schrift bestraft wurde, musste er enttäuscht erkennen, dass er in Potsdam nur einer neben anderen Höflingen war. Er bat um seine Entlassung, wurde aber nur zu einer Kur beurlaubt. Von Leipzig aus attackierte er nochmals Maupertuis und wurde nun in Ungnade entlassen. Bei einem Aufenthalt in der Freien Reichsstadt Frankfurt wurde er auf Ersuchen Friedrichs sogar festgesetzt und unter dem Verdacht, er habe unbefugt ein Manuskript von ihm mitgenommen, einer demütigenden Gepäckkontrolle unterzogen. Schon 1757 jedoch vermittelte Friedrichs Schwester Wilhelmine eine Versöhnung zwischen beiden Männern und sie wechselten wieder höfliche Briefe.

Nach Stationen an einigen kleineren deutschen Höfen (Gotha, Kassel, Mainz, Mannheim) wartete Voltaire in den elsässischen Städten Straßburg und Kolmar vergeblich auf die Erlaubnis, nach Paris zurückkehren und wieder in seine Versailler Hofämter eintreten zu dürfen. 1755 schließlich kaufte er sich in der schweizerischen Stadtrepublik Genf eine Villa am Stadtrand und gedachte sich dort niederzulassen. Doch während in Paris mit Erfolg sein neues Stück L'Orphelin de la Chine (=das Waisenkind aus China) aufgeführt wurde, bekam er in Genf ersten Ärger mit dem theaterfeindlichen kalvinistischen Kirchenrat, weil er, wie einst in Cirey, private Aufführungen in seinem Haus organisierte.

Wie fast alle aufgeklärten Europäer war auch Voltaire Ende 1755 erschüttert und sah er sich in seinem bisherigen Theismus verunsichert durch das verheerende Erdbeben von Lissabon. Seine Reaktion war das Langgedicht Poème sur le désastre de Lisbonne (=Gedicht über die Katastrophe von L.), in dem er u.a. den naiven Optimismus des englischen Autors Alexander Pope zurückweist, wonach „alles was ist, richtig ist“. 1756 veröffentlichte er seinen monumentalen Essai sur l'histoire générale et sur les mœurs et l'esprit des nations, eine aus dem Abrégé erwachsene Kulturgeschichte der Menschheit, die er insgesamt auf dem Weg des Fortschritts sieht, auch wenn er selbst seinen einstigen Optimismus weitgehend eingebüßt hatte und weiter einbüßte angesichts der Gräuel des beginnenden Siebenjährigen Krieges (1756-63).

Ebenfalls 1756 begann er seine Mitarbeit an dem 1746 von Denis Diderot (s.u.) und Jean d'Alembert initiierten Groß-Lexikon, der Encyclopédie, was ihm sogleich neuen Ärger in Genf eintrug, weil er d'Alembert für dessen kritischen Artikel „Genève“ mit Informationen versorgt hatte.

1757 kehrte Voltaire Genf den Rücken und ging einmal mehr auf Reisen. 1758 schrieb er (z.T. im Schloss von Schwetzingen) sein wohl erfolgreichstes und heute bekanntestes Werk, den philosophischen Kurzroman Candide ou l'optimisme (gedruckt 1759). Hierin demonstriert er in einer aktionsreichen Handlung, die den damaligen Liebes- und Abenteuerroman mit seinen oft unwahrscheinlichen Wendungen parodiert, wie die Welt vom Zufall beherrscht wird und keineswegs von einer ordnenden höheren Macht, an die zu glauben naiv ist angesichts von Kriegen, Naturkatastrophen und menschlichen Grausamkeiten. Und scheinbar lakonisch, de facto aber voller Ironie und Sarkasmus führt er den ihm als illusorisch erscheinenden Optimismus von Leibniz, Christian von Wolff und anderen Philosophen der Zeit ad absurdum, um am Schluss die tägliche Arbeit als einziges probates Mittel gegen das Unglück in der Welt zu empfehlen.

Obwohl fern von Paris, beteiligte er sich gegen 1760 mit Pamphleten, Satiren und Epigrammen, u.a. gegen den Literaturkritiker und Feuilletonisten Fréron (s.u.), an der Abwehrschlacht der Autoren und Sympathisanten der Encyclopédie gegen deren konservative Gegner, die 1758 ein zweites Druckverbot erwirkt hatten und 1759 sogar die Indizierung des Werkes durch den Papst.

Mit 64 befolgte Voltaire das berühmte Schlusswort von Candide, wonach man „seinen Garten bestellen“ soll, und kaufte 1758 bzw. 1759 im franz. Grenzgebiet nahe Genf die Landgüter Ferney und Tourney. Diese bewirtschaftete er bis zu seinem Tod sehr innovativ und effizient, durchaus auch zum Vorteil seiner Pächter und Landarbeiter, für die er im Winter einträgliche Heimarbeit organisierte, z.B. die Produktion von Seidenstrümpfen und Uhren. Zusammen mit Madame Denis, seinem treuen Sekretär Wagnière und einigen anderen Vertrauten verbrachte er in Ferney seinen letzten Lebensabschnitt, der den Zenith seiner Karriere bedeuten sollte.

Wie eh und je schrieb er weiterhin unablässig, und zwar Dutzende von Werken. So beteiligte er sich 1760 mit dem gegen seine Gewohnheit in Prosa verfassten Stück Le Café, ou L’Écossaise erfolgreich an der Durchsetzung der neuen Gattung „drame (bourgeois)“, die kürzlich von Diderot lanciert worden war. Daneben schrieb er nach dem Erfolg des Candide weitere Erzählungen, u.a. den meisterhaften empfindsam-philosophischen Kurzroman L'Ingénu/Das Naturkind (eigentl. der Unbedarfte, 1767). Aber auch die Geschichtsschreibung blieb auf seinem Programm, mit z.B. der Histoire de l'Empire de Russie sous Pierre le Grand (=Geschichte des russischen Reiches unter Peter dem Großen, 1763). Ein anderer Schwerpunkt seines Schaffens waren philosophische Werke im engeren Sinne, darunter zahlreiche Dialogues philosophiques oder, als Reaktion auf eine religiös motivierte Justizmord-Affäre, der Traité sur la tolérance (1763) oder das Dictionnaire philosophique portatif (etwa: Philosophisches Taschenlexikon, 1764). Das Dictionnaire, das den Typ des „tragbaren“ einbändigen Konversationslexikons schuf, war sehr erfolgreich und wurde häufig nachgedruckt. Es deckte die zahlreichen Widersprüche innerhalb der Bibel und viele Schwachstellen der katholischen Theologie auf und versorgte so die europäischen Intellektuellen der Zeit mit bibel- und religionskritischen Argumenten. Noch im 19. Jh. diente es der laizistischen und antiklerikalen franz. Bourgeoisie bei ihrem Kampf um die Emanzipation der Zivilgesellschaft und des Staates von der Kirche und war eines der wichtigsten Motive für den Hass, der Voltaire in katholisch-konservativen Kreisen bis ins späte 19. Jh. entgegengebracht wurde.

Vor allem aber empfing er als „patriarque de Ferney“ in seinem Schlösschen Besucher aus ganz Europa (1777 sogar den inkognito angereisten Kaiser Joseph II.) und wechselte Briefe mit zahllosen, meist hochstehenden Personen. Zugleich kämpfte er mit der Macht seiner stetig wachsenden Autorität publizistisch gegen staatliche Willkür, Rückständigkeit, Obskurantismus und Intoleranz. Als er sich z.B. 1762 und 1766 unter dem Beifall des gesamten aufgeklärten Europas in die Justizmord-Affären um den Protestanten Jean Calas und und den angeblichen Atheisten (und Dictionnaire-Leser) La Barre einschaltete, konnte er die Opfer zwar nicht retten, erreichte aber die nachträgliche Rehabilitierung zumindestens von Calas. (La Barre wurde erst 1793 rehabilitiert.) Für den ebenfalls von einem Justizmord bedrohten Protestanten Sirven (1764) erkämpfte er eine Revision des Urteils mit Freispruch und Entschädigung.

1775 ließ er einmal mehr eine Gesamtausgabe seiner Werke drucken, nunmehr in schon 40 Bänden.

Anfang 1778 reiste er nach Paris, um der Uraufführung seines neuen Stücks Irène beizuwohnen. Er wurde wie in einem Triumphzug empfangen und konnte sich kaum retten vor Einladungen und Ehrungen, darunter der Aufnahme in eine Freimaurerloge. Nach drei Monaten Paris brach der 84-Jährige entkräftet zusammen und starb. Ein geschickt agierender Neffe verschaffte ihm ein kirchliches Begräbnis in aller Stille.

Erst postum wurde nach und nach die umfängliche Korrespondenz Voltaires publiziert. Sie umfasst mehr als 22.000 Briefe (darunter gut 15.000 von ihm) und erscheint nachträglich als ein bedeutender Teil seines Schaffens.

Voltaire war kein systematischer Denker, d.h. kein Philosoph nach deutschem Verständnis, sondern ein „philosophe“ im Sinn der franz. Aufklärung, d.h. ein Autor, der deren Theoreme sowohl in philosophischen als auch belletristischen, historischen und naturwissenschaftlichen Schriften vertrat sowie auch publizistisch aktiv war. Er selbst sah sich aufgrund seiner an die 50 z.T. sehr erfolgreichen Stücke wohl in erster Linie als bedeutenden Dramatiker. Epochemachend gewirkt haben vor allem jedoch die historiografischen Werke, und zwar einerseits durch ihre neue kulturhistorische Ausrichtung und zum andern dank ihrer stilistischen Eleganz und ihrer Allgemeinverständlichkeit. Sie eröffneten eine Tradition, die die franz. Geschichtsschreibung geprägt hat. Bis in die heutige Zeit lebendig geblieben sind einige seiner kurzen „philosophischen Romane“ wie Zadig, L’Ingénu und vor allem Candide.

Die theologische Position Voltaires war (und blieb zumindest nach außen) die des Theismus, d.h. des Glaubens an die Existenz eines Schöpfergottes, der sich auch weiterhin um seine Schöpfung und speziell die Menschen wohlwollend kümmert und dabei gutes Handeln noch zu Lebzeiten belohnt bzw. böses bestraft. Das bekannte Diktum „Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden“ sowie auch andere Indizien zeigen Voltaire allerdings eher als Agnostiker, wenn nicht als verkappten Atheisten.

(Stand: Juni 08)

Denis Diderot (*5.10.1713 Langres; †30.7.1784 Paris).

Zu seinen Lebzeiten weniger berühmt als Voltaire oder Rousseau, gilt Diderot inzwischen als ebenbürtig und als einer der originellsten Köpfe der europäischen Aufklärung insgesamt. Er war als Philosoph in vielen Bereichen und als Literat in vielen Genera (außer Lyrik) aktiv. Nach Deutschland hinein wirkte er vor allem als Theoretiker des „bürgerlichen Trauerspiels“ (drame bourgeois). Heute scheint er hier nur als ein Aufklärer unter vielen andern bekannt.

Er wuchs auf in der Bischofstadt Langres (Champagne) als ältester Sohn eines wohlhabenden, jansenistisch-frommen Messerschmiedemeisters. Da er später die Domherren-Pfründe eines Onkels übernehmen sollte, wurde er schon mit 13 tonsuriert. Zur Schule ging er zuerst bei den Jesuiten in Langres, dann im jansenistisch orientierten Collège d'Harcourt in Paris.

Statt jedoch nach dem Abschluss der propädeutischen Studien mit der maîtrise ès arts (1732) Theologie zu studieren (was dann sein jüngerer Bruder für ihn tun musste), führte Diderot in Paris ein ungebundenes Leben, jobbte, las, fand Anschluss an andere junge Intellektuelle (d'Alembert, Rousseau, Condillac, Melchior Grimm) und begann zu schreiben sowie aus dem Englischen zu übersetzen.

Als er 1743 den Segen seines Vaters für die Heirat mit einer besitz- und aussteuerlosen Wäsche-Verkäuferin einholen wollte, ließ dieser ihn kraft seiner väterlichen Autorität in einem Kloster einsperren. Naturgemäß bestätigte diese Erfahrung Diderots Antipathie gegen die Kirche und ihre Institutionen, speziell die Klöster – eine Antipathie, die sich später noch dadurch verstärkte, dass seine jüngste Schwester (die freiwillig Nonne geworden war) in ihrem Kloster geisteskrank wurde. Diderot konnte jedoch nach einigen Wochen aus der Gefangenschaft fliehen, kehrte nach Paris zurück und heiratete heimlich. Allerdings fand er seine Frau nach der baldigen Geburt einer Tochter (die sehr schnell starb) offenbar langweilig und liierte sich 1745 nebenher mit einer gebildeten aventurière, Mme de Puisieux. Trotzdem hatte er 1746 wieder einen Sohn (der 5-jährig starb), 1750 einen weiteren Sohn (der als Säugling starb) und 1753 wieder eine Tochter (die als Einzige ihre Eltern überlebte).

Da er schon eine Geschichte der alten Griechen, ein medizinisches Lexikon und einen philosophischen Traktat von Shaftesbury aus dem Englischen übersetzt hatte, erhielt er 1746 von einem Pariser Buchhändler-Verleger das Angebot, die kürzlich abgeschlossene Cyclopedia or Universal Dictionary of the Arts and Sciences zu übersetzen. Er nahm an, beschloss aber, das Werk beträchtlich zu erweitern um daraus eine Summa des gesamten Wissens seiner Zeit zu machen. Hierzu gewann er als Mitherausgeber seinen Freund Jean Le Rond d'Alembert, einen Mathematiker und Naturwissenschaftler, sowie nach und nach als Mitarbeiter andere Autoren, die teils sonst wenig bekannte Spezialisten waren, wie der junge Musikologe Jean-Jacques Rousseau, teils aber auch schon berühmte Leute wie Montesquieu und Voltaire.

1749 allerdings musste er einige Monate pausieren, als er wegen seiner mehr nebenher verfassten religionskritischen Schrift Lettre sur les aveugles in der Festung Vincennes inhaftiert wurde. Diderot war deshalb in Zukunft vorsichtiger und ließ, um den Fortgang der Encyclopédie nicht zu gefährden, viele andere seiner philosophischen Schriften unpubliziert.

1750 verfasste er einen in ganz Europa verschickten prospectus, in dem er Interessenten zur Subskription der Encyclopédie aufrief. 1751 erschienen die beiden ersten Bände der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des arts et métiers, par une société de gens de lettres. Der buchhändlerische Erfolg war enorm, doch die Jesuiten und die Sorbonne diagnostizierten eine unchristliche Tendenz des Ganzen und erwirkten beim königlichen Conseil d'État ein Verbot. Da aber Mme de Pompadour (die Geliebte von Louis XV), einige Minister, viele einflussreiche Freimaurer und der Chefzensor Malesherbes auf der Seite der Encyclopédisten standen, konnten trotz des Verbots 1753-56 vier weitere Bände erscheinen. Danach jedoch wuchs der Druck der Gegner, einer unheiligen Allianz von neidischen Literaten und orthodoxen Frommen. 1758, nach dem Attentatsversuch eines gewissen Damiens auf Louis XV, wurde das Verbot erneuert, 1759 setzte Papst Clemens VII das Werk auf den Index. Inzwischen hatte aber die franz. Regierung die Deviseneinnahmen schätzen gelernt, die trotz des Siebenjährigen Krieges (1756-63) der Verkauf der Encyclopédie aus ganz Europa hereinholte, und man ermutigte Diderot unter der Hand zum Weitermachen. Er brachte die letzten zehn Bände samt 5 Bänden Abbildungen heraus (1765), zog sich dann aber – nach 20 Jahren Arbeit – zurück und überließ seinen Nachfolgern die Herausgabe der letzten Abbildungsbände, die, wie schon die ersten, viel zum Ruhm des Unternehmens beitrugen.

Neben der Encyclopédie hatte Diderot immer auch andere Werke in Arbeit. Schon 1746 hatte er im Anschluss an die Shaftesbury-Übersetzung seine Pensées philosophiques publiziert, worin er erstmals materialistische und atheistische Vorstellungen vertrat. 1748 schrieb und druckte er einen libertinen Roman, Les bijoux indiscrets, der ein Skandalerfolg wurde (und in Literaturgeschichten für Schüler und Studenten oft unerwähnt bleibt). 1749 publizierte er, wie erwähnt, die philosophische Schrift Lettre sur les aveugles, worin er ausgehend von der These, dass ein blind Geborener keine Möglichkeit habe, die Existenz Gottes als Schöpfers der Welt zu erdenken, diese Existenz überhaupt bezweifelt. Die Strafe waren, nachdem schon zwei Jahre vorher sein Gemeindepfarrer ihn als gottlosen "homme très dangereux" denunziert hatte, einige Monate Haft in Vincennes (s.o.) 1751 trug Diderot bei zu einer Grundlegung der philosophischen Ästhetik mit der Lettre sur les sourds et muets.

In den Jahren hiernach beschäftigte er sich mit Kunstgeschichte sowie den Techniken der Malerei und wurde einer der ersten professionellen Kunstkritiker mit den Artikeln, die er von 1759 bis 1771 sowie gelegentlich auch danach für die Zeitschrift Correspondance littéraire seines Freundes Melchior Grimm verfasste, um über die Verkaufsausstellungen (Salons) zu berichten, die alle zwei Jahre von den Mitgliedern der Académie de peinture et de sculpture im Verein mit Pariser Galeristen veranstaltet wurden.

Als Naturwissenschaftler betätigte sich Diderot in den Pensées sur l'interprétation de la nature (1754), einem Plädoyer für das Prinzip des Experiments und gegen die oft nur pseudo-rationalen Naturerklärungen der Cartésiens, d.h. der rationalistischen Denker im Gefolge von René Descartes (1596–1650).

Daneben wurde Diderot sehr bedeutsam für die Entwicklung der Gattung Drama. Er verfasste einige Stücke, die heute wegen ihrer ereignisarmen und oft unwahrscheinlichen Handlung kaum mehr aufgeführt werden, zu ihrer Zeit aber erfolgreich waren dank ihrer eindringlichen Darstellung widersprüchlicher Gefühle und innerer Konflikte in einem als zeitgenössisch und real intendierten Milieu (das wohl als großbürgerlich-neuadelig vorzustellen war). Am bekanntesten wurden Le Fils naturel (1757), worin ein junger Mann sich tugendhaft dazu durchringt, seinem Freund die Braut nicht auszuspannen, in die er sich wider Willen verliebt hat und die auch ihrerseits sich magisch von ihm angezogen fühlt (und sich am Ende als seine Halbschwester herausstellt), sowie Le Père de famille (1758), worin ein Familienvater, der für seine beiden heiratsfähigen Kinder eigentlich passende Konventionalehen anstrebt, ihnen erst nach langen inneren Konflikten die Liebesheiraten gestattet, die sie selber wünschen (und die sich nachträglich als sozial akzeptabel erweisen). Wichtiger noch als die Stücke wurden die theoretischen Abhandlungen Diderots (u.a. De la poésie dramatique, 1758). Sie begründeten ein neues Genre: das außerhalb der traditionellen Gattungen Tragödie und Komödie angesiedelte drame bourgeois (bürgerliches Trauerspiel), das besser als jene die Realität der Epoche darstellen und selbstverständlich keine Verse, sondern Prosa verwenden sollte.

Zugleich arbeitete Diderot immer wieder auch an Romanen und Erzählungen, die rückblickend erstaunlich modern wirken, meist aber erst postum erschienen. So verfasste er 1760/61 den kirchenkritischen und zugleich empfindsamen meisterlichen kleinen Roman La Religieuse, der den Leidensweg einer unfreiwilligen Nonne beschreibt und heute wohl sein meistgelesenes (und verfilmtes) Werk ist (gedruckt erst 1796). 1760-64 schrieb er den experimentellen Roman Le Neuveu de Rameau (erstmals gedruckt in Goethes deutscher Übersetzung 1805, in einer franz. Rückübersetzung 1821, im endlich wiederentdeckten Originaltext erst 1891). 1773 stellte er den schwer klassifizierbaren Roman Jacques le Fataliste fertig (gedruckt erst 1796).

Hauptanliegen Diderots waren aber seine philosophischen Schriften. Hierin vertrat er neben den erwähnten kirchen- und religionskritischen Positionen eine sehr optimistische „natürliche Moral“, in der typisch aufklärerischen Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus gut sei und dass in einer Gesellschaft selbständig denkender und emanzipierter Individuen das persönliche Glück und allgemeines Wohlergehen zusammenfallen müssten.

Neben der unermüdlichen Arbeit führte Diderot ein reges gesellschaftliches Leben in Kreisen der philosophes, d.h. der kritisch eingestellten Pariser Intellektuellen (Condillac, Turgot, Helvétius, d'Holbach usw.), aber auch in einigen adeligen Salons. Ab 1755 stand er in einem regen „empfindsamen“ Briefwechsel mit der hochgebildeten Sophie Volland.

Ähnlich wie Voltaire war auch Diderot auf der Suche nach dem aufgeklärten Monarchen. Er fand ihn in der (aus Deutschland stammenden) russischen Zarin Katharina, die ihm 1765 pro forma seine Bibliothek abkaufte, ihn generös als Bibliothekar besoldete sowie mit Geld für Neuanschaffungen ausstattete und ihn 1773 einige Monate am Hof von Sankt-Petersburg verwöhnte (wohin nach seinem Tod 1784 denn auch die Bibliothek verfrachtet wurde).

(Stand: Okt. 09)

Jean-Jacques Rousseau (*28.6.1712 Genf; †2.7.1778 Ermenonville bei Paris).

Er war als Person ein Leben lang schwierig und ist als Autor schwer klassifizierbar. Er zählt jedoch zu den zentralen Figuren der französischen Geistesgeschichte des 18. Jh. Seine literarische Nachwirkung in ganz Europa wie auch sein Einfluss auf die Pädagogik und auf die politische Theorie der Revolutionszeit und des 19. Jh. sind kaum zu überschätzen. In Deutschland figuriert er meist in der Rubrik ‚Philosoph’.

Er wurde geboren als Sohn eines protestantischen Genfer Uhrmachers franz. Herkunft, der vor der Heirat einige Jahre im türkischen Istanbul gearbeitet hatte. Seine Mutter, Tochter eines protestantischen Pfarrers, starb kurz nach seiner Geburt, woraufhin eine der zahlreichen Schwestern des Vaters einzog und sich offenbar liebevoll um Kind und Haushalt kümmerte. Der Vater scheint sich im Rahmen seiner Möglichkeiten um die Erziehung des häufig kränkelnden Knaben bemüht und die Lust zur Lektüre in ihm geweckt zu haben. Er verließ jedoch nach einer Rauferei mit einem Offizier fluchtartig Genf und verschwand so aus dem Leben Rousseaus. Dieser kam nun – er war eben 10 - kurz zu einem Pfarrer in Pension, wo er öfter gezüchtigt wurde. Danach lebte er einige Zeit als Randfigur im Haushalt einer anderen Tante väterlicherseits.

Mit 12 wurde er als Lehrling zu einem Gerichtsschreiber gegeben und ein Jahr später zu einem Graveur, der ihn wegen seiner Bockigkeit schlug. Als er 1728 bei der Rückkehr von einem Sonntagsausflug das Genfer Stadttor schon verschlossen fand, folgte er kurzentschlossen einer schon länger gehegten Idee und ging auf Wanderschaft. Einige Tage später, in Savoyen, geriet er an einen katholischen Pfarrer, der ihn an die knapp 30-jährige Mme de Warens in Annecy verwies, die gerade konvertiert war und eine Pension vom Herzog von Savoyen erhielt, um ihrerseits Protestanten zu bekehren. Sie nahm sich Rousseaus an, schickte ihn aber rasch weiter nach Turin, wo er sich im Hospice des catéchumènes kurz unterweisen und katholisch taufen ließ.

Nachdem er ein Jahr als Diener und als Sekretär in vornehmen Häusern Turins verbracht hatte, kehrte er 1729 zurück zu Mme de Warens. Ihrem Vorschlag folgend ließ er sich in das Priesterseminar in Annecy aufnehmen, hielt es aber dort nicht lange aus. Da er sich gern als Sänger an ihren Hausmusikabenden beteiligt hatte, vermittelte Mme de Warens ihn nun an den Leiter der Dom-Musikschule, der ihn zu sich nahm und in Chorgesang und Flötenspiel unterrichtete. Es folgten einige fruchtbare Monate, in denen Rousseau die Grundlagen seiner musikalischen Kenntnisse erwarb. Als der Musikmeister 1730 Annecy verließ und nach Lyon ging, begleitete Rousseau ihn dorthin, trennte sich aber bald von ihm.

Zurück in Annecy, stellte er fest, dass Mme de Warens eine Reise nach Paris angetreten hatte. Er ging deshalb ebenfalls auf Wanderschaft, versuchte sich u.a. als Musiklehrer in Lausanne und Neuchâtel und marschierte 1731 zu Fuß nach Paris, wo er den Sommer als Diener eines reichen jungen Schweizers verbrachte. Nachdem er erfahren hatte, dass Mme de Warens wieder in Savoyen war, nunmehr in Chambéry, wurde er im Herbst wieder bei ihr vorstellig und wie ein Ziehsohn aufgenommen.

Bei ihr wohnend arbeitete er zunächst 8 Monate beim Katasteramt, verlegte sich 1732 aber auf Musikunterricht. Es folgten fünf glückliche und für seine Bildung sehr fruchtbare Jahre. Er las, musizierte, trieb naturkundliche Studien und begann zu schreiben. Auch ließ er sich – etwas widerstrebend – von "Maman" (die nur 13 Jahre älter war als er) in die Kunst der Liebe einführen. Den Winter 1737/38 verbrachte er in Montpellier, um eine Augenverätzung behandeln zu lassen, die er bei einem chemischen Experiment erlitten hatte. Als er zurückkehrte, fand er einen Rivalen vor: den neuen Sekretär und Hausverwalter von Mme de Warens. Er blieb dennoch zwei weitere Jahre in Chambéry und verdingte sich anschließend (1740) als Hauslehrer in Lyon.

1742 reiste er nach Paris, um ein von ihm entwickeltes Notensystem von der Académie des Sciences patentieren zu lassen. Er durfte es dort präsentieren, bekam auch ein Zertifikat und ließ Anfang 1743 seine Präsentation als Dissertation sur la musique moderne gedruckt erscheinen, doch setzte sein System sich nicht durch.

Immerhin erhielt er in Paris Zugang zu dem bekannten literarischen Salon von Madame Dupin und konnte einige Verbindungen knüpfen. Auch begann er eine Oper: Les Muses galantes. Im Sommer 1743 wurde er dem neuernannten franz. Botschafter in Venedig als Privatsekretär empfohlen und reiste dorthin. Das Verhältnis endete aber bald im Streit, und Rousseau kehrte im Herbst 1744 zurück nach Paris.

Hier fand er 1745 Anschluss an diverse Mäzene (bei denen er seine inzwischen fertige Oper aufführen konnte) und an Diderot (s.o.), über den er andere junge Intellektuelle im Umkreis der späteren Encyclopédistes oder „philosophes“ kennenlernte, insbes. Jean Le Rond d’Alembert, den Mitherausgeber der 1746 von Diderot initiierten Encyclopédie. Ebenfalls 1745 liierte er sich mit dem 23-jährigen Zimmermädchen Thérèse Levasseur.

Die nächsten Jahre waren, ohne eigentlich erfolglos zu sein, eine Zeit des Tastens (z.B. schrieb er 1747 eine Komödie, L’Engagement téméraire) sowie der materiellen Unsicherheit. Letztere führte auch dazu, dass er und Thérèse ihre 1746 und 48 geborenen Kinder jeweils in der Kinderklappe eines Nonnenklosters abluden, wo sie, wie die allermeisten der so entsorgten Säuglinge, wahrscheinlich nicht überlebten. Rousseau entschuldigte diese damals durchaus gängige Problemlösung später damit, dass seine Arbeit schlecht oder gar nicht honoriert worden sei, so dass Thérèse für beider Lebensunterhalt habe aufkommen müssen und sich nicht mit Kindern habe belasten können.

1749 war das entscheidende Jahr für Rousseau. Zu Jahresbeginn wurde er von d'Alembert mit der Abfassung musikologischer Artikel für die Encyclopédie betraut. Im Herbst besuchte er den in der Festung Vincennes inhaftierten Diderot und las unterwegs in der Zeitschrift Mercure de France die Preisfrage der Académie von Dijon: Le Rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les mœurs? (Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten reiner werden zu lassen?) Er hatte die provokante Idee, die Frage zu verneinen, und schrieb seinen Discours sur les Sciences et les Arts (Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste), worin er die nach Luxus strebende zeitgenössische europäische Gesellschaft in die sittliche Dekadenz abgleiten sieht. Der im Mercure abgedruckte Discours lief den Vorstellungen der meisten Intellektuellen der Zeit zwar völlig entgegen, stieß aber trotzdem auf starkes Interesse. Rousseau erhielt 1750 den ersten Preis und wurde dank der heftigen Diskussionen, die er auslöste, über Nacht bekannt.

Inzwischen verdiente er auch etwas Geld und konnte mit Thérèse zusammenziehen, was sie beide nicht hinderte, 1751 auch ein drittes Neugeborenes zu entsorgen.

Ende 1752 wurde mit großem Erfolg seine neue Oper Le Devin de village in Versailles vor dem Hof und danach, 1753, auch in Paris aufgeführt. Rousseau sollte sogar dem König vorgestellt werden, doch entzog er sich der Ehrung (und verpasste damit wahrscheinlich die Zuweisung einer jährlichen „Pension“). Nach dem Erfolg des Devin wurde vom Théâtre-Français auch seine Komödie Narcisse, ein Jugendwerk, angenommen.

Er hätte sich nun etablieren können, doch fing er an, in eine Art Fundamentalopposition abzugleiten. Noch 1753 begann er eine zweite höchst kritische Preisschrift (s.u.) und ließ eine Lettre sur la musique française erscheinen, worin er die franz. Musik gegenüber der italienischen herabsetzte. Das Opernorchester reagierte mit dem Erhängen einer Rousseau-Puppe. 1754 reiste er (mit Zwischenstation bei Mme de Warens) nach Genf, nahm die dortige Staatsbürgerschaft wieder an und schwor dem Katholizismus ab.

1755 wurde er der Staatsgewalt und allen Etablierten verdächtig, als er, vorsichtshalber in Amsterdam, seinen Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes erscheinen ließ, eine Antwort auf die Preisfrage der Académie von Dijon im Jahr 1753: Quelle est l'origine de l'inégalité parmi les hommes, et est-elle autorisée par la loi naturelle? Denn Rousseau, der kleinbürgerliche Habenichts, erklärt hierin die soziale Ungleichheit aus der Herausbildung der Arbeitsteilung und der dadurch ermöglichten Aneignung der Erträge der Arbeit Vieler durch einige Wenige, die anschließend autoritäre Staatswesen organisieren, um ihren Besitzstand zu schützen. Rousseau wurde mit dieser wahrhaft revolutionären Schrift einer der Väter des europäischen Sozialismus.

Anfang 1756 lehnte er den Bibliothekarsposten ab, den ihm die Stadtrepublik Genf anbot. Stattdessen zog er (mit Thérèse, die ihm inzwischen wohl nur noch als Haushälterin diente) nach Montmorency nördlich von Paris, als Gast der vielseitig interessierten und selbst schriftstellernden Mme d'Épinay, einer Freundin von Diderot. Mit diesem und dem Kreis der „philosophes“ verfeindete er sich allerdings 1758, als er auf den kritischen Artikel „Genf“, den d’Alembert für die Encyclopédie verfasst hatte, mit der Lettre à d'Alembert sur les spectacles reagierte, worin er das Theater, ein Lieblingskind der Aufklärung und zunächst ja durchaus auch von ihm selbst, als potentiell unsittlich und als unnütz anprangerte.

In Montmorency, wo er 1758 ein Häuschen für sich und Thérèse mietete, vorübergehend aber auch Gast des hochadeligen Duc de Luxembourg war, schrieb er – teilweise nebeneinander – innerhalb von knapp sechs Jahren seine erfolgreichsten und langfristig wirksamsten Werke. Dies waren: der empfindsame Briefroman La Nouvelle Héloïse (1756-58), der die letztlich unmögliche Liebe des bürgerlichen Intellektuellen Saint-Preux zu der adeligen Julie d'Étanges darstellt und z.T. von Rousseaus Leidenschaft für die Schwägerin von Mme d’Épinay, Mme d’Houdetot, inspiriert war; weiter der pädagogische Roman Émile (1758-61), der das Ideal einer "natürlichen" kindgemäßen Erziehung entwickelt; sowie der staatsphilosophische Traktat Le Contrat social (1760/61), der die Rechte der Individuen gegenüber dem Staat, aber auch dessen Ansprüche gegenüber den Individuen zu definieren und zu begründen versucht und den heute so wichtigen Begriff der Volkssouveränität kreiert, auf dem die Legitimität von Volksentscheiden und allgemeinen Wahlen gründet.

La Nouvelle Héloïse war sofort nach dem Erscheinen Anfang 61 ein großer Erfolg und löste eine Flut von Briefromanen in ganz Europa aus, darunter 1774 Goethes Werther. Der Contrat social und der Émile dagegen wurden nach ihrem Erscheinen im April bzw. Mai 1762 verboten. Vor allem entfesselte die im Émile als Einschub enthaltene Profession de foi d'un vicaire savoyard (=Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars) einen Sturm der Entrüstung bei allen orthodoxen Christen, gleich ob Katholiken oder Protestanten, die nicht gewillt waren, Rousseaus Verklärung der Natur zu einer Quasi-Gottheit hinzunehmen. Die Sorbonne verurteilte das Buch Anfang Juni und das Pariser Parlement erließ einige Tage später Haftbefehl gegen Rousseau. Dieser flüchtete sofort Richtung Schweiz, nicht ahnend, dass noch im Juni auch in Genf ein Verbot samt Haftbefehl erlassen wurde.

Er fand Aufnahme bei einem Freund im Kanton Bern, wurde dort aber rasch ausgewiesen. Im Juli 62 wandte er sich über den Gouverneur des damals preußischen kleinen Fürstentums Neuenburg/Neuchâtel an Friedrich den Großen, der ihm im August Asyl und später sogar Bürgerrecht gewährte. Er ließ sich im neuenburgischen Städtchen Môtiers nieder, holte Thérèse dorthin nach und begann, sich als Armenier zu kleiden. Noch von Ende 62 datiert seine erste Verteidigungsschrift, ein offener Brief an den Pariser Erzbischof, der im August den Émile verurteilt hatte. Anfang 1763 stellte er in Môtiers sein Dictionnaire de la musique fertig. 1764 fing er dort an, botanische Studien zu treiben.

Als er sich Ende 1665 auch in Môtiers unwillkommen und verfolgt fühlte, nahm er eine Einladung des Philosophen David Hume nach England an und ließ sich einen Durchreise-Pass für Frankreich ausstellen. Unterwegs konnte er feststellen, dass er inzwischen durchaus auch Bewunderer hatte: Bei einem Aufenthalt in Straßburg wurde er mit einer Aufführung seines Devin de village geehrt, in Paris logierte er bei dem Prince de Conti und empfing in dessen Haus Besuche.

1766 und die erste Jahreshälfte 67 verbrachte er überwiegend in England, anfangs bei Hume, mit dem er sich aber zerstritt und der ihn attackierte. Immerhin fand Rousseau auch in England Sympathisanten vor, die z.B. den König bewogen, ihm eine Pension zu gewähren

1767/68 lebte er an verschiedenen Orten Frankreichs, unter anderem auf einem Schloss von Conti. Hierbei bewegte er sich, denn der Haftbefehl war ja nicht aufgehoben, unter falschem Namen und gab Thérèse als seine Schwester aus. 1769/70 lebten sie beide auf einem Bergbauernhof in der fernen Dauphiné, nachdem sie im August 68 dort endlich geheiratet hatten.

In diesen unsteten Jahren nach 1762 wurde Rousseaus tatsächliche Verfolgung und Verunglimpfung nach und nach verschlimmert durch einen Verfolgungswahn. Dieser speiste einen Erklärungs- und Rechtfertigungszwang, aus dem heraus er ab 1763 eine ganze Reihe kürzerer und längerer autobiografischer Werke verfasste. Am bekanntesten wurden die auch die Intimsphäre und das Ego des Autors nicht schonenden umfangreichen Confessions (1765-70, erst postum publiziert), die die Untergattung der selbstentblößenden Autobiografie begründeten.

Im Frühjahr 1770 verließ Rousseau seinen Bauernhof Richtung Paris. Bei einem Aufenthalt in Lyon wurde er vom Vorsteher der Kaufmannschaft mit Aufführungen seines Devin und seines lyrischen Kleindramas Pygmalion geehrt. Ab Juni lebte er dann, zurückgezogen und von den Behörden stillschweigend geduldet, mit Thérèse in Paris. Er wurde hin und wieder in Salons zu Lesungen eingeladen und es scharte sich (denn seine Ideen breiteten sich aus) nach und nach ein Kreis von Jüngern um ihn, darunter ab 1771 der später sehr bekannte Autor Bernardin de Saint-Pierre.

1772-75 verfasste er den autobiografischen Dialog Rousseau juge de Jean Jacques. 1774 gab er sein Dictionnaire des termes d’usage en botanique in Druck. 1776-78 schrieb er sein letztes längeres Werk: die Rêveries du promeneur solitaire (=Träumereien des einsamen Spaziergängers), die auf neue Art Gegenwartsmomente zum Ausgangspunkt von autobiografischen Rückblicken machen und mit ihrer Kunst des Einfangens von Naturstimmungen in lyrischer Prosa als eine Vorbereitung der Romantik gelten.

Im Mai 78 nahm er, weil er kränkelte, die Gastfreundschaft des Marquis de Girardin auf Schloss Ermenonville an. Kurz danach starb er und wurde auf der "Île des peupliers" (=Insel der Pappeln) im Schlosspark begraben. 1794, im Gefolge der Revolution, wurden seine Gebeine triumphal ins Pariser Panthéon überführt.

Thérèse heiratete ein Jahr nach Rousseaus Tod einen jungen Engländer.

(Stand: Juni 12)

 

Élie Catherine Fréron (* 20.1.1718 in Quimper; † 10.3.1776 in Montrouge)

Zu seinen Lebzeiten ein geachteter und von den Autoren der Aufklärung gefürchteter Literaturkritiker und Polemiker, ist Fréron heute meist nur noch dank seiner Fehden mit Voltaire bekannt.

Er war Sohn eines Goldschmiedes und erhielt seine Schulbildung bei den Jesuiten, zunächst in seiner Heimatstadt Quimper (Bretagne) und dann in Paris auf dem Collège Louis-le-Grand. 1737 wurde er Novize im Jesuitenorden und war kurze Zeit auf dem Louis-le Grand als Lehrer tätig.

1739, am Ende seines Noviziats, entschied sich für eine Existenz als freier Literat und wurde Mitarbeiter in der anti-aufklärerisch orientierten Literaturzeitschrift Observations sur les écrits modernes des Abbé Desfontaines. Als diese 1745 beim Tod des Abbé eingestellt wurde, gab Fréron sogleich eine eigene Zeitschrift heraus, die Lettres de Mme la comtesse de *** sur quelques écrits modernes. Hierin profilierte er sich als so scharfsinniger wie unerschrockener und spitzzüngiger Kritiker auch etablierter Autoren, insbes. solcher, die der Aufklärung nahe standen. Schon 1746 bekam er es erstmals mit der Staatsgewalt zu tun, als auf Betreiben der königlichen Mätresse, Mme de Pompadour, seine Zeitschrift verboten und er selbst vorübergehend in Vincennes inhaftiert wurde.

1748 wurde Fréron Sekretär und Mitarbeiter des literarisch dilettierenden Duc [Herzog] d'Estouteville, mit dem zusammen er eine Teilübertragung von Gianbattista Marinos Versepos Adone (=Adonis) verfasste.

1749 gründete er eine neue Zeitschrift, die Lettres sur quelques écrits de ce temps, die jedoch schon im Folgejahr verboten wurde. 1752 reaktivierte er sie und benannte sie 1754 um in L'Année littéraire. Diese alle 10 Tage ein Heft publizierende Zeitschrift wurde dann sein Lebenswerk, das er, auch wirtschaftlich höchst erfolgreich, bis zu seinem Tod führte. Die Tendenz der Année war wiederum anti-aufklärerisch; ästhetisch war sie den Idealen der Klassik verpflichtet. Sie wurde in konservativ-katholisch und royalistisch-absolutistisch denkenden Kreisen geschätzt und viel gelesen und fungierte als ein zentrales Organ der Gegner die Aufklärung.

Hin und wieder betätigte sich Fréron auch als Historiker. Er verfasste eine Histoire de Marie Stuart (zusammen mit dem Abbé de Marsy, 1742) und eine Histoire de l’empire d’Allemagne (8 Bde., 1771).

Nachdem er zunächst ein Bewunderer Voltaires gewesen war, machte Fréron sich diesen schon zur Zeit der Observations mit sachlich-höflichen, aber bissigen Kritiken zu einem Feind, der ihn später geradezu rachsüchtig verfolgte, ihn 1760/61 mit Schmähgedichten und Pamphleten überzog und ihn sogar, in Gestalt des widerwärtigen Klatschkolumnisten Frélon, als Nebenfigur in seinem „drame“ L'Écossaise (=die Schottin, 1760) auftreten ließ. Häufig zitiert findet man auch das folgende boshafte Epigramm Voltaires:

L'autre jour, au fond d'un vallon,
Un serpent mordit Jean (sic) Fréron.
Que croyez-vous qu'il arriva?
Ce fut le serpent qui creva.

(Neulich, auf dem Grund eines Tales, biss eine Schlange J. F. Was meinen Sie, was geschah? Die Schlange war es, die krepierte.)

Fréron geriet, nach dem weitgehenden Sieg der Aufklärung, im Fortgang der Geistesgeschichte endgültig auf die Verliererseite, doch hatte er schon zu seinen Lebzeiten keinen leichten Stand. Obwohl auch er über einflussreiche Protektoren verfügte, schafften es seine Gegner, die um die Encyclopédie vereinten „philosophes“, immer wieder seine Zeitschrift verbieten zu lassen. Zweimal wurde er sogar kurz inhaftiert. Auch sein plötzlicher Tod wurde möglicherweise durch den Ärger über ein neuerliches Verbot seiner Zeitschrift bewirkt (die dann aber noch 15 Jahre lang von seinem Sohn weitergeführt wurde). Heute wird er meistens aus der Perspektive Voltaires gesehen, d.h. als böswilliger Kritikaster und selten als der intelligente Kritiker und talentierte Pamphletist, der er war.

(Stand: Juli 08)

Paul-Henri Thiry d’Holbach (* 8. 12.1723 in Edesheim bei Landau/Pfalz; † 21.1.1789 in Paris)

D’Holbach (wie er bei den Historikern schlicht heißt) war einer der Begründer des philosophischen Materialismus. Sein Buch Le Système de la Nature (1770) gilt als eines der einflussreichsten Werke der franz. Aufklärung.

Er wurde geboren als Paul-Heinrich Dietrich, Sohn eines Winzers und Enkel mütterlicherseits eines Steuereinnehmers. Er kam früh in die Obhut seines Onkels Franz Adam Holbach, der gegen 1720 durch glückliche Spekulationen an der Pariser Börse reich geworden war und sich einen franz. Baron-Titel verschafft hatte, aber in die Pfalz zurückgekehrt war.

Nachdem 1731 sein Hauslehrer, ein franz. Geistlicher, als Jansenist verdächtigt und die Bibliothek des Onkels beschlagnahmt worden war, zog dieser mit seiner Familie wieder nach Paris und nahm den 8-jährigen Neffen dorthin mit.

1744-48 studierte er Jura im holländischen Leiden, ging dann nach Paris zurück und erhielt die Zulassung als Anwalt. Praktizieren tat er aber nie, vielmehr führte er das Leben eines finanziell unabhängigen Privatgelehrten, wobei er sich vor allem für Naturwissenschaften interessierte. 1749 heiratete er eine Tochter seiner Cousine, d.h. der Tochter seines Onkels. Um dieselbe Zeit wurde er von diesem adoptiert und nannte sich nun Paul Thiry d’Holbach, wobei ‚Thiry’ (als franz. Entsprechung von ‚Dietrich’) erster Teil seines Nachnamens war.

Als 1753 der Onkel starb, erbte d’Holbach zusammen mit seiner Cousine bzw. Adoptivschwester dessen Vermögen (was ihm angeblich enorme 60.000 Livres Jahreseinkünfte bescherte) und übernahm seinen Titel eines Barons.

1754 starb seine Frau und er ging mit einem Freund, dem in Paris lebenden deutschen Baron Melchior Grimm, auf Reisen, um Abstand zu gewinnen. Danach heiratete er (mit einem teuren Dispens des Papstes) die ältere Schwester seiner Frau, mit der er mehrere Kinder bekam.

Um 1750 hatte er begonnen, in Paris einen Salon zu führen, der nach und nach zum Treffpunkt insbesondere solcher Personen der Pariser Gesellschaft wurde, die sich der Aufklärung verbunden fühlten. Einer der ersten ständigen Gäste war Denis Diderot (s.o.), mit dem d’Holbach lebenslang befreundet blieb. Von ihm ließ er sich 1751 als Mitarbeiter an dem Großlexikon Encyclopédie anwerben und verfasste in den Folgejahren – stets anonym – an die 400 Artikel in den Bereichen Geologie, Chemie, Mineralogie, Metallurgie und Medizin.

Daneben übersetzte er, als einer der raren Franzosen seiner Zeit, die des Deutschen mächtig waren, naturwissenschaftlich-technische Werke deutscher Autoren ins Franz.

Um 1765 begann d’Holbach seine Karriere als philosophischer Autor, weiterhin anonym oder unter Pseudonymen, weshalb seine Autorschaft bei einigen ihm zugeschriebenen Werken unsicher ist. Er gab zunächst zwei Schriften des 1759 verstorbenen Aufklärungsautors Nicolas Boulanger heraus und publizierte 1766 unter dessen Namen sein erstes eigenes Werk: Le Christianisme dévoilé (=das enttarnte Christentum). Diesem ließ er 1768 La Contagion sacrée (=die geheiligte Ansteckung) und La Théologie portative (=Theologie im Taschenbuchformat) folgen. Hauptthema dieser Schriften ist der Nachweis, dass Religion, zumal die christliche, den Menschen unglücklich macht, weil sie ihn entmündigt und zum Obekt gieriger und machthungriger Priester macht, weshalb man gut tut, sich vom Glauben an einen ohnehin inexistenten Gott zu lösen und stattdessen seiner Vernunft zu vertrauen und seinem legitimen Wunsch nach Verwirklichung des eigenen Glücks zu folgen.

Wie eine Bombe schlug dann 1770 das Buch Le Système de la Nature ein, das d’Holbach unter dem Namen des 1760 verstorbenen Autors Mirabaud veröffentlichte. Es wurde sofort verboten, erreichte aber trotzdem zehn Auflagen in einem Jahr und provozierte zahlreiche Gegenschriften katholischer wie protestantischer Theologen. Le Système wurde ein Manifest des Materialismus, d.h. der Überzeugung, dass der Mensch ein Stück bloße Natur und damit ein rein materielles Wesen sei, dessen körperliche, aber auch geistige und psychische Regungen quasi mechanische Reaktionen auf äußere Reize und Gegebenheiten sind. Es war zugleich implizit erneut Religions- und Kirchenkritik in dem Sinne, dass d’Holbachs Theorien den christlichen Vorstellungen eines persönlichen Gottes, einer unsterblichen Seele, eines freien Willens und einer gottgewollten (von der Kirche kontrollierten) Moral zuwiderliefen.

Noch erfolgreicher war 1772 eine Kurzfassung des Système, die unter dem Titel Le Bon sens (=der gesunde Menschenverstand) erschien und vermutlich von J.-A. Naigeon, dem Sekretär d’Holbachs, redigiert worden war.

Dieser selbst hatte sich inzwischen moralphilosophischen Überlegungen zugewandt, die er vor allem in der Schrift Le Système social (1773) formulierte. Ausgehend von der These, dass der Mensch von Natur aus vor allem nach Verbesserung seiner Situation und nach Lustgewinn strebt, erklärt d’Holbach diese Eigenschaften, weil sie keinen Stillstand dulden, zum Motor des Fortschritts. Zugleich vertraut er jedoch darauf, dass die ichbezogenen Strebungen des Menschen dadurch gezügelt und kanalisiert werden, dass er zugleich ein tugendhaftes Wesen ist, das über einen angeborenen Sinn für Gerechtigkeit verfügt und sein eigenes Glück nicht zuletzt im Glück seiner Mitmenschen findet. Eine ideale Gesellschaft wäre demnach die, der es gelingt, die Strebungen des Einzelnen sich entfalten zu lassen, sie aber dank einer entsprechenden Erziehung der ihm angeborenen Tugend für das Gemeinwohl nutzbar zu machen. Diese Gesellschaft der Tugendhaften verträgt sich für d’Holbach durchaus mit dem Bestehen unterschiedlicher Besitzverhältnisse, denn der Besitzende, der in der Regel auch tugendhaft ist, vergilt seinen Vorteil mit der Übernahme größerer Verantwortung für das Ganze, wobei der Arme ja die Möglichkeit hat, durch Fleiß und Arbeit ebenfalls zu Besitz zu gelangen.

Als 1776 der junge Louis XVI auf den Thron kam und sich mit reformwilligen Ministern umgab, verfasste d’Holbach für ihn die Schrift L’Éthocratie. Hierin fordert er eine moralische Erziehung aller, Pressefreiheit, Abschaffung der Adelsprivilegien, Trennung von Kirche und Staat, Reform des Justizwesens, Gleichberechtigung der Frau, Recht auf Ehescheidung u.ä. und schlägt ein Programm von konkreten Maßnahmen zur Verwirklichung vor. Bekanntlich siegten gegen 1780 aber noch einmal die Kräfte der Beharrung und trennte sich der König von den Reformatoren.

Wie erwähnt, führte d’Holbach ein offenes Haus, doch scharte er zugleich einen engeren Kreis um sich, der sich scherzhaft „La Coterie (=Klüngel) d’Holbach“ benannte, nach der böse gemeinten Bezeichnung Rousseaus (s.o.), der zunächst dazugehört hatte, sich dann aber ausgeschlossen und sogar verfolgt fühlte. Zu den 15 bis 20 Mitgliedern gehörten vor allem Autoren der Encyclopédie, die dort ohne Scheu Gedanken diskutieren konnten, die außerhalb des Kreises, sogar z.B. in d’Holbachs Salon, tabu waren. Auch auswärtige und ausländische Intellektuelle, die der Aufklärung nahe standen, z.B. David Hume oder Benjamin Franklin, durften bei Paris-Aufenthalten die „Coterie“ frequentieren.

(Stand: Dez. 09)

Beaumarchais (= Pierre-Augustin Caron, *24.1.1732 Paris; † 18.5.1799 ebd.).

Er ist in die Literaturgeschichte eingegangen als Schöpfer der wohl bekanntesten franz. Komödienfigur, des Figaro.

Als Sohn eines Pariser Uhrmachers lernte er zunächst auch selbst dieses Handwerk und machte mit 20 eine Erfindung, die den Bau sehr kleiner Uhren erlaubte. Stolz führte er dem horlogier du roi Lepaute die Neuerung vor und erlebte, wie dieser sie danach als seine eigene propagierte. Er wehrte sich mit einem fulminanten offenen Brief an die Académie des Sciences, die ihm recht gab, und wurde hierdurch schlagartig so bekannt, dass er Zutritt zum Hof erhielt.

Hinfort führte er, unter dem Namen Beaumarchais, ein ungewöhnlich bewegtes Leben als Höfling (er war z. B. Harfenlehrer der Töchter von Louis XV), als Salon-Animateur, Geschäftsmann, Richter für Jagddelikte, Diplomat, Häftling, Geheimagent, Vorsitzender des Verbandes der Theaterautoren, Verleger, Millionär, Politiker, Emigrant und – mehr nebenher – als Literat.

Virtuos wie niemand vor ihm beherrschte und manipulierte er die im Entstehen begriffene Öffentlichkeit und ihre Hauptmedien Druckerpresse und Theater. So machte er z. B. 1773/74 mit Denkschriften (mémoires) gegen einen angeblich korrupten Pariser hohen Richter einen privaten Rechtsstreit zum Politikum und kippte ganz nebenbei eine kurz zuvor durchgeführte Justizreform.

Heute ist Beaumarchais vor allem bekannt als Autor der Erfolgskomödien La Précaution inutile ou Le Barbier de Séville (1775) und vor allem La folle journée, ou le mariage de Figaro (verfasst und mehrfach überarbeitet 1775-78, uraufgeführt 1784). Le Mariage de Figaro ist die Geschichte eines jungen Bourgeois, der trotz aller seiner Intelligenz, Geschicklichkeit und Tüchtigkeit nur mit Mühe und Glück seinen Herrn, den eher dümmlichen, aber arroganten Grafen Almaviva, davon abhalten kann, an seiner Verlobten das "jus primae noctis" auszuüben. Das damals revoluzzerhaft wirkende und von Louis XVI nach einer Lesung spontan verbotene Stück wurde nach seiner schließlichen Freigabe und Erstaufführung ein triumphaler Erfolg, nicht zuletzt weil es offenbar die vorrevolutionäre Bourgeoisie in ihren anti-aristokratischen Ressentiments bestätigte, ohne die überwiegend relativ liberale Pariser Aristokratie zu verschrecken.

(Eine Langfassung des Artikels schließt sich an.)

Beaumarchais (=Pierre-Augustin Caron, *24.1.1732 Paris; †18.5.1799 ebd.).

Beaumarchais, wie er in der Literaturgeschichte schlicht heißt, ist in sie eingegangen als Verfasser einer der bekanntesten franz. Komödien, Le Mariage de Figaro. Er ist aber auch interessant als Subjekt einer ungewöhnlichen, sehr bewegten Biografie, die zugleich aufschlussreich ist für die Probleme eines ehrgeizigen Intellektuellen bürgerlicher Herkunft in der immer noch von Hof und Monarchie dominierten Gesellschaft des späten Ancien Régime.

Geboren als Sohn eines tüchtigen, zugleich schöngeistig und musikalisch interessierten Pariser Uhrmachermeisters, erhielt der junge Caron (ganz wie auch seine fünf älteren Schwestern) eine passable Bildung, erlernte vor allem jedoch das väterliche Handwerk sowie nebenher mehrere Musikinstrumente.

Als 20-Jähriger machte er eine Erfindung, die den Bau sehr kleiner und trotzdem ganggenauer Uhren erlaubte. Stolz zeigte er dem Hofuhrmacher (horlogier du roi) Lepaute die Neuerung und erlebte, dass dieser sie anschließend als seine eigene propagierte. Er wehrte sich mit einem geschickt gemachten und wohlformulierten, 1753 vom Mercure de France abgedruckten offenen Brief an die Académie des Sciences, die ihm Anfang 1754 Recht gab.

Dank der Affäre (die ein instruktiver Beleg ist für die sich langsam herausbildende Macht der bürgerlichen Öffentlichkeit) wurde der junge Uhrmacher so bekannt, dass er zahlreiche neue Kunden gewann, darunter König Louis XV und dessen einflussreiche Mätresse Mme de Pompadour, wonach er selbst den Titel Horlogier du roi führen durfte.

Als eine weitere Kundin, und damit nahm sein Leben einen gänzlich veränderten Lauf, lernte er die 34jährige Frau des schon ältlichen und kranken Contrôleur de la bouche du Roi kennen, d.h. des für die Speisen des Königs zuständigen Hofbeamten. Diesem kaufte er, die Uhrmacherei aufgebend, 1755 sein Amt ab und heiratete nach seinem baldigen Tod 1756 die Witwe, die einen kleinen Landsitz namens Beaumarchet mit in die Ehe brachte, allerdings schon 1757 einer Infektion erlag.

Als der ansehnliche junge Mann und gute Unterhalter, der er war, erlangte Monsieur Caron de Beaumarchais, wie er sich nun nannte, in seinem Amt des Contrôleur die Gunst der vier unverheirateten Töchter von Louis XV und avancierte zu ihrem Harfenlehrer, Hauskonzert-Organisator, Gesellschafter und Faktotum. Natürlich wurde er bald auch vom König sowie von Mme de Pompadour gekannt. Über diese erhielt er Kontakt zu ihrem Pro-forma-Gatten Lenormant d'Étioles, einem reichen und geselligen Mann, der ihn in seinen Kreis zog.

Für Lenormants Privattheater verfasste Beaumarchais in den nächsten Jahren erste Stücke, sog. Paraden (parades), heitere, gern auch derbe Sketche um das Thema Liebe, insbesondere vor und neben der Ehe, wobei er die üblichen Gesangseinlagen selbst komponierte.

1760 nahm sein Leben wieder eine neue Wendung, als es ihm gelang, zunächst die Töchter des Königs und dann diesen selbst zum Besuch und damit zur offiziellen Anerkennung der Offiziersschule zu bewegen, die der Bankier und Heereslieferant Pâris-Duverney errichtet und vorfinanziert hatte (denn Frankreich führte gerade an der Seite Österreichs den Siebenjährigen Krieg gegen Preußen und England). Beaumarchais wurde von dem dankbaren Geschäftsmann zum Juniorpartner gemacht und konnte 1761 mit einem Kredit von ihm den sehr teuren, weil unmittelbar adelnden, aber wenig Arbeit fordernden Titel eines Secrétaire du roi kaufen.

1762 demonstrierte er seinen neuen Status, indem er, wiederum mit Hilfe Pâris-Duverneys, das nur Adeligen zugängliche Amt eines Richters für Jagddelikte in den Wäldern und Feldern rund um Paris erwarb, ein Amt, das er jahrzehntelang gewissenhaft ausübte. Hiernach war ein schönes Haus in Paris an der Reihe, in das er zwei seiner Schwestern aufnahm sowie seinen verwitweten Vater, den er, als nunmehr Adeliger, zur Aufgabe seines kleinbürgerlichen Handwerks bewegte.

1764-65 weilte Beaumarchais zehn Monate teils geschäftlich für Pâris-Duverney, teils mit diplomatischen Aufträgen betraut in Madrid. Hier verkehrte er in besten Kreisen und versuchte nebenher dem spanischen König eine frankophile Mätresse anzudienen. Auch versuchte er den Verlobten einer dort lebenden Schwester, einen gewissen Clavijo, zur Einhaltung seines Eheversprechens zu zwingen (eine undurchsichtige Affäre, die er 10 Jahre später aber zu einem rührenden Mini-Roman verarbeitete, aus dem Goethe 1774 sein Stück Clavigo machte).

Neben seinen Geschäften und Reisen blieb Beaumarchais stets auch literarisch tätig. Von der heiteren Parade wechselte er in die ernsthafte, neu von Diderot lancierte Gattung "Drama" (drame) und verfasste das Stück Eugénie, das Anfang 1767 mit mäßigem Erfolg an der Comédie Française aufgeführt wurde. 1767 auch betätigte er sich als Theatertheoretiker im Sinne Diderots, indem er der Druckausgabe von Eugénie einen Essai sur le genre dramatique sérieux voranstellte.

1768 heiratete er eine reiche junge Witwe (die aber schon Ende 1770, bald nach der Geburt eines zweiten Kindes, starb). Anfang 1770 wurde Beaumarchais' nächstes, etwas eilig verfasstes Drama Les deux amis ein kompletter Misserfolg.

Im Sommer 70 nahm sein Leben eine weitere, diesmal unglückliche Wendung: Sein Seniorpartner und Protektor Pâris-Duverney starb, ohne ihm eine formell beglaubigte Bestätigung seines mit 15.000 F. eher symbolischen Anteils am Firmenkapital zu hinterlassen. Beaumarchais musste erleben, wie ein vorhandenes informelles Papier von dem ihn hassenden Urgroßneffen und Alleinerben Pâris-Duverneys, dem Comte de la Blache, gerichtlich angefochten wurde. Zwar gewann Beaumarchais 1772 in erster Instanz, doch verlor er 1773 die Revision vor dem Obersten Gerichtshof (Parlement), wobei er lernte, dass ein bürgerlicher Emporkömmling, und sei er wohlhabend und geadelt, dort schlechte Karten hatte gegenüber einem Prozessgegner, der reich und hochadelig war. Zugleich musste er erfahren, dass er sich in Paris und am Hof viele Neider und Feinde gemacht hatte, die ihm jetzt zu schaden versuchten.

La Blache hatte übrigens den Zeitpunkt für die Revision gut gewählt: Beaumarchais saß Anfang 1773 per königlichem Haftbefehl (lettre de cachet) einige Monate in der Pariser Festung For-l'Évêque, denn er hatte sich von einem cholerischen hochadeligen Bekannten, dem Duc de Chaulnes, in eine handgreifliche Auseinandersetzung wegen einer gemeinsamen Mätresse verwickeln lassen.

Bei einem Freigang, der ihm gewährt wurde, gelang es ihm zwar, nach Zahlung einer angemessenen Summe (wie damals üblich), den für seinen Fall zuständigen Richter zu sprechen, einen gewissen Goëzman, aber nicht auch diesem seine Sicht der Dinge darzulegen. Ein Versuch, sich durch Geschenke an Goëzmans Gattin eine neue Audienz zu verschaffen, scheiterte. Nachdem er (Apr. 73) die Revision verloren hatte und durch Pfändungen sowie die Prozesskosten finanziell ruiniert war, beschuldigte Beaumarchais Goëzman, dieser habe ihn benachteiligt und ihm überdies nur einen Teil der Geschenke an die Gattin zurückerstattet. Goëzman verklagte ihn wegen Bestechungsversuchs und Verleumdung, worauf vor dem Parlement ein nächster Prozess gegen Beaumarchais begann.

Dieser griff nun zu der Waffe, die ihm schon einmal den Sieg gebracht hatte: er ging an die Öffentlichkeit, nun in der Form von Denkschriften (mémoires), wie sie die Anwälte der Epoche für ihre Mandanten verfassten. Zug um Zug publizierte er von Sept. 73 bis Febr. 74 vier „mémoires“, in denen er seine Position sowie auch seine Person geschickt zur Geltung brachte, seine Gegner dagegen ins Unrecht setzte und lächerlich machte. Die mémoires fanden als Broschüren gedruckt eine enorme Verbreitung, besserten Beaumarchais' Finanzen auf und gewannen vor allem ganz Paris mitsamt dem Hof sowie halb Europa, z.B. auch Goethe, für seine Sache. Doch widerstand das Parlement dem Druck der öffentlichen Meinung, rügte ihn (sowie auch Mme de Goëzman) und erklärte ihn seiner Ehre verlustig, d.h. praktisch rechtlos (Febr. 74).

Das mit knapper Mehrheit beschlossene Urteil fiel allerdings auf die Richter zurück: Goëzman war zur Witzfigur geworden und das ganze Gericht so diskreditiert, dass Louis XV es auflöste und zugleich die sehr vernünftige Justizreform, die ihm 1771 der Kanzler Maupeou abgerungen hatte, rückgängig machte, womit der Rebell Beaumarchais ungewollt zur Schwächung derjenigen Kräfte beitrug, die Frankreich zu reformieren versuchten.

Als er hiernach ankündigte, er wolle Revision einlegen, wurde er vom König gebeten, dies vorerst zu lassen und stattdessen als Geheimagent nach London zu gehen um dort eine Schmähschrift gegen die königliche Favoritin Mme Du Barry aus dem Verkehr zu ziehen. Beaumarchais erledigte den Auftrag, fand aber bei seiner Rückkehr den König im Sterben († 10. Mai) und den jungen Louis XVI, der ihn nicht mochte, wenig geneigt ihn zu entlohnen.

Gottlob wusste er (oder gab er es nur vor?) von einer anderen in London drohenden Schrift, die sich indiskret mit den Ursachen (einer Phimose) und den potenziellen politischen Folgen der Kinderlosigkeit des neuen Königs beschäftigte. Er ließ sich also wiederum nach England schicken um mit dem Autor der Schrift zu verhandeln. Der flüchtete angeblich, und zwar nach Holland und weiter nach Süden, bis ihn Beaumarchais angeblich bei Nürnberg stellte und ihm mit Gewalt das Manuskript abnahm, das ihm angeblich selber kurz darauf von Straßenräubern gestohlen wurde. Fest steht, dass Beaumarchais in Wien auftauchte und bei Kaiserin Maria-Theresia, der Schwiegermutter von König Louis, vorstellig wurde, dass er vom Kanzler Graf Kaunitz aber für einen Hochstapler gehalten und festsetzt wurde, bis er auf Intervention des franz. Botschafters freikam.

Zurück in Paris widmete er sich wieder der Literatur und überarbeitete eine Komödie, die er schon 1771/72 verfasst und erfolglos der Comédie Française angeboten hatte: La Précaution inutile ou le Barbier de Séville (=die unnütze Vorsicht oder der Barbier von Sevilla). Es ist sein erstes Stück, in dem die Figur des Figaro auftritt als Typ des intelligenten und tüchtigen Machers kleinbürgerlicher Herkunft, der hier einem weniger intelligenten und tüchtigen verliebten jungen Adeligen namens Almaviva bei der Übertölpelung eines ältlichen Rivalen hilft. Die Uraufführung am 23. Febr. 75 war ein Misserfolg, vermutlich weil Beaumarchais den Text mit Anspielungen auf allerlei Politisches und Persönliches überfrachtet hatte. Nachdem er sie blitzschnell gestrichen und das Ganze von fünf auf vier Akte gestrafft hatte, war die nächste Aufführung am 26. 2. ein Triumph. Die Druckfassung kam im Juli heraus samt einem längeren Vorwort (Lettre modérée sur la chute et la critique du Barbier de Séville = moderater Brief über den Misserfolg des B. de S. und die Kritik daran), worin sich der frisch konsekrierte Komödienautor so selbstbewusst wie witzig über seine Kritiker mokierte.

Er selber war inzwischen schon wieder als Agent in London, wo er einem Franzosen, der in den Besitz geheimer militärischer Planspiele für einen Angriff Frankreichs auf England gelangt war und sie aufzudecken drohte, diese Papiere abkaufen sollte. Wieder war er erfolgreich und bekam hiernach von der Regierung einen erheblich größeren Auftrag: Er sollte, da er sich in London für die Sache der gegen England revoltierenden Amerikaner interessiert und dem König Ende 1775 schriftlich darüber berichtet hatte, seine Kontakte nutzen und den Aufständischen heimlich die Unterstützung Frankreichs anbieten. Dieses nämlich war im Siebenjährigen Krieg von England gedemütigt worden und hatte ihm Kanada und seine indischen Besitzungen abtreten müssen.

Anfang 1776 gründete Beaumarchais mit einem Startkapital der Regierung die pseudospanische Reederei Roderigue Hortalez & Cie. und versorgte die Aufständischen effizient und vielleicht kriegsentscheidend mit Waffen und Munition (die die jungen USA allerdings erst seinen Erben und auch nur teilweise bezahlten). Zum Dank für seine diplomatischen Verdienste wurde er noch 1776 gerichtlich rehabilitiert.

Im selben Jahr übte Beaumarchais sich auch wieder als Autor und begann sein bestes und bekanntestes Werk, die Komödie La folle journée, ou Le mariage de Figaro. Diese zeigt in einer so bewegten wie witzigen Handlung den turbulenten Hochzeitstag eines jungen bürgerlichen Schlossverwalters (zu dem der Barbier Figaro mutiert ist), dem es trotz seiner Intelligenz und Tüchtigkeit nur mit Mühe und Glück gelingt, seinen nunmehrigen Herrn, den eher dümmlichen, aber arroganten und letztlich auch mächtigen Aristokraten Almaviva, davon abzuhalten an seiner Verlobten das jus primae noctis auszuüben.

Beaumarchais selbst wurde allerdings im selben Jahr 76 Objekt der klug eingefädelten und zielstrebigen Bemühungen einer jungen Harfenistin, Marie-Thérèse de Willermaulaz, die Anfang 1777 eine Tochter mit ihm bekam und 1786 schließlich seine dritte Ehefrau wurde.

Da Beaumarchais sich über die Comédie Française ärgerte, die seinen Barbier de Séville nach 31 Aufführungen kurzerhand absetzte, als er ein angemessenes Honorar verlangte, gründete er im Sommer 77 eine "Société des auteurs dramatiques", deren Vorsitz er übernahm und die das erste Beispiel einer erfolgreichen Interessenvertretung von Autoren ist.

1778 lud er sich ein neues Projekt auf: eine Gesamtausgabe der Werke des jüngst (am 30. 5.) verstorbenen Voltaire, mit der er einer in Russland geplanten Ausgabe zuvorkommen wollte. Er gewann sogar die finanzielle Unterstützung der Regierung. Da aber die Schriften Voltaires in Frankreich offiziell verboten waren, installierte Beaumarchais eine Druckerei jenseits der Grenze in Kehl. Die 70 Bände erschienen in der Tat ab 1783, doch wurde das Unternehmen finanziell ein Fiasko.

1778 war das Stück um Figaros Hochzeit fertig. Allerdings wirkten (obwohl die Handlung vorsichtshalber nach Spanien verlegt war) viele Passagen, und vor allem Figaros langer, Beaumarchais' eigenen schwierigen Aufstieg andeutender Monolog im letzten Akt, so revoluzzerhaft, dass Louis XVI sich nach einer Lesung empörte und jegliche Aufführung verbot. Erst nach vielen Änderungen und jahrelangen Demarchen, bei denen er von zahlreichen Höflingen sowie der Königin unterstützt wurde, erreichte Beaumarchais die Freigabe des Stücks.

Gleich die Erstaufführung am 27. 4. 84 war ein triumphaler Erfolg, zumal beim bürgerlichen Publikum. Offensichtlich bestätigte das Stück die anti-aristokratischen Ressentiments der vorrevolutionären Bourgeoisie, ohne dabei den Adel übermäßig zu erschrecken. Der Name des Protagonisten Figaro ging ins franz. Lexikon ein als (eher spaßhafte) Bezeichnung eines Frisörs; seine Figur verblieb im kollektiven Gedächtnis der Nation als Prototyp eines an Macht zwar unterlegenen, aber im Bewusstsein seines Rechtes aufsässigen, dazu blitzgescheiten und witzigen Menschen. Dass das traditionsreiche Pariser Blatt Le Figaro heute eher konservativ ist, erscheint somit als Ironie der Geschichte.

Beaumarchais war nun endgültig berühmt. Auch war er inzwischen wieder reich, denn 1778 hatte er einen nochmaligen Prozess gegen La Blache gewonnen. Der Höhepunkt seiner Karriere war jedoch überschritten. Viele der zahlreichen um und nach 1780 von ihm initiierten Projekte blieben in den Kinderschuhen stecken. Andere, so 1785 die Gründung einer Firma zur Wasserversorgung von Paris oder der Versuch, die junge Frau eines Bankiers namens Kornmann vor dessen Nachstellungen zu schützen, gelangen zwar, trugen ihm aber Verleumdungskampagnen ein, die eher zu seinen Ungunsten ausgingen. Denn erstmals fand Beaumarchais ebenbürtige Gegner, u.a. den späteren Revolutionspolitker und Demagogen Mirabeau sowie einen geschickten Anwalt namens Bergasse, den er seinerseits mit Broschüren attackierte und später (ca. 1791) in Gestalt des Intriganten Bergeasse in sein letztes Stück, La Mére coupable (s.u.) aufnahm.

Die von ihm in dieser Zeit verfasste und von Antonio Salieri vertonte Oper Tarare wurde 1787 nur ein Achtungserfolg. Ein 1787/88 nahe der Bastille erbautes prächtiges Haus mit Park brachte ihm lange Zeit mehr Ärger als Freude.

Die Revolution von 1789 begrüßte er zunächst und versuchte den Gang der Dinge als Deputierter und Stadtverordneter zu beeinflussen. Auch wurde 1792 ein neues, drittes Stück mit Figaro, L'autre Tartuffe ou la Mère coupable (das später kaum mehr gespielt werden sollte), immerhin ein halber Erfolg. Im selben Jahr 92 jedoch fand sich Beaumarchais, wie so viele anfängliche Sympathisanten der Revolution, auf der Verliererseite. Er hatte im Frühjahr gehofft, mit dem Konvent ins Geschäft zu kommen und angeboten, für die Revolutionsarmee Gewehre aus Holland zu importieren. Als er sie nicht fristgerecht liefern konnte, wurde er als "Feind der Republik" beschuldigt und im August inhaftiert. Dank des Einsatzes einer ehemaligen Geliebten, die jetzt mit einem Revolutionsrichter liiert war, kam er zwar bald frei, wurde aber enteignet. Die 1793 verfasste autobiografische Schrift Les six époques beschreibt die Affäre.

Noch 1792 emigrierte Beaumarchais und lebte, nach kurzen Stationen in Holland und England, längere Zeit ärmlich in Hamburg, ohne Kontakt zu Frau und Tochter, die zeitweise ebenfalls inhaftiert waren.

1796 konnte er heimkehren und wurde von der neuen Regierung, dem Direktorium (directoire), rehabilitiert und leidlich entschädigt. 1797 wurde La Mère coupable wieder aufgenommen und Beaumarchais noch einmal etwas gefeiert. Allerdings war er nun schwerhörig und gesundheitlich angeschlagen. Immerhin genoss er endlich sein schönes Haus. Hierin starb er 1799 nach einem guten Abendessen nachts an Herzversagen.

Sein Barbier de Séville wurde schon 1784 von Giovanni Paisello und dann nochmals 1816 von Gioacchino Rossini als Oper vertont; Le Mariage de Figaro wurde 1784/85, d.h. praktisch direkt nach der Pariser Erstaufführung, in Wien von Lorenzo da Ponte zu einem Libretto verarbeitet und von Mozart vertont.

Eine neuere, gut lesbare und wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biografie ist: Manfred Flügge, Figaros Schicksal (München 2001)

(Stand: Sept. 06)

Pierre-Ambroise François Choderlos de Laclos (*18.10.1741 Amiens; †5.9.1803 Tarent).

Dieser in den franz. Literaturgeschichten meist „Laclos“ heißende Autor verdankt seinen Ruhm einem einzigen Buch, dem 1782 erschienenen Briefroman Les liaisons dangereuses (= gefährliche Bekanntschaften/Freundschaften/Liebschaften).

Laclos stammte aus einer erst kurz vor seiner Geburt in den Adelsstand erhobenen Familie, die an ihren bürgerlichen Namen Choderlos ein adeliges ‚de Laclos’ angefügt hatte. Über seine Kindheit und Jugend ist so gut wie nichts bekannt. 1759, also mitten im Siebenjährigen Krieg (1756-63), begann er eine Offiziersausbildung für die Artillerie, wo er sich als nur Neuadeliger offenbar die besten Karrierechancen versprach. Zum Fronteinsatz kam er wegen des Kriegsendes nicht mehr, vielmehr begann er in häufig wechselnden Garnisonen (Toul, Straßburg, Grenoble, Besançon) eine eher eintönige und schleppend verlaufende Karriere. Immerhin durfte er 1777 federführend in Valence die Artillerieschule einrichten, auf der etwas später Napoleon Bonaparte ausgebildet wurde.

1779, denn seit 1775 befand sich Frankreich mit England in einer Art Kaltem Krieg, wurde er auf die Festungsinsel Aix vor dem Kriegshafen Rochefort abkommandiert, um die Instandsetzung der maroden Befestigungsanlagen zu leiten. Diesen Posten empfand er als Sackgasse und fühlte sich einmal mehr benachteiligt durch den königlichen Erlass von 1774, der die obersten Offiziersränge allen Personen verschloss, die nicht mindestens in vierter Generation adelig waren.

Nachdem er bis 1779 literarisch nur dilettiert hatte mit anakreontischen Gelegenheitsgedichten, einigen erotischen Erzählungen und einem Opernlibretto, verarbeitete er nun auf Aix und während zweier längerer Paris-Urlaube (1780 und 81) seinen Groll, indem er den Briefroman Les liaisons dangereuses verfasste.

In diesem eigentlich als Attacke gegen den Hoch- und Hofadel gedachten Roman treiben zwei als Prototypen der aristokratischen Libertinage vorgestellte Figuren, nämlich ein altadeliger Vicomte und eine altadelige Marquise, zwei die Liebe nicht als Spiel, sondern als Ernst betrachtende neuadelige Frauen getäuscht und enttäuscht in den Tod bzw. ins Kloster. Da Laclos sich aber unvermerkt auch mit seinen als hochintelligent und souverän konzipierten Bösewichtern identifiziert und auch sie als unwillentlich liebend und damit als schließlich selbst getäuscht und enttäuscht darstellt, geriet sein Roman zu einem Meisterwerk der psychologischen Analyse, das auch heute noch faszinieren kann.

Zwar formuliert der Autor im Vorwort die eindeutig moralische Absicht, er wolle seine Leser und vor allem Leserinnen warnen vor den unkontrollierbaren Folgen der laxen, nur am Lustgewinn orientierten adeligen Liebes- und Sexualmoral, der Libertinage, und er bestraft zum Schluss auch pflichtgemäß die beiden Bösen, dennoch wurden die Liaisons bis weit ins 19. Jh. meist als ein unmoralischer, ja pornographischer Text gelesen und missverstanden und dementsprechend immer wieder verboten.

Laclos selbst wurde nach dem sehr erfolgreichen, aber einen Skandal auslösenden Erscheinen des Buches auf einen erneut wenig attraktiven Posten in La Rochelle versetzt (1783). Hier schwängerte er 1784 die Tochter eines höheren Beamten und begann einen eher skeptischen Traktat über die Verbesserungsmöglichkeiten der Frauenerziehung, den er aber nicht fertigstellte, nachdem er Vater geworden war, danach geheiratet und sich offenbar zufrieden im Hafen der Ehe eingerichtet hatte.

1786 erregte er einmal mehr Anstoß mit einem offenen Brief an die Académie Française, in dem er darauf hinwies, dass die hochgelobten Befestigungsanlagen des großen Festungsbauers Vauban (1633-1707) in ihrer Konzeption inzwischen überholt waren.

1788 nahm Laclos seinen Abschied als Offizier und wurde Sekretär von Herzog Louis-Philippe-Joseph d'Orléans, („Philippe Egalité“), dem Vater des späteren „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe. In dessen Diensten bzw. im Zusammenhang mit dessen politischen Ambitionen während der Revolution verfasste Laclos 1789-91 diverse politische Schriften. 1792 diente er dem Revolutionsregime zunächst als Verbindungsoffizier und wurde dann zum General befördert. 1793, im Jahr der Schreckensherrschaft, geriet auch er in Haft und in Köpfungsgefahr. 1794 rettete und befreite ihn der Sturz des Diktators Robespierre. 1799 schloss Laclos sich dem neuen starken Mann Napoléon an und wurde erneut General, wobei er 1800 mit der Rheinarmee zum ersten Mal an Kriegshandlungen teilnahm.

Er starb in Tarent im Hauptquartier der französischen Süditalienarmee an einer Darminfektion. Sein Grab wurde offenbar nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft zerstört.

Ein zweiter von ihm projektierter Roman kam über Pläne und Notizen nicht hinaus. Die Liaisons dagegen gelten zu Recht als einer der besten franz. Romane überhaupt und wurden auch mehrfach verfilmt. (Eine Interpretation findet man in meinem Sammelband Interpretationen, Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter, 1997.)

(Stand: Jan. 10)

Donatien Alphonse François, Marquis de Sade (*2.6.1740 Paris; †2.12.1814 Charenton/Paris).

Der in vielen Literaturgeschichten entweder gar nicht oder nur en passant genannte Sade ist vielleicht einer der meistgelesenen franz. Autoren der Neuzeit. Nach seiner Wiederentdeckung durch Baudelaire um 1850 haben sich praktisch alle bedeutenden europäischen Literaten und Intellektuellen der zweiten Hälfte des 19. Jh. und des frühen 20. irgendwann, und oft sogar sehr intensiv mit ihm beschäftigt. Vermutlich ist sein Vorbild nicht unbeteiligt daran, dass auch seriöse franz. Autoren (sowie manche Autorin) sich nicht für zu schade hielten und halten, nebenher diesen oder jenen pornografischen Text zu verfassen.

Der Name des „göttlichen Marquis“ (divin marquis), wie ihn seine Adepten gern nennen, ist mit dem Substantiv sadisme und dem Adjektiv sadique ins franz. Lexikon (und nicht nur in dieses) eingegangen.

Sade stammte aus einem alten, wenn auch nicht mehr reichen südfranz. Adelsgeschlecht und war über seine Mutter sogar weitläufig mit den Bourbonen, d.h. der königlichen Familie, verwandt. Er kam denn auch zur Welt im Pariser Stadtpalast der Condés, einer Seitenlinie des Königshauses. Hier verbrachte er seine erste Kindheit, danach lebte er teils bei Verwandten in der Provence, teils wieder in Paris, wo er von 10 bis 14 das Collège Louis-le-Grand besuchte und dann eine Offiziersschule für junge Hochadelige durchlief. Mit 15 wurde er Offiziersanwärter, 1757-63 diente er als junger Offizier im Siebenjährigen Krieg und wurde mehrfach befördert.

Zurück in Paris verliebte er sich in die jüngere Tochter eines reichen neuadeligen Gerichtspräsidenten, ließ sich dann aber, um den materiellen Status seiner Familie aufzubessern, mit ihrer älteren Schwester und deren guter Mitgift verheiraten. 1764 erbte er von seinem Vater das vor allem einen ehrenhaften Titel bedeutende Amt des königlichen Generalleutnants der kleinen Provinzen Bresse, Bugey, Valromey und Gex an der Grenze zur Schweiz.

Hiernach endete allerdings sein bis dahin eher glatter Lebenslauf. Denn er begann den erheirateten neuen Reichtum zur Realisierung seiner bemerkenswerten sexuellen Phantasien zu nutzen, die den Rahmen auch dessen sprengten, was man damals bei adeligen Libertins zu tolerieren bereit war. Dies führte rasch zu immer neuen und immer schwerer beizulegenden Problemen mit der Polizei, zu Verurteilungen zu Geld- und kurzen Haftstrafen, zu Fluchten in die Provinz und ins Ausland, u.a. nach Holland, sowie 1772 sogar zu einem in Abwesenheit gegen ihn verhängten Todesurteil.

Als er im gleichen Jahr auch noch seine junge Schwägerin, die inzwischen Stiftsfräulein (chanoinesse) geworden war, verführte und mit ihr nach Italien durchbrannte, ließ die Familie ihn fallen. Nach einigen weiteren Skandalen erwirkte seine Schwiegermutter einen königlichen Haftbefehl (lettre de cachet) gegen ihn. Er wurde entsprechend 1777 bei einer Rückkehr nach Paris festgenommen und ohne weiteren Prozess (denn der König war ja Oberster Richter) und für unbestimmte Dauer zunächst in der als Gefängnis dienenden Festung Vincennes inhaftiert, dann in die Stadtfestung Bastille verlegt, wobei er als hochstehende Person jedoch keinen größeren materiellen Entbehrungen ausgesetzt war. Das noch anhängige Todesurteil wurde 1778 kassiert.

Intellektuell waren die Jahre in Vincennes und in der Bastille durchaus fruchtbar für Sade. Er ließ sich Bücher bringen und las; und er wurde nun, nachdem er schon 1769 Reiseimpressionen aus Holland, 1775 einen Reisebericht aus Italien und 1776 ein Büchlein über Rom, Florenz und Neapel veröffentlicht hatte, endgültig zum Autor. Schreiben allerdings tat er überwiegend heimlich und, um nicht durch hohen Papierverbrauch Verdacht zu erregen, in winziger Schrift. Grund für die Heimlichkeit waren die teilweise pornografischen Inhalte seiner Texte (deren Abfassung ihm sicher auch als Kompensation seines unfreiwilligen Zölibates diente), aber wohl mehr noch die agressive Kritik an Religion und Moral, mit der er seine sadistischen Phantasien zu legitimieren versuchte. Seine zentralen Werke aus dieser Zeit sind Les 120 journées de Sodome/Die 120 Tage von Sodom (verfasst wohl ab 1782), Aline et Valcour ou Le Roman philosophique (Reiseroman in Briefform, 1786) und Les Infortunes de la vertu/Die unglücklichen Schicksale der Tugend (philosophische Erzählung, 1787; 1791 zum Roman ausgeweitet).

Auch zahlreiche Stücke entstanden in diesen Jahren. Sades Sicht von sich selbst als eines bedeutenden Dramatikers fand jedoch keine Bestätigung: Nur zwei seiner Dramen wurdenzu seinen Lebzeiten aufgeführt, blieben aber erfolglos; nur ein einziges gelangte zum Druck.

Die Franz. Revolution brachte unverhofft Bewegung in seine Existenz. Einige Tage vor dem 14. Juli 1789 soll er aus seiner Zelle der vor der Bastille demonstrierenden Menge zugeschrien haben: „Sie töten die Gefangenen hier drinnen!“ Angeblich habe dies dazu beigetragen, dass die Pariser Bevölkerung den Sturm auf die Bastille unternahm, mit dem die heiße Phase der Revolution begann.

Sade selbst wurde allerdings sofort nach dem Vorfall verlegt in die Irrenanstalt von Charenton (heute ein Stadtteil von Paris). Hierbei ging ihm das in einem Versteck befindliche Manuskript der 120 jours verloren. Es wurde erst 1904 wiederentdeckt und 1909 gedruckt.

Dank seiner Einweisung in die Irrenanstalt konnte seine Ehefrau sich von ihm scheiden lassen.

1790 wurde Sade dank rechtlicher Veränderungen, die die Revolution bewirkt hatte, entlassen. Hiernach verfasste er, neben kleineren philophischen Schriften, sein letztes Stück, Oxtiern ou les effets du libertinage/O. oder die Auswirkungen der Sittenlosigkeit, dessen Protagonist, ein skrupelloser hochadeliger Lüstling, am Ende, ganz untypisch für Sade, seine Strafe findet. Das „drame“ wurde 1791 dreimal aufgeführt und wenig später, kaum beachtet, als einziges seiner Stücke gedruckt. Ebenfalls 1791 entwickelte er aus der o.g. Justine-Erzählung den Roman Justine ou les Malheurs de la vertu/J. oder die unglücklichen Folgen der Tugend (gedruckt erst 1797).

Wie nicht wenige liberale franz. Adelige hatte auch Sade zunächst mit der Revolution sympathisiert. Er schloss sich sogar den radikalen Jakobinern an und bekleidete zeitweilig höhere Posten, was es ihm z.B. ermöglichte, seine Schwiegereltern aus einer gefährlichen Lage zu retten. Während des Terrorregimes 1793 wurde er jedoch als zu gemäßigt verdächtigt, inhaftiert und 1794 sogar noch zum Tode verurteilt. Ihn rettete der Sturz des Diktators Robespierre (28. Juli). Das neue Regime des Directoire ließ ihn drei Monate später frei.

Sade musste nun die Reste seines durch die Revolution dezimierten Besitzes verkaufen und lebte schlecht und recht von Gelegenheitsarbeiten, denn die diversen Werke, die er jetzt publizierte, brachten kaum etwas ein. Es waren dies, neben dem schon älteren Roman Aline et Valcour (1793-95), insbes. das schwer klassifizierbare Buch Les instituteurs immoraux, ou La Philosophie dans le boudoir/Die unmoralischen Lehrmeister oder Philosophie im Boudoir (1795) und die Romane Justine und La Nouvelle Justine [...] suivie de l'histoire de Juliette sa sœur, ou Les prospérités du vice/Die neue J. [...] gefolgt von der Geschichte ihrer Schwester J., oder Der Erfolg des Lasters (1797) sowie Les crimes de l'amour/Die Verbrechen der Liebe  (1800).

Auch seine Stücke blieben weiterhin unaufgeführt, nachdem 1792 sein zweites zur Aufführung gelangtes, Le Suborneur/Der Verführer, ebenfalls keinen Erfolg gehabt hatte.

Einige Zeit nach der Machtergreifung von Napoléon Bonaparte (1801) wurde Sade wieder inhaftiert, dieses Mal als Autor moralisch anstößiger Bücher. 1803 landete er erneut in Charenton, das er nicht mehr verließ.

Hier wurde er zunächst relativ zivil behandelt und konnte sich schreibend betätigen. So verfasste er die biografischen Romane La Marquise de Gange (1813 gedruckt) sowie Adélaïde de Brunswick, princesse de Saxe und Histoire secrète d'Isabelle de Bavière (1812 und 1813, beide erst postum publiziert). Zudem durfte er mit Anstaltsinsassen als Schauspielern mehrere Theaterstücke aufführen, worunter allerdings keine eigenen waren. Gegen Ende seines Lebens erhielt er auf Anordnung des Innenministers Einzelhaft mit Isolation und dazu Schreibverbot.

Das wohl am weitesten verbreitete der Werke Sades ist Les instituteurs immoraux ou La Philosophie dans le boudoir (1878 auch als erster Sade-Text ins Dt. übersetzt). Es schildert die etwa einen Nachmittag und Abend füllende sexuelle und intellektuelle Initiation eines adeligen jungen Mädchens durch eine adelige Frau und zwei adelige Männer plus einem gut bestückten Bauernburschen. Hierbei führen die vier Hauptfiguren in den nötigen Erholungspausen philosophische Gespräche, in denen sich als „unmoralischer Schulmeister“ (und weitgehend als Sprachrohr des Autors) der homosexuelle Hedonist und Atheist Dolmacen hervortut. Leitmotiv seiner Philosophie ist die wohl von d'Holbach übernommene Vorstellung vom Recht des Individuums, seinen Wünschen nachzustreben, was Sade interpretiert als Recht einer sozialen und geistigen Elite – letztlich der Hocharistokratie, der er sich zugehörig fühlt – ungehemmt ihren Wünschen nach Lustgewinn zu folgen.

(Stand: Nov. 09)

Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre (*19.1.1737 Le Havre; †21.1.1814 Éragny-sur-Oise).

Dieser heute fast vergessene Autor war vom späten 18. bis zum frühen 20. Jh. jedem gebildeteren Franzosen von Kindheit an ein Begriff dank seinem als Kinderbuch verbreiteten Roman Paul et Virginie.

Bernardin (sein eigentlicher Name ist ein bürgerliches Saint-Pierre) wuchs auf in bescheidenen Verhältnissen in Le Havre, erhielt eine passable Schulbildung und studierte Straßen- und Brückenbau an der neugegründeten École des Ponts et Chaussées. Anschließend trat er als Ingenieur in die französische Armee ein, die gerade an der Seite Österreichs den Siebenjährigen Krieg (1756-63) gegen Preußen und England führte. Er musste jedoch 1762, als schwierige Person verschrien, seinen Abschied nehmen. Hiernach führt er eine unstete, von nebulösen Projekten und deren Scheitern bestimmte Existenz mit Reisen und längeren Aufenthalten in Russland und Deutschland. 1768 reiste er mit einem Auftrag als Planungsingenieur auf die damals französische Insel Mauritius (Île de France) im Indischen Ozean, fand aber kein rechtes Betätigungsfeld vor und beschäftigte sich statt dessen mit der Fauna und Flora der tropischen Insel, deren exotische Schönheit ihn faszinierte.

1771 kehrte er zurück, ließ sich mittellos in Paris nieder und begann zu schriftstellern. Als er nicht den erhofften Kontakt zu den Encyclopédisten fand, befreundete er sich mit dem zurückgezogen am Stadtrand lebenden Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und wurde dessen Jünger. Sein erstes Werk: Voyage à l'Isle de France (=Reise zur Île de F., 1773), hatte keinen Erfolg. Beachtlich dagegen war der der 1784 veröffentlichten dreibändigen Études de la nature (=Naturstudien, 1784), deren schwärmerische Bewunderung und häufig äußerst spekulative Erklärung der „Natur“ offenbar den Zeitgeist traf.

Der dritten Neuausgabe der Études (1788) hängte Bernardin zaghaft als vierten Band den kleinen Roman Paul et Virginie an, der überraschend gut einschlug und ab 1789, in der Regel separat gedruckt, eine Neuauflage nach der anderen erlebte (viele davon illustriert), übersetzt, dramatisiert und vertont wurde und als Vorlage für unendlich viele Gemälde und Stiche diente. In meist gekürzten und „gereinigten“ Ausgaben etablierte es sich rasch als klassisches Kinderbuch (das z.B. Flaubert um 1850 wie selbstverständlich als romaneske Lektüre Emma Bovarys anführt).

Der Roman thematisiert die Schwierigkeiten, die ein ständische Gesellschaft Liebesehen in den Weg zu legen pflegt, und erzählt die Geschichte zweier Halbwaisen, die zusammen mit ihren Müttern in der Naturidylle der Insel Mauritius unbeschwert von Klassengegensätzen miteinander aufwachsen, bis eine adelige Großtante Virginies diese nach Frankreich holt und so die sich inzwischen liebenden jungen Leute trennt – für immer; denn Virginie, die sich nicht standesgemäß verheiraten lassen, sondern Paul treu bleiben will, wird, von der erbosten Tante zurückgeschickt, auf der Rückreise Opfer eines Schiffbruchs, und Paul wird durch die desillusionierenden Vorträge, die ihm ein befreundeter alter Mann über die starre Klassengesellschaft im Frankreich des Ancien Régime hält, so frustriert, dass er nach Virginies Tod den Lebensmut verliert und stirbt.

Dank des Erfolgs der Études und vor allem von Paul et Virginie, erreichte Bernardin endlich auch gesellschaftliche Anerkennung. So war er 1789 als Hauslehrer des Dauphins im Gespräch. 1792 heiratete er die Tochter seines Verlegers. 1794 wurde er als Professor für Moral an die neugegründete Pariser Lehrerbildungsstätte (die spätere École Normale Supérieure) berufen. 1795 wurde er Mitglied des soeben durch Zusammenlegung mehrerer Akademien geschaffenen Institut de France. 1797 wurde er zum Direktor des botanischen Gartens ernannt.

Naturgemäß verfasste er auch in den 25 Jahren nach Paul et Virginie noch etliche kürzere und längere Werke, darunter die Erzählungen La chaumière indienne (=die Indianerhütte) und Le café de Surate (beide 1790) oder die dreibändigen Harmonies de la nature (postum 1815), doch blieben sie weitgehend unbeachtet.

(Eine Interpretation des Romans findet man in meinem Sammelband Interpretationen, Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1997.)

(Stand: Jan. 07)

Antoine de Rivarol (*20.6.1753 Bagnols; †13.4.1801 Berlin).

Dieser einst europaweit bekannte Literat kam aus einer italienischstämmigen südfranzösischen eher kleinbürgerlichen Familie, erhielt aber eine passable Schulbildung und ging 1777 mit 24 nach Paris, wo er sich als Chevalier de Parcieux ausgab.

Er erwies sich rasch als talentierter Satiriker, dem sich einige Zeitschriften öffneten, z.B. der Mercure de France. Vor allem aber zeigte er sich als begnadeter Salon-Animateur, dem sich kaum eine Tür in der Hauptstadt verschloss. Hatte er anfangs Schwierigkeiten wegen seines falschen Chevalier-Titels bekommen, den er sogar aufgeben musste, regte sich wenige Jahre später kaum Protest, als er sich selbstbewusst sogar als Comte (Graf) betitelte.

In ganz Europa berühmt wurde Rivarol 1784, gerade 30jährig, als er den Preis der Berliner Akademie errang mit seinem Discours sur l'universalité de la langue française, worin er mit diesen oder jenen rationalen, vor allem aber vielen pseudorationalen Argumenten den damals in Europa allgemein akzeptierten Vorrang des Französischen als Literatur-, Wissenschafts-, Hof- und Diplomatensprache zu erklären und zu legitimieren versuchte.

Während der Revolution betätigte er sich – wie so viele Literaten – als Journalist, und zwar als Monarchist und Verteidiger der Verhältnisse des Ancien Régime. 1792 wich er dem Druck der revolutionären Kräfte und floh, zuerst ins österreichische Brüssel, dann 1794 weiter nach London und 1795 nach Hamburg, einer Hochburg der franz. Emigration.

1800 besuchte er Berlin und ließ sich dort noch einmal feiern. Er starb kurz vor seiner geplanten Rückkehr nach Frankreich, wo inzwischen Napoleon an die Macht gekommen war und, weil er Offiziere und Verwaltungsbeamte für die von franz. Truppen okkupierten Gebiete brauchte, den Emigranten goldene Brücken baute.

(Stand: Jan. 07)

André (de) Chénier (*29.10.1762 in Galata bei Konstantinopel; †24.7.1794 Paris).

Hierzulande kaum bekannt, gilt er vielen Franzosen als der beste franz. Lyriker seines Jh. In seiner kurzen Schaffenszeit versuchte er sich jedoch auch als Epiker und war in den Revolutionsjahren vor allem als politischer Publizist tätig. Einen Teil seines späten Nachruhms verdankt er sicher dem tragischen Umstand, dass er in die Todesmaschinerie des Terrorregimes um Robespierre geriet und, eben 31jährig, auf der Guillotine endete.

Er war anderhalb Jahre älterer Bruder von Marie-Joseph Chénier (1764-1811, s.u.), der in den 1790er Jahren als Autor, insbes. Dramatiker, sehr erfolgreich war, heute aber fast vergessen ist.

André Chénier wurde geboren als vorletztes von fünf Kindern eines jung nach Konstantinopel (=Istanbul) ausgewanderten Tuchhändlers aus einer südfranz. Kaufmannsfamilie mit adeligen Wurzeln, der dort zu Wohlstand gelangt war, eine Frau griechischer Herkunft geheiratet hatte und zuletzt nebenberuflich als franz. Konsul amtierte.

1765 (im Siebenjährigen Krieg) ging der Vater wegen schlechter Geschäfte mit Frau und Kindern zurück nach Frankreich, und zwar zunächst nach Paris, wo die Familie sich kurz danach vorübergehend auflöste. Denn während die Mutter mit den drei größeren Kindern in der Hauptstadt blieb, entschwand der Vater für mehrere Jahre in die marokkanische Hafenstadt Salé, wo er den nunmehr hauptberuflichen Posten des französischen Konsuls erhalten hatte. André und Bruder Marie-Joseph wurden zu einem Onkel in Carcassonne, einem Tuchhändler, in Pflege gegeben.

1773 kamen beide wieder nach Paris, wo sie am Collège de Navarre eine solide humanistische Bildung erhielten. Daneben begegneten sie in dem als „griechisch“ firmierenden Salon ihrer gesellschaftlich aktiven Mutter Literaten, Künstlern, Gelehrten, Naturforschern und denn die antike griechische Kunst wurde gerade wiederentdeckt Archäologen. Hier auch las Chénier ab ca. 1778 seine ersten Gedichte vor, die in der klassizistischen, an griechischen und lateinischen Vorbildern geschulten „anakreontischen“ Manier der Zeit gehalten waren.

Nach einem enttäuschenden Versuch als adeliger Offiziersanwärter (cadet gentilhomme) in Straßburg 1782/83, machte er mit einem befreundeten Brüderpaar Bildungsreisen durch die Schweiz (1784) und Italien (1785). Danach wohnte er wieder als intellektuell vielseitig interessierter junger Lebemann bei seiner Familie in Paris und schriftstellerte, wobei er, wie schon zuvor, ermutigt wurde von Gästen seiner Mutter, z.B. dem seinerzeit bekannten anakreontischen Lyriker Lebrun, genannt Lebrun-Pindare (=Pindar). Vor allem verfasste Chénier in diesen Jahren Lyrik: bucoliques (Hirtengedichte), élégies, épigrammes, odes, hymnes und poèmes. Ein Teil dieser Gedichte, insbes. der Elegien, ist inspiriert von seiner schwärmerischen Liebe zu „Camille“, hinter der sich die verheiratete Michelle de Bonneuil verbirgt.

Neben Lyrik im engeren Sinne schrieb er einige Langgedichte im Stil der Epoche, u.a. das poetologische Überlegungen anstellende Fragment L’Invention (1787). Weiterhin begann er zwei groß angelegte wissenschaftlich intendierte Lehrgedichte (Hermès und L'Amérique), die im Sinne der Aufklärung das naturkundliche bzw. das geografische Wissen der Zeit in Epenform darstellen sollten, aber unvollendet blieben.

Ende 1787 nahm Chénier, um etwas hinzuzuverdienen und sich vielleicht eine Karriere zu eröffnen, einen Posten als Sekretär des mit der Familie befreundeten neuernannten franz. Botschafters in London an. Da er jedoch, wie viele Franzosen der Zeit, England und die Engländer nicht mochte, fühlte er sich dort unwohl und fuhr häufig zu Besuchen nach Hause. Zu einem nennenswerten Einfluss englischer Literatur oder Philosophie auf sein Denken und Schaffen kam es nicht.

Im April 1790 ließ er sich wieder in Paris nieder, wo die politischen Ereignisse sich überschlugen und wo sein Bruder sich soeben einen Namen als politischer Dramatiker gemacht hatte. Er schloss er sich den gemäßigten Revolutionären an und betätigte sich als Versammlungsredner und Publizist für die Sache einer konstitutionellen Monarchie und meritokratischen Gesellschaftsverfassung.

Da er die Revolution mit der im Sept. 90 verabschiedeten Verfassung als erfolgreich beendet betrachtete, attackierte er ab 1791, meist im königstreuen Journal de Paris, mit agressiven Versen und Pamphleten die radikalen Revolutionäre, die Jakobiner, denen sich auch sein Bruder Marie-Joseph angeschlossen hatte. Als diese im August 1792 die Macht eroberten, sah sich Chénier immer mehr zu einer Existenz im Untergrund verurteilt. Seine Versuche, sich aktiv an der Rettung des Königs zu beteiligen, der im September abgesetzt und im Dezember angeklagt worden war, blieben erfolglos. Nach der Köpfung des Königs im Januar 93 flüchtete Chénier aus Paris und lebte versteckt bei Freunden in Versailles. Aus dieser Zeit datiert z.B. die zum politischen Mord aufrufende Ode à Marie-Anne Charlotte Corday, worin er die Attentäterin verherrlicht, die am 13.7.93 den radikalen Politiker Jean-Paul Marat erdolcht hatte. In Versailles auch entstanden die Oden an „Fanny“, die inspiriert sind von der Verliebtheit in seine Gastgeberin, der (wiederum verheirateten) Françoise Le Coulteux.

Anfang 1794 wurde er während eines Besuchs bei Freunden in Passy nahe Paris als unbekannter Verdächtiger verhaftet und nach seiner Identifizierung eingekerkert und zum Tode verurteilt. Die Anklage stützte sich auf die zutreffende Annahme, er sei an einer Aktion beteiligt gewesen, mit der während des Prozesses gegen den König Abgeordnete des Nationalkonvents dafür gewonnen oder auch dazu bestochen werden sollten, gegen das Todesurteil zu stimmen.

Auf seine Hinrichtung wartend schrieb Chénier Lyrik, die er mit seiner schmutzigen Wäsche aus dem Gefängnis schmuggeln und seinem Vater zukommen lassen konnte. Es waren überwiegend scharfe polit-satirische Gedichte (iambes) aber auch die berühmte Ode à une jeune captive, worin der Autor in der Rolle einer jungen Frau spricht, die sich gegen ihren bevorstehenden Tod auf dem Schafott innerlich aufbäumt.

Am 25. Juli wurde Chénier guillotiniert, zwei Tage vor dem Sturz des Diktators Robespierre und dem Ende der „Terreur“. Sein Leichnam landete vermutlich in einem Massengrab auf dem Cimetière Picpus. Die Demarchen verschiedener Leute, ihn zu retten, waren umsonst geblieben und auch sein Bruder Marie-Joseph (der als Abgeordneter des Nationalkonvents für die Köpfung des Königs gestimmt hatte) konnte, da er bei Robespierre in Ungnade gefallen war, nichts für ihn tun.

Zu seinen Lebzeiten war Chénier nur kurze Zeit als Publizist und Pamphletist bekannt, sein im engeren Sinne literarisches Schaffen blieb so gut wie ungedruckt und vieles war bei seinem frühen Tod noch Fragment. Obwohl er im 18. Jh. lebte und schrieb, ist er insofern zu einem Autor des 19. geworden, als seine Lyrik erst 1819 mit dem Erscheinen einer Sammelausgabe einer breiteren Leserschaft zugänglich wurde und dann die junge Dichterschule der Romantiker sowie nach 1850 die der Parnassiens stark beeinflusste. Für beide Dichterschulen war Chénier vorbildhaft dank der Schönheit seiner Sprache, der spielerischen Leichtigkeit seiner Alexandriner, der Ausdruckskraft seiner Bilder, der Authentizität der dargestellten Gefühle und vielleicht auch dank der nostalgischen Grundstimmung, die seine Verse prägt.

Die tragische Figur Chéniers hat naturgemäß viele Autoren und Künstler bewegt. Sie steht im Mittelpunkt der Oper Andrea Chenier von Umberto Giordano (1896).

(Stand: Sept. 08)

Marie-Joseph Chénier (*11.2.1764 in Konstaninopel; †10.1.1811 in Paris)

In Deutschland praktisch unbekannt und auch in Frankreich heute nur noch ein Name im Schatten seines anderthalb Jahre älteren Bruders André (s.o.), galt Chénier um 1795 als bedeutendster Dramatiker seiner Generation und auch mit seiner Lyrik als wichtiger Autor. Seine durchweg politisch motivierte und intendierte literarische Produktion spiegelt über mehr als 20 Jahre hinweg sehr direkt die Geschichte der Revolutionszeit.

Chénier wurde geboren im heutigen Istanbul als Sohn eines dort zum Geschäftsmann gewordenen französischen Adeligen und einer Angehörigen der damals noch starken griechischen Minderheit der Stadt. 1765 ging die Familie wegen schlechter Geschäfte des Vaters nach Frankreich, zunächst nach Paris, wo sie sich kurz danach vorübergehend auflöste. Denn während die Mutter mit den drei größeren Kindern in Paris blieb, entschwand der Vater für mehrere Jahre in die marokkanische Hafenstadt Salé, wo er den Posten des französischen Konsuls erhalten hatte. Marie-Joseph und André wurden zu einem Onkel in Carcassonne in Pflege gegeben. 1773 kamen beide wieder nach Paris, wo sie am Collège de Navarre eine solide humanistische Bildung erhielten und im Salon ihrer geistig interessierten Mutter Literaten, Künstler und Gelehrte kennen lernten.

1781, also eben fünfzehnjährig, begann Chénier eine militärische Karriere als Kadett in einem Dragoner-Regiment in Niort. Zwei Jahre später entschloss er sich um, ging wieder nach Paris zu seiner Familie und folgte seinen literarischen Neigungen, ganz wie sein Bruder André, der im selben Jahr einen noch kürzeren Versuch bei einem Regiment in Straßburg abgebrochen hatte.

Schon 1785 bekam Chénier, dank der Vermittlung des mit der Familie befreundeten Dramatikers Palissot, sein erstes Stück aufgeführt, die „heroische Komödie“ Edgar, roi d'Angleterre, ou Le Page supposé. Es fiel aber durch, ebenso 1787 sein zweites Stück, die Voltaire imitierende Tragödie Azémire.

1788 stellte Chénier sein nächstes Stück fertig: die in der berüchtigten Bartholomäusnacht 1572 spielende historische Tragödie Charles IX ou La Saint-Barthélemy (1790 gedruckt und 1797 umgearbeitet zu Charles IX ou L'École des rois). Es wurde zwar von der Comédie Française angenommen, jedoch von der Zensur nicht freigegeben. Denn die Figuren (ein wankelmütiger König, eine ihn manipulierende Königin, ein machtgieriger hochadeliger Höfling, ein skrupellos die Interessen der Kirche verfolgender Kardinal, ein rechtschaffener, aber machtloser Kanzler bürgerlicher Herkunft und ein am Ende ermordeter Philosoph und Reformer) verkörperten gar zu offenkundig politische Akteure im Frankreich der Zeit, wo mit der Einberufung der Generalstände im August 88 die Revolution eingesetzt hatte. Erst Ende 89, nach langen in der Öffentlichkeit geführten Diskussionen über die Freiheit des Theaters, in die Chénier selbst mit zwei Streitschriften eingriff, und in einer politischen Situation, die, nach dem Zusammentreten der Generalstände, dem Auszug des Dritten Standes im Juni, der Etablierung der Assemblée nationale und dem Sturm auf die Bastille im Juli, stark verändert war, konnte das Stück aufgeführt werden. Es erlebte nun, auch an Provinztheatern, einen triumphalen Erfolg und wurde zum meistgespielten, naturgemäß auch heftig angefeindeten französischen Drama der frühen 1790er Jahre. In der Titelrolle begründete der Schauspieler François Talma seinen Ruhm.

Ähnlich wie dem Charles IX erging es Anfang 1789 einem weiteren Stück Chéniers, Henri VIII ou La Tyrannie, das ebenfalls von der Comédie Française angenommen wurde, aber von der noch intakten Zensur nicht freigegeben wurde wegen der Darstellung eines (wenn auch englischen) Königs als autokratischer „Tyrann“.

1790 verfasste Chénier die ebenfalls politisch motivierte Tragödie Brutus et Cassius ou les derniers Romains, eine Bearbeitung von Shakespeares Julius Caesar. Das Stück um die Ermordung des angehenden Monarchen durch überzeugte Republikaner blieb jedoch unaufgeführt. Literarhistorisch ist es interessant als einer der vielen Versuche, Shakespeare nach den Regeln der klassischen französischen Tragödie zu glätten und so den Franzosen akzeptabel zu machen.

Im April 1791 wurde endlich der Henri VIII aufgeführt, allerdings im Théâtre de la République, das kurz zuvor von Talma und radikal-revolutionären Kollegen aus der Comédie Française ausgegründet worden war.

Hier kam zwischen 1791 und 94, teils mehr, teils weniger erfolgreich, eine ganze Serie historischer Tragödien Chéniers zur Aufführung, die sämtlich politisch motiviert waren und sich kaum verschlüsselt auf jeweils aktuelle Ereignisse und Entwicklungen der bewegten Zeit bezogen: Es waren 1792 das die Willkürjustiz des Ancien Régime anprangernde Jean Calas ou L’École des juges und das den tragischen römischen Volkstribun verherrlichende Caius Gracchus, 1793 das die Auflösung der Klöster rechtfertigende Fénelon ou Les Religieuses de Cambrai und 1794 Timoléon.

Politisch intendiert wie seine Stücke war auch der größte Teil der umfangreichen Gelegenheits- bzw. Gebrauchslyrik, die Chénier Anfang der 1790er Jahre zu vielerlei Anlässen verfasste, insbes. für die öffentlichen Feiern und Feste, an deren Organisation er mitwirkte. Hierzu gehören z.B. eine Ode sur la mort de Mirabeau (1791), die Strophes qui seront chantées au Champ de la Fédération le 14 juillet 1792, eine Hymne sur la translation du corps de Voltaire, eine Hymne à l'Être suprême (1793), ein Chant des Sections de Paris (1793), eine Hymne à la liberté, pour l'inauguration de son temple dans la commune de Paris (1793), die Hymne du 10 août (1794), usw.

Der bekannteste dieser Texte, die von verschiedene Komponisten vertont wurden, wurde der Chant du départ, den Chénier im Kriegsjahr 1793 anlässlich des Ausrückens von Revolutionsarmeen verfasste.

Spätestens 1791 wurde Chénier auch direkt politisch aktiv. Im Gegensatz zu Bruder André, der die Revolution mit der Etablierung der konstitutionellen Monarchie als erfolgreich beendet betrachtete, wurde er Mitglied im radikalrepublikanischen „Club“ (einer Art Partei) der Jakobiner. 1792 wurde er als Abgeordneter in die Convention nationale gewählt (Nationalkonvent), wo er dem Ausschuss für Volksbildung angehörte. Auf seinen Antrag wurde die Einrichtung von Primarschulen beschlossen; 1793 war er maßgeblich beteiligt an der Auflösung der königlichen Akademien (u.a. der Académie Française). Naturgemäß gehörte er Ende 1792 auch zur Mehrheit der Abgeordneten, die das Todesurteil für König Louis XVI befürworteten.

Während der anschließenden Radikalisierung der Revolution im diktatorischen Terrorregime Robespierres (1793/94) geriet Chénier ins politische Abseits. Sein Stück Timoléon wurde vom Diktator als gegen ihn gerichtet erachtet und verboten. Auch hatte er nicht mehr den nötigen Einfluss, um für seinen im März 1794 inhaftierten Bruder André eintreten und dessen Köpfung (25. Juli) verhindern zu können.

Als nach dem Sturz Robespierres Ende Juli 94 sich das Regime des Directoire (1795) etablierte, wurde Chénier zum Mitglied des Conseil des cinq cents ernannt, einer der beiden Kammern des neugeschaffenen Parlaments. Eine bedeutendere politische Karriere blieb ihm allerdings versagt, weil er die restaurativen Tendenzen zu bekämpfen versuchte, die unter dem Directoire einsetzten und in den Folgejahren an Kraft gewannen.

Bei der Gründung der Nachfolgeorganisation für die aufgelösten ehemaligen Akademien, des Institut de France (1795) gelang es ihm, einen Platz in dessen dritter „Klasse“ (Literatur und schöne Künste) zu erhalten.

Als 1795 der Timoléon wieder aufgenommen wurde, sahen Gegner Chéniers darin das verschlüsselte Eingeständnis einer Schuld am Tod seines Bruders André. Chénier wehrte sich mit den leidenschaftlichen Versen der Épître sur la calomnie (1796), die vielen als sein Meisterwerk gilt.

Unter dem Regime des Consulat, das 1799 auf das Directoire folgte, wurde er zum Mitglied des Tribunats berufen, einer der beiden Kammern des nächsten neuen Parlaments.

1801 machte er Front gegen das Wiedererstarken des Katholizismus unter dem neuen starken Mann Napoléon Bonaparte, der den Ausgleich mit der Kirche suchte. Er attackierte die Galionsfiguren dieser Entwicklung, insbes. Chateaubriand (s.u.), mit den satirischen Schriften Le docteur Pancrace und Les nouveaux saints. 1802 griff er mit der Petite épître à Jacques Delille den damals sehr bekannten Lyriker an, der vom Revolutionär zum Konservativen mutiert war und sich in den Augen Chéniers dem neuen Herrn opportunistisch andiente.

Trotz seiner wachsenden inneren Distanz zu Napoleon wurde Chénier 1803 zum Generalinspekteur der „Université“ ernannt, d.h. des unter diesem Namen neu geschaffenen Gesamtsystems des französischen Bildungswesens.

Sein Drama Cyrus, das 1804 von Napoleon zu dessen Kaiserkrönung bestellt und in diesem Rahmen aufgeführt wurde, kam weder beim weder beim Publikum an, noch gefiel es dem neuen Kaiser selbst, der Chéniers verdecktes Plädoyer für eine republikanische Staatsform wenig goutierte. Es wurde nur einmal aufgeführt.

Nachdem Chénier sich 1805 in seiner Elegie La Promenade erneut als Republikaner geoutet und 1806 in einer Épître à Voltaire Napoleon indirekt vorgeworfen hatte, die Ideale der Revolution zu verraten, wurde er seines Amtes als Inspekteur enthoben. Immerhin wurde ihm eine auskömmliche Pension gewährt.

In den Folgejahren schrieb er weitere Stücke, die aber weder aufgeführt noch gedruckt wurden: die Tragödien Philippe II, Œdipe roi und Œdipe à Colone (nach Sophokles), das Drama Nathan le Sage (nach Lessing) und die Komödie Ninon.

Daneben hielt er (1806/07) am Pariser Athéneé eine Vorlesungsreihe über die Literatur seiner Zeit, das Tableau historique de l'état et du progrès de la littérature française depuis 1789 jusqu'à 1808, in dem er die Ideale der Aufklärung verfocht und die beginnende Romantik kritisierte.

1811 wurde das historische Stück Tibère, wo er, in der Figur des römischen Kaisers Tiberius, Napoleon kritisiert, sein letztes Werk.

Sein freigewordener Sessel im Institut de France fiel an Chateaubriand, der ihn als Vergeltung für die Attacken von einst in seiner Laudatio praktisch unerwähnt ließ.

Da fast alle Texte Chéniers in einem bestimmten weltanschaulichen Sinne zweckbestimmt waren, d.h. die zeitgenössischen Zuschauer/Hörer/Leser gegen die Monarchie und für die Republik einzunehmen versuchten, wurden sie noch zu Lebzeiten des Autors durch den Gang der politischen Entwicklung obsolet. Auch die spätere Literaturgeschichtsschreibung, die eher am Idealbild einer zweckfreien, apolitischen Literatur orientiert war und ist, hat Chénier trotz dieses oder jenen Versuchs einer Ehrenrettung nicht den Platz in der Literaturgeschichte gewährt, den er aufgrund seiner großen Bedeutung zu einem gewissen Zeitpunkt verdient.

(Stand: Aug. 08)

 

Als Anhang folgt der Text meines Beitrags zu einem Wuppertaler Zech-Kolloquium im Oktober 2007. Er erscheint demnächst in einem Sammelband:

 

François Villon und Paul Zechs

Lasterhafte Balladen und Lieder

(1931/1943/1962)

 

Fangen wir an mit einem Zitat: „Die Balladen und Lieder des François Villon sind ein unvergängliches Zeugnis der Weltliteratur. Nie zuvor und auch später nicht mehr sind in der französischen Dichtung Liebe und Hass, Tod und Vergänglichkeit, Hunger und Armut, Laster und Ausschweifung so unmittelbar frech, so derb, humorvoll und zugleich so erschütternd Sprache geworden. [...] Paul Zech, dem bekannten expressionistischen Dichter, haben wir die Nachdichtung der Balladen und Lieder Villons zu verdanken, die uns bis heute Geist und Stil dieser Verse unverwelkt und aggressiv bewahrt hat.“ Die Sätze stehen seit 1962 im Vorsatzblatt der dtv-Ausgabe der Lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon und sind damit mehr als 320.000-mal gedruckt. Sie prägen hierzulande nicht nur das Bild des originalen Villon, sondern auch das des Villon-Buchs von Zech. Wird dieses irgendwo genannt, so meist als eine Übertragung, die den Inhalt der Villonschen Texte relativ getreu und vor allem ihren Geist und Stil auf kongeniale Weise wiedergibt.

Kaum ein Klischee jedoch ist falscher als dieses. Zechs Villon ist weder getreu noch kongenial; er ist vielmehr das Produkt eines Autors, der sich hineinprojiziert in einen anderen, fremdsprachlichen Autor, den er vor allem aus bereits vorhandenen Übertragungen kennt und dessen Biographie und Texte er schöpferisch frei als Material für weitgehend eigene Werke benutzt.

Zech selber sah das durchaus so und nannte seinen Villon entsprechend auch nicht Übersetzung oder Übertragung, sondern ‚Nachdichtung’. Doch haben seine Verlage wenig getan, um sein äußerst freies Verhältnis zu den originalen Texten kenntlich zu machen. Es war ihnen offenbar recht, dass Zech zurücktrat hinter Villon. Denn sichtlich war schon 1930, beim Druck der Erstausgabe, das Label ‚Villon’ attraktiver als das Label ‚Zech’.

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Aber das ist hier nicht unser Thema. Betrachten wir vielmehr das Verhältnis Zech-Villon und danach das Verhältnis Zech-Zech, d.h. das Verhältnis zwischen der Erstausgabe oder Urversion von 1931 und den späteren Versionen, insbesondere der dtv-Ausgabe 1962, die mit bisher 27 Auflagen ein deutscher Lyrik-Klassiker geworden ist.[1]

Zunächst zu Villon. Er ist geboren 1431 in Paris und hinterließ nur gut 3300 Verse, als er 1463, knapp 32 Jahre alt, für immer verschwand.[2] Sein erstes datierbares Werk, das Kleine Testament, stammt von Ende 1456. Es ist eine Kombination aus den Parodien eines höfischen Abschiedsgedichts, eines Testaments und einer Traumerzählung.[3] Wohl im Herbst 61 begann Villon in oder nahe Paris sein Hauptwerk, das Große Testament, einen teils elegischen, teils satirischen Text, in den er 20 Gedichte einfügte, die er teilweise zeitgleich schrieb und z.T. wohl als ältere Produkte fertig übernahm. Wahrscheinlich 1462 und sicher ebenfalls in oder nahe Paris verfasste er ein halbes Dutzend Balladen im Rotwelsch der Gauner. Daneben sind aus dem Zeitraum 1456 bis 63 insgesamt 16 Gelegenheitsgedichte erhalten, die er aus verschiedenem Anlass an verschiedenen Orten verfasste. Sein Gesamtwerk lässt sich also gliedern in die vier Komplexe: 1) das Kleine und 2) das Große Testament, 3) die Rotwelschballaden und 4) die zeitlich und örtlich verstreut verfassten Gelegenheitsgedichte.[4]

Schon zu seinen Lebzeiten und vermehrt nach seinem Tod gelangten Texte Villons in Anthologien. Offenbar aus solchen stellte 1489 der Pariser Drucker Pierre Levet die erste Druckausgabe zusammen, die rund neun Zehntel des heute bekannten Gesamtwerks umfasst. Levet gliedert in die genannten vier Komplexe. Er bringt zuerst das Große Testament, 2) einen Block von 8 Gelegenheitsgedichten, 3) die Rotwelschballaden und 4) das Kleine Testament.[5] Die Ausgabe war ein Erfolg und wurde häufig nachgedruckt. Um 1520 begannen die Drucker, vermeintliche weitere Villon-Texte anzufügen. Auch die erste moderne Edition von 1832 schleppt diese apokryphen Texte noch mit. Sie nimmt als Anhang aber auch zwei neu entdeckte echte Gedichte auf, die zu den Gelegenheitsgedichten gehören. Die Villon-Ausgaben der nächsten Jahrzehnte innovieren kaum, d.h. sie drucken weiterhin auch Apokryphen mit ab.

Eine Wende bedeutet 1892 die Edition von Auguste Longnon. Longnon scheidet die inzwischen als unecht erkannten apokryphen Texte aus. Im Gegenzug nimmt er mehrere z.T. erst kurz zuvor entdeckte echte Villon-Gedichte neu auf, die ebenfalls zu den Gelegenheitsgedichten zählen. Seine Gliederung des Ganzen ist etwas verwirrend. Er druckt zunächst das Kleine und dann das Große Testament. Hiernach bringt er einen Block Gelegenheitsgedichte, der z.T. dem alten Achterblock von 1489 entspricht. Danach lässt er als einen neuen Block das Gros der später entdeckten Gedichte folgen, dann die Rotwelschballaden und fügt schließlich einen kleinen Block mit weiteren erst später entdeckten echten Gedichten sowie auch einem zweifelhaften an, die er aber sämtlich als „Villon zugeschrieben“ betitelt. Zech besaß diese Edition.[6] Sie vermittelte ihm ganz offensichtlich die Idee, dass die Texttradition bei Villon noch immer im Fluss sei, dass man seine Texte im Gesamtkorpus hin und her schieben dürfe, und vor allem, dass man ihm bestimmt noch weitere, bisher unbekannte Gedichte zuschreiben könne.

Ein ganz anderes, für Zech wohl wichtiges Buch war die Gedichtanthologie, die 1501 der Pariser Drucker Antoine Vérard herausgab mit dem Titel Le Jardin de Plaisance (=der Garten Wohlgefallens). Die Anthologie enthält auch eine Serie von acht Villon-Gedichten, darunter zwei, die aus dem Großen Testament  entnommen sind.[7] Von Vérard könnte Zech die Idee bezogen haben, dass man die insTestament eingefügten Gedichte dort auch herauslösen kann.

Wirklich bedeutsam für Zech jedoch waren zwei andere Editionen. Die eine war die von Wolfgang v. Wurzbach, 1903. Wurzbach druckt Villon im französischen Original, fügt aber einen deutschen Kommentar hinzu und eine auf dem Kenntnisstand der Zeit befindliche deutsche Einführung. Er eliminiert die Rotwelschballaden, die schon für Spezialisten schwierig und für normale Leser unverständlich sind, und er vereint die Gelegenheitsgedichte zu nur einem Komplex. Sein Korpus enthält so die drei Teile: 1 und 3 die beiden Testamente und dazwischen die verstreut verfassten Gedichte.[8]

Die andere Edition, und letztlich die wichtigste Textbasis Zechs, war die erste umfassend angelegte deutsche Villon-Übertragung, die 1907 Karl Klammer, alias K. L. Ammer, publizierte. Klammer basiert auf v. Wurzbach und hat wie dieser drei Teile, nämlich die beiden Testamente und dazwischen einen Block Gelegenheitsgedichte. Klammer ist jedoch nicht lückenlos. Im Großen Testament  überspringt er acht schwierige Strophen und vier sehr manieristische Gedichte. Von den Gelegenheitsgedichten überträgt er nur ein gutes Drittel, nämlich sechs.[9]

Hatte Klammer 1907 noch den Titel Des Meisters Werke gewählt, der zwar seltsam, aber halbwegs zutreffend war, so gibt er seiner Neuauflage 1930 den völlig unzutreffenden Titel Balladen.[10] Der Grund war sicher der, dass Villon durch den Plagiatstreit um die Villon-Songs der Dreigroschenoper  1929 endgültig das Image eines Liederautors erhalten hatte – ein Image, das ursprünglich wohl Richard Dehmel kreiert hat, der 1893 zwei Villon-Balladen übertrug und sie jeweils als „Lied“ etikettierte, wohl in der irrigen Meinung, Villon habe seine Balladen zur Vertonung bestimmt oder gar selber vertont.[11]

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Bekanntlich war Zech, als er gegen 1930 den Villon begann,[12] gerade von Plagiatsaffären gebeutelt. Vielleicht deshalb beschloss er, sein Textkorpus völlig anders zu gliedern als Klammer. Zwar wählte auch er einen Titel, der dem Liedermacher-Image von Villon entsprach, nämlich: Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon, doch wollte er offenbar den Anschein einer Gesamtwerkübertragung vermeiden und den Eindruck erwecken, er konzentriere sich auf die im engeren Sinne lyrischen Texte Villons.[13]

Das Inhaltsverzeichnis seines Büchleins listet denn auch quasi gleichberechtigt 37 Texte auf. Die meisten, nämlich 30, sind als „Ballade“ deklariert, 5 weitere sind sonstwie als Gedichte erkennbar. Die Nummern 26, Das kleine Testament, und 35, Das große Testament , sind das zwar nicht, sie wirken in der Liste aber so, als seien sie ebenfalls lyrische Texte.

Halten wir als erstes Fazit fest: Zech macht 1930 aus dem mehrteiligen, heterogenen Textkorpus Villons ein einteiliges, homogen wirkendes; und er überführt ein Korpus, das größtenteils nicht eigentlich aus Lyrik besteht, in ein scheinbar ausschließlich lyrisches.

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Aber sehen wir nun etwas näher. Ich sagte, die beiden Testamente wirken im Inhaltsverzeichnis Zechs ganz so, als seien sie ebenfalls lyrische Texte. Schlägt man sie auf, so findet man zwar Verse und Strophen, erkennt aber rasch ihren andersartigen Charakter, nämlich den einer Mischung aus autobiografischen, reflektierenden und satirischen Passagen.

Vergleicht man sie mit den Originalen, sieht man als erstes, dass die Testamente Zechs erheblich kürzer sind als die von Villon. Zechs Kleines  hat nur 112 statt 320 Verse, ist also nur ein Drittel so lang. Sein Großes hat nur gut 450 statt über 2000 Verse, ist also nicht mal ein Viertel so lang. Zech versucht dem Rechnung zu tragen, indem er beide Texte in einer Klammer hinter den Titeln als „Bruchstück“ bezeichnet.[14]

Schaut man genauer, so zeigt sich, dass Zech im Kleinen Testament den Hauptteil Villons, die Testamentparodie, sehr stark verkürzt, und den dritten Teil, die Traumerzählungsparodie, vollständig weglässt. Den ersten Teil dagegen, den Abschied im Zorn von der spröden Geliebten, baut er aus, beseitigt allerdings den Parodie-Charakter des Villonschen Textes. Mit dem Großen Testament  verfährt er ähnlich. Auch hier verarbeitet er vor allem den langen elegischen Eingangsteil. Ein anderer Grund für die Verkürzung des Großen Testaments ist der, dass Zech fast alle von Villon dort eingefügten Gedichte herausnimmt. Verschwunden sind sie aber nicht allesamt. 12 von ihnen, oder genauer: vage erkennbare Pendants von ihnen, sind selbständige Texte geworden und finden sich in der Reihe der 37 Texte wieder. Hierbei übernimmt Zech die Anordnung Villons übrigens nicht, sondern ändert sie nach eigenem Gusto.

Betrachtet man nochmals das Inhaltsverzeichnis, so findet man, dass 15 der 37 Titel mit einem Sternchen markiert sind. Hierzu sagt eine Anmerkung Zechs: „Die mit einem * bezeichneten Balladen sind dem Jardin de Plaisance u. a. gleichzeitigen Sammelwerken entnommen und aus der Urform übertragen worden.“ Der Leser muss also denken, Zech habe zusätzliche Quellen entdeckt und aus ihnen zusätzliche, bisher unbekannte Villon-Gedichte bezogen. Nur der Kenner konnte wissen, dass die genannten Sammelwerke zwar in der Tat auch Texte von Villon enthalten, aber keinen, der nicht längst bekannt und z. B. bei Longnon zu finden war. Und nur der Profi war imstande zu sagen, dass Zechs Sternchen-Gedichte auch in jenen Sammelwerken keine Vorbilder haben, also pure Zech-Texte sind.

Bleibt noch ein Rest von acht Titeln. Sechs von ihnen sind Pendants von verstreut verfassten Gedichten Villons, und zwar fast ausschließlich von denen, die schon Klammer übertragen hatte.[15] Zwei Zechsche Gedichte sind undefinierbaren Ursprungs, d.h. eigene Produkte, nur ohne Stern.

Vermerken wir also als weiteres Fazit: Zech kürzt in der Urversion die Villonschen Testamente erheblich. Er nimmt die im Großen Testament enthaltenen Gedichte heraus, eliminiert knapp die Hälfte und setzt die verbliebenen nach eigenem Gusto an andere Stellen. Von den verstreuten Gedichten übernimmt er nur ein gutes Drittel. Die insgesamt knapp 20 Villon-Gedichte, die er nicht verarbeitet hat, ersetzt er durch 17 eigene Produkte. Die Rotwelschballaden lässt er weg, ganz wie v. Wurzbach und Klammer. Vielleicht sollten die vier Räuberballaden unter den Sternchen-Gedichten ein Ersatz für sie sein.

Die Urversion kam, wie erwähnt, Anfang 31 heraus. Sie wurde 1947, also kurz nach Zechs Tod, unverändert nachgedruckt von seinem Sohn Rudolf in Berlin.[16] Sie war es, die um 1950 Klaus Kinski in die Hände fiel und ihm als Textbuch gedient hat.[17]

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Wie man weiß, hatte Zech die Manie, auch seine schon gedruckten Werke verbessern zu wollen. Seinem Villon erging es nicht anders. Eine erste neue Version ist als gebundenes Typoskript erhalten. Dieses ist am Ende des Vorworts datiert „Buenos Aires, Sommer 1943“ und wird auf dem Titelblatt als „Neue veränderte und vermehrte Ausgabe“ bezeichnet. Es ist von Zech selbst mit Füller und Tinte nochmals leicht revidiert und mit dem Vermerk „Handexemplar“ versehen.[18]

Bekanntlich hatte im April 31 der Villon-Kenner und –(Prosa)Übersetzer Joseph Chapiro in einer bitterbösen Rezension Zech vorgeworfen, er habe Villon gewissenlos verfälscht und geradezu „Betrug am Leser“ verübt.[19] Man sollte also vermuten, dass Zech beim Überarbeiten größere Texttreue angestrebt hat. Dies ist aber nicht der Fall. Zwar „verändert und vermehrt“ er, wie angegeben, die neue Version, mehr Genauigkeit ist aber nicht erkennbar.[20] Er scheint vielmehr ohne systematischen Rückgriff aufs Original gearbeitet zu haben.

Das Handexemplar trägt den stark veränderten Titel FRANÇOIS VILLON. Das Kleine und das Grosse Testament, auch die Balladen und lasterhaften Lieder. In freier deutscher Nachdichtung von Paul Zech. Wie man sieht, hält es Zech für angebracht, die Bezeichnung ‚Nachdichtung’ durch das Wörtchen ‚frei’ zu präzisieren; vor allem aber scheint er sich der Dreiteilung des Villonschen Textkorpus anzuschließen, wie sie v. Wurzbach eingeführt und Klammer von dort übernommen hatte.

Das Inhaltsverzeichnis, gleich danach, listet allerdings ein viergeteiltes Korpus auf mit den Komplexen: 1) Das Kleine Testament, 2) Die Balladen aus dem Großen Testament, 3) Das Große Testament und 4) Die späteren Balladen und lasterhaften Lieder.

Als Erstes fällt auf:  im Unterschied zur Urversion erscheinen die beiden Testamente nun als andersgeartete, offenbar größere Texte. Dies wird auch daran sichtbar, dass die beiden anderen Komplexe, Die Balladen aus dem Großen Testament und Die späteren Balladen und Lieder, je eine Serie Untertitel haben (15 bzw. 22).

Weiter fällt auf, dass die Gedichte von Komplex 2 als aus dem Großen Testament entnommen deklariert sind (was weitgehend zutrifft) und dass die Gedichte von Komplex 4 als „später“ figurieren. Hier finden sich die Pendants von verstreuten Gedichten Villons, vor allem aber finden sich hier die Sternchen-Gedichte, nunmehr aber ohne Stern und ohne die Erklärung dazu.

Blättert man das Handexemplar durch, so stellt man fest, dass nicht nur die Gliederung des Ganzen sich geändert hat, sondern dass in der Tat auch die Textmenge deutlich vermehrt ist.

So sind einige Gedichte (mit und ohne Pendant bei Villon) neu hinzugekommen[21] und die beiden Testamente stark gewachsen. Vor allem das Kleine hat sich von 14 Strophen auf 44 verlängert und ist nun länger als das Original, und zwar obwohl Zech dessen dritten Teil, die Traumerzählung, erneut übergeht.[22] Das Große Testament umfasst statt 57 Strophen nunmehr 67. Hinter den Titeln beider Testamente steht denn auch nicht mehr „Bruchstück“, sondern „Auswahl“.

Auch in Sprache und Stil zeigt die Version des Handexemplars mancherlei Veränderungen. Insgesamt ist eine Tendenz zur Moralisierung erkennbar. Hierauf komme ich später zurück.

Halten wir fest: Zech gibt 1943 dem Handexemplar einen Titel, der dem Inhalt genauer entspricht. Er verlängert das gesamte Korpus erheblich und teilt die eigentlich lyrischen Texte in zwei Komplexe auf. Hierbei ordnet er die gänzlich eigenen Produkte meist in Komplex 2 und suggeriert mit dessen Obertitel „Die späteren Balladen und lasterhaften Lieder“ den Eindruck, er übertrage neuentdeckte spätverfasste Werke Villons.

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Ich sagte, dass die Urversion von 1931 1947 unverändert nachgedruckt wurde. Nur fünf Jahre später, 1952, erschien im thüringischen Rudolstadt eine Neuausgabe des Villon, übrigens hübsch illustriert von Karl Stratil. Sie heißt: Die lasterhaften Lieder. Die Balladen. Aus dem Kleinen und Großen Testament. In freier Nachdichtung von Paul Zech.[23]

Vergleicht man die Rudolstädter Version mit der Urversion, so stellt man eine starke Veränderung fest. Vergleicht man sie dagegen mit dem Handexemplar, so sieht man rasch, woher sie stammt, nämlich von dort. Dies gilt uneingeschränkt jedoch nur für die ersten drei Viertel des Textes. Zwar beruht  auch das letzte Viertel sichtlich auf dem Handexemplar, doch finden sich immer wieder Gedichte, in denen passagenweise oder sogar gänzlich der Text der Urversion wiederhergestellt worden ist. Meine vorläufige Erklärung ist die, dass hier ein Redaktor oder Lektor am Werk war, der sich das Recht herausgenommen hat, Zech mit sich selbst zu korrigieren.

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Wie nun steht es mit der dtv-Ausgabe 1962, der, die wir alle kennen und die im deutschen Sprachraum schlicht als der Villon figuriert?

Schon der erste Blick zeigt, dass auch sie sich deutlich unterscheidet von der Urversion. Sie ist aber auch nicht identisch mit Rudolstadt und nicht mit dem Handexemplar, wenngleich sie textlich eng mit beiden verwandt ist, vor allem dem letzteren, weil sie nirgends auf die Urversion zurückgreift. Ich vermute, dass sie auf einem weiteren Durchschlag vom Handexemplar basiert, den Zech noch 1946 selber bearbeitet hat, als er kurz vor seinem Tod die fantasievolle Villon-Biografie verfasste, die wir aus der dtv-Ausgabe kennen.[24]

Sehen wir erneut vor allem das Inhaltsverzeichnis. Es listet, ganz wie im Handexemplar und in der Rudolstädter Version, vier Komplexe auf, die allerdings umgestellt sind. Denn statt der alternierenden Reihenfolge Testament-Gedichte-Testament-Gedichte ist die Reihenfolge nun umschließend, d.h. Gedichte-Testament-Testament-Gedichte. Bei Gedichtkomplex 1 ist der Hinweis auf das Große Testament getilgt; 1 heißt jetzt „Die gesammelten frühen Lieder und Balladen“. Komplex 4 ist ebenfalls umgetauft, wenn auch nur leicht. Er heißt nun „Die gesammelten späteren Lieder und Balladen“. Geht man die Titellisten der Gedichte durch, so sieht man, dass Zech einmal mehr diverse Gedichte umgestellt und auch welche von einem Komplex in den anderen verschoben hat. Die dtv-Ausgabe zeigt somit eine Version, die Zech, wohl hauptsächlich mit Schere und Klebstoff, neu komponiert hat im Sinne einer Chronologie und inneren Entwicklung des Werkes, einer Chronologie und Entwicklung allerdings, die höchstens hier und dort dem originalen Villon entspricht und ansonsten Zechs Erfindung ist.

Halten wir fest: Zechs Villon von 1931 und auch die Versionen von 1943, 52 und 62 sind letztlich eigenständige Werke, für die der originale Villon nur ein Ausgangspunkt war.

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Sehen wir hierzu ein paar Textbeispiele.

Ich beginne mit dem kürzesten Gedicht Villons, dem wegen seines buchstäblichen Galgenhumors berühmten ‚Vierzeiler’.

Der Originaltext lautet (orthografisch leicht modernisiert):

Je suis François, dont il me poise, / Ich bin François, was mich bekümmert,

Né de Paris emprés Pontoise. / gebürtig aus Paris nahe Pontoise.

Et de la corde d’une toise / Und von dem Strick von einer Elle [Länge]

Sçaura mon col que mon cul poise. / wird mein Hals erfahren, was mein Hintern wiegt.

Wie man sieht, imaginiert sich das lyrische Ich aus der Gegenwart der Todeszelle in die Zukunft des Moments der Urteilsvollstreckung. Die Verben der beiden Hauptsätze stehen entsprechend das erstere im Präsens und das zweite im Futur. Nehmen wir zunächst die Übertragung Klammers. Sie lautet:

           Ich bin Franzose, was mich bitter kränkt,

           geboren in Paris, das bei Pontoise liegt,

           an einem klafterlangen Strick gehenkt,

           und spür am Hals, wie schwer mein Hintern wiegt.

Klammer versucht zwar, halbwegs getreu zu übertragen. Der fatalistisch-lapidare Humor Villons gelingt ihm aber nicht. Vor allem begeht er den Lapsus, dass er das Ich aus der Todeszelle an den Galgen transferiert und damit die zwei Zeitebenen des Originals wenig realistisch reduziert auf die Gegenwart des soeben Gehenkten. Zech macht daraus 1930:

Ich bin Franzos, was mir verdammt nicht passt,
geboren zu Paris, das klein und hässlich unten liegt.
Ich hänge nämlich meterlang von einem Ulmenast
herab und spür am Hals: wie schwer mein Podex wiegt.

Ich sagte: Zech macht daraus. In der Tat ist ziemlich deutlich, dass er nicht von Villon ausgeht, sondern von Klammer. Von sich aus hätte Zech vermutlich kaum den Einfall gehabt, den Namen François, der ihm sonst so wichtig ist, als Vokabel zu betrachten und mit ‚Franzose’ wiederzugeben.[25] Und sicher ist es kein Zufall, dass er den Lapsus Klammers wiederholt und die zwei Zeitebenen des Originals auf nur eine reduziert. Seine Eigenleistung besteht vor allem in dem stark veränderten, rotzig-trotzigen Ton, den er seinen Zeilen gibt. Dass er aus dem „Hintern“ Klammers einen „Podex“ macht, wirkt hierbei unfreiwillig komisch.

1943 und 52 ist der Text deutlich weniger deftig. Er lautet nun:

Ich bin Franzose, was mir gar nicht passt,

geboren zu Paris, das jetzt tief unten liegt;

ich hänge nämlich meterlang von einem Ulmenast

herab und spür am Hals, wie schwer mein Podex wiegt.

Der dtv-Text 1962 ist identisch, nur dass der „Podex“ aufgepeppt ist. Die letzte Zeile heißt jetzt:

und spür am Hals, wie schwer mein Arsch hier wiegt.

*

Sehen wir ein weiteres und – für uns hier leider – letztes Beispiel. Es sind die jeweils ersten 20 Verse einer Bettelballade, die auf jener beruht, die Villon angeblich an den Herzog von Bourbon, tatsächlich aber an Herzog Karl von Orléans, den großen Lyriker, gerichtet hat. Der Originaltext lautet (orthografisch wieder modernisiert):

Le mien seigneur et prince redouté, / Mein Oberherr und gefürchteter Fürst,

Fleuron de lys, royale géniture, / Lilienblütenranke, königliche Zeugung,

François Villon, que Travail a dompté, / F. V., den ‘Mühsal’ gezähmt hat,

A coups orbes, à force de batture, / mit stumpfen Hieben, durch viele Prügel,

Vous supplie par cette écriture / fleht Euch mit diesem Schreiben an,                                                                                          5

Que lui fassiez quelque grâcieux prêt. / dass Ihr ihm irgendeine gnädige Leihgabe macht.

De s’obliger en toutes cours est prêt, / Sich zu verpflichten ist er in allen Gerichtshöfen bereit,

Se doute avez que bien ne vous contente. / falls Ihr zweifelt, dass er Euch nicht gut zufriedenstellt.

Sans y avoir dommage n’intérêt, / Ohne dadurch Schaden oder Zinsen/Nutzen zu haben,

Vous n’y perdrez seulement que l’attente. / werdet Ihr dabei einzig nur die Wartezeit verlieren.                              10

 

De prince n’a un denier emprunté / von keinem Fürsten hat er je einen Groschen geliehen

Fors de vous seul, vostre humble créature. / außer allein von Euch, er, Eure demütige Kreatur.

De six écus que lui avez prêté, / Was die 6 Taler betrifft, die Ihr ihm geliehen habt,

Lesquels il mist piéçà en nourriture, / welche er längst in Nahrung umgesetzt hat,

Tout se paiera ensemble, c’est droiture. / alles wird zusammen bezahlt, das ist Rechtschaffenheit.                    15

Mais ce sera légèrement et prêt. / Aber es wird leicht sein und rasch.

Car se de glan rencontre la forêt - Denn, falls er den Wald ‚beeichelt’ antrifft

D’entour Patay et châtaignes ont vente, / um Patay herum und Kastanien im Verkauf sind,

Payez vous tient sans délai ni arrêt. / so hält er Euch für ohne Aufschub und Anhalt bezahlt.

Vous n’y perdrez etc.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         20

Bei Klammer findet man:

O Gnaden, königliche Herrlichkeit,

Fleuron de lys, aus Fürstenblut entsprungen,

François Villon, den jüngst bei einem Streit

Die Not zu einem blinden Schuss gezwungen,

Er bittet demutsvoll in dieser Schrift,                                                                                                                                                          5

Dass Ihr in Eurer Huld ihm etwas leiht.

Er ist zu jeder Dienstespflicht bereit

Und hofft auf Dank, sofern ihm je ein Dienst gelungen.

Und ohne dass Euch weitrer Schaden trifft,

Verliert Ihr höchstens nur die Wartezeit.                                                                                                                                                 10

Noch keinen Fürsten hat er angegangen,

Nur Euch, als tiefergebner Untertan.

Die sieben Taler, die er einst von Euch empfangen,

Die legte er schon längst in Essen an.

Er zahlt auf einmal alles, wie es billig.                                                                                                                                                       15

Doch nicht zu rasch und leichtsinnig, verzeiht:

Wenn bei Patay der Tannwald Eicheln trägt

Und man Kastanien zum Verkauf dort legt!

Und zahlt er Euch dann ungesäumt und willig,

Verliert Ihr höchstens etc.                                                                                                                                                                                 20

Wie man sieht, überträgt Klammer halbwegs getreu und behält auf jeden Fall den Gestus des demütigen Bittstellers bei. Die Zeilen 3 und 4 hat er allerdings schlicht nicht verstanden. Villon stellt sich dort als jemand dar, der von „Travail“, also „Mühsal“, „gezähmt“ worden sei, und zwar durch „stumpfe Hiebe“, die nur innere Wunden hinterlassen haben, und durch „Prügel“. Klammer dagegen vermutet in den Hieben und Prügeln eine Anspielung auf eine Rauferei Villons mit einem Schuss in Notwehr.

Sehen wir Zechs Urversion (übrigens dort als Nr. 21 der 37 Texte):

... mein sehr verehrter Landesherr - : zuvor

ergebenen Gruß. Ich bin zwar kein berühmter Mohr,

kein Kardinal und kein Minister oder so.

Ich heiße kurz: VILLON. Mein Weib geht auf den Strich

und ich: ich schreibe manchmal ein Gedicht; (d.h. für mich

privatim nur.) Ansonsten bin ich froh,

wenn mir kein Paster, dems nach meiner Seele juckt,

auf die polierten Stiebel spuckt.                                                                                                                                                          8

Nun ist nach einer netten kleinen Sauferei,

am Hafen unten, jemand, dem ich ein Geweih

auf die gesalbten Locken setzte, obendrein

noch frech geworden mit Pistol und Schwert.

Da habe ich mich eben notgewehrt,

und stach es einfach ab, das Schwein.

Nun soll ich hier in diesem Affenstall

den Lohn empfangen für den Sündenfall.                                                                                                                                   16

Mir ist es wirklich scheißegal, wo ich

verrecken tu. Nur das ist widerlich,

dass man kein Geld im Beutel hat.

Ich hänge sozusagen in der Luft.                                                                                                                                                      20

[...]

Zech, so stellt man fest, verändert einmal mehr den Ton des Gedichts und lässt sein Alter Ego Villon deftig-proletarisch reden. Trotz des enormen Unterschieds zwischen seinem Text und dem von Klammer, wird dennoch sichtbar, dass er wieder einmal nicht Villon, sondern Klammer nachgedichtet hat. Denn nur von ihm, aus seiner fälschlichen Vermutung eines Streites samt Schuss, konnte Zech die Story mit der Rauferei samt Totschlag aus Notwehr entwickeln, die er lustvoll und ausgiebig ausführt, weit über Klammer hinaus und völlig jenseits von Villon.

1943, im Handexemplar, wird daraus (jetzt als Nr. 3 der „späteren Balladen“):

Mein sehr verehrter Landesherr: zuvor

ergebenen Gruß. Ich bin zwar kein berühmter Mohr,

kein Kardinal und kein Minister oder so,

Ich heiße kurz: Villon, bin unbeweibt

(was allerdings nicht heißt, dass sich kein Weib                                                                                                                      5

mehr an mir reibt,

wenns ihr so ist nach solchem Zeitvertreib).

Ansonsten bin ich froh,

wenn mir kein Paster, dems nach Seelen juckt,

auf die polierten Stiefel spuckt.                                                                                                                                                           10

Nun hat nach einer kleinen Sauferei,

am Hafen unten, jemand ein Geschrei

um seinen Hut gemacht, der flog ihm wohl vom Kopf

und aus der Scheide auch zugleich das Schwert.

Da habe ich mich eben notgewehrt,

mehr war er auch nicht wert, der Tropf.

Nun soll ich hier in diesem Affenstall

den Lohn empfangen für den Sündenfall.                                                                                                                                   18

Der Affenstall an sich, der stachelt mich

nicht allzu sehr; nur das ist widerlich,

dass man kein Geld im Beutel hat.

Ich hänge sozusagen in der Luft.

[...]

Wie man sieht, hat Zech dem Text der Urversion hier zahlreiche Zähne gezogen. Kein Weib mehr, das „auf den Strich geht“, kein vornehmer Herr, dem „ein Geweih aufgesetzt“ wird, kein „Schwein“, das „einfach abgestochen“ wird, und kein Villon mehr, dem es „scheißegal“ ist, wo er „verreckt“. Anscheinend reagiert Zech hier besonders deutlich auf den Vorwurf Chapiros, er habe Villon verproletarisiert und fäkalisiert.

1952, in der Rudolstädter Version, beginnt das Gedicht (hier als Nr. 2 der „späteren Balladen“):

Mein sehr verehrter Landesherr : zuvor

ergebnen Gruß. Ich bin zwar kein berühmter Mohr,

kein Kardinal und kein Minister oder so.

Ich heiße kurz: Villon. Mein Weib geht auf den Strich

und ich: ich schreibe manchmal ein Gedicht;                                                                                                                     5

(d.h. für mich privatim nur.

Ansonsten bin ich froh,

wenn mir kein Paster, dems nach meiner Seele juckt,

auf die polierten Stiebel spuckt. (usw. ebenfalls wie 1931)                                                                                      9

Wie man sieht, liegt hier einer der Fälle vor, wo der Lektor/Redaktor die Uhr zurückgedreht hat. Zwar ist das Gedicht fast an derselben Stelle eingeordnet wie im Handexemplar, nämlich ziemlich weit vorne unter den „späteren“ Gedichten, der Text gleicht aber wieder dem der Urversion, mit nur minimalen Änderungen.

1962, bei dtv, dagegen zeigt das Gedicht praktisch den Text des Handexemplars. Es hat aber nicht nur die Stelle gewechselt, sondern auch den Komplex und rangiert nun als Nr. 18 der „frühen“ Gedichte.[26]

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Allerdings, und damit komme ich zum Schluss, sind nicht alle Texte des Zechschen Villon so häufig hin- und her verändert worden wie die eben vorgeführten. Einer der meistrezitierten, das Sternchen-Gedicht von der Mäusefrau und ihren Jungen, weist im Handexemplar und danach nur 4 moralisierte Zeilen auf (2 weitere sind als zu deftig getilgt), und auch sein Platz im Ganzen ist so gut wie konstant. Dasselbe gilt für die ebenfalls relativ bekannte Ballade von den Vogelfreien, die zwar auf Villon beruht, aber auch nur indirekt, weil Zech die Übertragung Dehmels als Vorlage nimmt. Auch diese Ballade ist in allen Versionen identisch, und zwar einschließlich Titel. Sie wird nur etwas hin- und her verschoben.

Einen Sonderfall bildet Zechs bekanntester Text überhaupt, übrigens auch ein Sternchen-Gedicht ohne Pendant bei Villon, nämlich die Ballade mit dem Erdbeermund. Sie fehlt, schwer zu sagen, ob aus Absicht oder Versehen, im Handexemplar, taucht jedoch in der Rudolstadter Version und in der dtv-Ausgabe wieder auf. Hierbei ist der Text identisch geblieben, nur dass der Titel leicht variiert und auch der Platz im Ganzen unfest ist.

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Ich schließe mit zwei Fragen, die aber kaum zu beantworten sind: 1) Wieso ist Zechs Villon-Buch, das vielleicht sein bestes war und jedenfalls sein erfolgreichstes wurde, kaum je als das Originalwerk betrachtet und gewürdigt worden, das es ist? Und 2) Tun wir gut, dies nachzuholen, d.h. tun wir gut den Irrtum aufzuklären, der da meint, es handele sich um eine Übertragung? Das Ergebnis könnte sein, dass es Zechs Villon ergeht wie einst Macphersons Ossian. Der wurde nur gelesen und bewundert, solange er als Übertragung galt, und er verschwand  in der Versenkung, als die Wahrheit ans Licht kam.

Literaturverzeichnis

Dehmel, Richard : Aber die Liebe. Ein Ehemanns- und Menschenbuch. München 1893.

Bieber, Hedwig: „Paul-Zech-Bibliographie“. In: Hüser, Fritz (Hrsg.): Paul Zech. 18. Februar 1881 – 7. September 1946. Dortmund/Wuppertal 1961. S. 39-81.

Pinkernell, Gert: François Villons Lais. Versuch einer Gesamtdeutung. Heidelberg 1979.

ders.: François Villon et Charles d’Orléans. Heidelberg 1997.

ders.: François Villon. Biographie critique et autres études sur Villon. Heidelberg 2002.

ders.: „Erstaunliche Metamorphosen. François Villon und seine deutschen Titel“. In: G. P.: Biographie critique, S. 151-163.

Pöckl, Wolfgang: Formen produktiver Rezeption François Villons im deutschen Sprachraum. Stuttgart 1990

Sturm, Rudolf : François Villon. Bibliographie und Materialien. 1489-1988. 2 Bde. München 1990.

Villon, François: Œuvres complètes. Publièes […] par Auguste Longnon. Paris 1892.

ders.: Œuvres. Éditées [...] par un ancien Archiviste. Paris 1911.

ders.: Poésies complètes. Présentation, édition et annotation de Claude Thiry. Paris 1991. (Le Livre de poche).Poésies complètes. Présentation […] de Claude Thiry. Paris 1991.

ders.: Die Werke Maistre François Villons. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Dr. Wolfgang von Wurzbach. Erlangen 1903.

ders.: Des Meisters Werke. Ins Deutsche übertragen von K. L. Ammer [=Karl Klammer]. Leipzig 1907. 2. Aufl. 1918, 3. Aufl. 1930

ders.: Le Testament. Umdichtung von Jacob Haringer. Crimmitschau (Privatdruck) 1928. (H. berücksichtigt in seinen 256 Versen nur die ca. 320 ersten Verse des Villonschen Werks.)

ders.: Dichtungen. Französisch und deutsch, übertragen [...] von Martin Löpelmann. München 1937.

Zech, Paul: Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon. In deutscher Nachdichtung von Paul Zech. Weimar 1931.  Nachdruck Berlin 1947.

ders.: François Villon. Die lasterhaften Lieder. Die Balladen. Aus dem Kleinen und Großen Testament. In freier Nachdichtung von Paul Zech. Rudolstadt 1952. Lizenzausgabe Stuttgart 1959.

ders.: Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon. Nachdichtung von Paul Zech. Mit einer Biographie über Villon. München 1962 u. ö. (dtv.)

 



[1] Die bibliographischen Daten der diversen Ausgaben enthält das Literaturverzeichnis.

[2] Zu Leben und Schaffen Villons vgl. z.B. meine Biographie critique oder meine Villon-Seite unter www.pinkernell.de/romanistikstudium.

[3] Zum Kl. Testament vgl. Verf., Lais.

[4] Eine vorzügliche und leicht zu beschaffende Ausgabe ist die von Claude Thiry. Das Gros der Gelegenheitsgedichte wird behandelt in Verf.: F. V. et Charles d’Orléans und Biographie critique.

[5] Laut dem Literaturverzeichnis seiner Erstausgabe 1931 (S. 149 f.) verfügte Zech über diese Edition in einer Facsimile-Ausgabe. Mehr als angeblättert haben wird er sie kaum.

[6] Er verfügte übrigens auch über die ca. fünf anderen Editionen des 19. Jh. Im o.g. Literaturverzeichnis listet er jedenfalls sechs Editionen von 1832 bis 1892 auf, die „im Besitz des Herausgebers“ seien. Möglicherweise hatte er sie z.T. an seinem Arbeitsplatz, der Berliner Stadtbibliothek, entwendet.

[7] Auch über sie verfügte Zech in einer Facsimile-Edition.

[8] Seine für ein breiteres Publikum gedachte Edition von 1911 wird Longnon ebenfalls nur dreiteilig gliedern und die Rotwelschballaden fortlassen. Ebenfalls fortgelassen hatte sie schon 1533 der große Lyriker Clément Marot in seiner auf humanistischen Prinzipien basierenden Villon-Ausgabe. Diese Ausgabe erlebte zwar mehrere Auflagen, das Feld behaupteten jedoch die Drucke mit den Rotwelschballaden und den  Apokryphen.

[9] Klammer dürfte an die 90% des Villonschen Werks verarbeitet haben. Eine instruktive Darstellung seinesVillon gibt Pöckl: Rezeption, S. 149-161.

[10] Zu den häufigen Änderungen der Titel der deutschen Villon-Versionen vgl. Verf., Metamorphosen.

[11] Vgl. Dehmel, Liebe. Im Gegensatz zur mutmaßlichen Vorstellung Dehmels hatte sich die Ballade in Frankreich um 1400 von der Musik abgekoppelt und war ein Genus geworden, dessen Inhalte beliebig waren und sich nur noch in Ausnahmefällen zur Vertonung eigneten. Die im deutschen Sprachraum verbreitete Annahme, Villon habe in Kneipen selbstverfasste und -vertonte Lieder vorgetragen, ist weder durch Aussagen von ihm selbst, noch durch Dokumente, noch durch die Existenz entsprechender Texte in seinem Werk belegbar.

[12] Im letzten Satz der „Notwendigen Anmerkung“, mit der Zech seine Einführung abschließt, behauptet er übrigens (S. 52), er habe seinen Villon schon im Sommer 1914 begonnen. Ich vermute, dass er schwindelt. Auch von der Villon-Version, die Bieber (Bibliographie, S. 47) für 1911 als Privatdruck aufführt, fand ich trotz vieler Recherchen keine Spur. Wahrscheinlich liegt Pöckl (Rezeption, S. 164-166, sowie 167) richtig mit seiner Vermutung, wonach die 1928 erschienene „Umdichtung“ des Testament von Jakob Haringer, die Zech nachweislich als eine Quelle benutzt hat, ein entscheidender Anstoß war. Ein anderer war zweifellos der erwähnte Plagiatstreit um die Villon-Songs von Brecht.

[13] En passant sei vermerkt, dass Villon nur ein einziges seiner knapp 50 Gedichte als „Lied“ etikettiert.

[14] Zu Beginn der o.g. „Notwendigen Anmerkung“ (S. 50) gibt Zech an, er habe das Kleine Testament um neun und das Große um elf Strophen gekürzt. Diese Zahlen sind auch dann unzutreffend, wenn man die Textmenge abzieht, die schon bei Klammer fehlt.

[15] Die einzige Ausnahme ist Die Ballade von den Vogelfreien, für die Zech auf Dehmel zurückgreift.

[16] Neu ist dort lediglich eine fünfseitige Einführung, die Zechs eigenen, fast fünzigseitigen Einführungstexten vorangeht und „G.-K.“ gezeichnet ist. Die Begleittexte zu den sukzessiven Editionen des Zechschen Villon wären ein reizvolles Thema für eine eigene Studie.

[17] Aufnahmen der Rezitationen Kinskis zeigen, dass er Zechs Texte kaum verändert hat. Nur einige der wenigen Abweichungen sind sichtlich gewollt, die meisten erklären sich als Gedächtnisfehler.

[18] Das „Handexemplar“ ist Teil des Zech-Konvoluts der Berliner Akademie der Künste und hat dort die Signatur 54/66/21. Ein gebundener kompletter Durchschlag mit dem Vermerk „Exemplar No. 2“ ist Teil des Zech-Konvoluts im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Wie ich vermute, hat Zech sogar noch einen weiteren Durchschlag angefertigt (s.u.).

[19] Vgl. das Kapitel „François Villon im Spiegel von fünf Jahrhunderten“ in: Sturm, Villon, Bd. II, S. 23-167, hier S. 156. Vor allem wohl auf den aus Russland stammenden Juden Chapiro  reagiert Zech im Vorwort zum Handexemplar mit seinem Hieb auf ungenannt bleibende „sehr östlich geborene Skorpione“, die mit ihrem „Kauderdeutsch“ über ihn „hergefallen“ seien.

[20] Sie hätte ihn auch überfordert, denn seine Französischkenntnisse waren wohl letztlich nur mäßig und die ältere Sprache beherrschte er allenfalls so weit, dass er sich per Intuition ein Bild vom Inhalt kürzerer Texte machen konnte.

[21] Die Quelle für die hinzugekommenen Gedichte mit Pendant bei Villon ist sichtlich die eher hölzerne, aber komplette Übertragung Martin Löpelmanns von 1937. An dessen Texten (S. 111, 143, 169 und 185 ) inspirieren sich Zechs neue Gedichte Ballade an eine treulose Freundin, Ballade von den Lästerzungen, Rondell und Ballade von den allgemeinen Redensarten. Pendants zum zweiten und dritten Gedicht hätte Zech übrigens auch bei Klammer finden können.

[22] In meinen Augen ist das weitgehend ohne Rückgriff auf Villon ausgesponnene Kleine Testament der persönlichste Text in Zechs Büchlein geworden.

[23] Sie wurde 1959 in Stuttgart als Lizenzausgabe nachgedruckt. Der sonst sehr zuverlässige Sturm (Villon, Bd. I, S. 184) verzeichnet den Nachdruck schon für 1952. Später spricht er aber (nach meinen Recherchen korrekt) nur von 1959 (Bd. II, S. 156).

[24] Im Archiv des dtv scheint die Druckvorlage nicht mehr vorhanden zu sein.

[25] François mit „Franzose“ zu übersetzen ist in der Tat möglich. Wie die meisten Interpreten glaube aber auch ich, dass Villon hier (mit welchen Hintergedanken auch immer) seinen Vornamen meint.

[26] Auch Pöckl (Rezeption) zitiert in seinem Zech-Kapitel (S. 167-177) die hier besprochene Ballade als besonders augenfälliges Beispiel von Zechs inhaltlichen und stilistischen Abweichungen von Villon. Er berücksichtigt aber nur die dtv-Version und bezieht den Text von Klammer in seine Überlegungen nicht ein.